Die letzten Zeugen - Das Buc

VIOLA A. WINKLER


 
 

VIOLA A.
WINKLER

(früher Hübsch)
geb. 1918-04-05
lebt heute in Australien


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Viola Winkler wurde am 5.4.1918 in Wien geboren. Sie konnte mit ihrer Mutter kurz nach dem Anschkuss nach England fliehen. Violas Freund Kurt schlug sich nach Australien durch, wohin Viola ihm 1939 folgte. Heute lebt Viola Winkler in Northbridge, Australien.

In einem Augenblick ist unsere ganze Welt zusammengestürzt

Die Schülerin Katherina Winkler hat die Lebensgeschichte von Viola Winkler aufgezeichnet.

„Ich wohnte mit meiner Familie im 18. Bezirk, das ist einer der äußeren Bezirke in Wien, wo es viele Familienhäuser mit Gärten gab. Auch wir hatten einen Garten mit vielen Obstbäumen und zwei riesigen Nussbäumen. Ich habe schon damals liebend gerne Bilder gemalt, war gerne im Wienerwald wandern und im Winter liebte ich es, Ski fahren zu gehen – ein Hobby, bei dem ich auch meinen späteren Mann Kurt kennen gelernt habe. Ich bin auf die Kunstschule gegangen und wurde später sogar auf der Akademie für Darstellende Kunst aufgenommen. Nach meiner Ausbildung habe ich meine erste fixe Arbeitsstelle als Musterzeichnerin für Stoffe in einem Betrieb in der Nähe von Wien bekommen. Die tägliche Anreise aus dem 18. Bezirk war allerdings viel zu weit, sodass ich mich bei einem Ehepaar, das in der Nähe meiner Arbeit wohnte, einmietete.

Genau bei diesen Leuten habe ich damals auch die Nachricht des damaligen österreichischen Kanzlers Schuschnigg aus dem Radio gehört: Nazi-Deutschland hat gerade die Grenze übertreten. Österreich kann sich dagegen nicht verteidigen. „Ich muss Ihnen allen ‚Auf Wiedersehen sagen.“ Kurz darauf haben wir schon die ersten Flugzeuge über Wien gehört – in einem Augenblick ist unsere ganze Welt zusammengestürzt.

Wie kann man beschreiben, wie sich das anfühlt? Furchtbare Verzweiflung, alle Hoffnung für die Zukunft ist plötzlich weg. Ich war damals 19 Jahre alt und um mich nur Angst, Trauer und Unsicherheit. Überall tauchten Nazis in Uniformen auf, auf der Straße sah man schwarze Autos, die vor den Häusern stehen blieben und einige Bewohner mitnahmen. Einer dieser Menschen, die „verschwunden“ sind, war meine Großmutter. Sie brachten sie nach Theresienstadt, wo sie gestorben ist. Ab und zu wurden Leute gezwungen, die Straße mit Caustic-Soda zu waschen, das die Haut verätzte, eine von ihnen war meine Mutter.

Mein Vater war zu der Zeit nicht mehr am Leben und meine Schwester war gerade mit einer Tanzgruppe in Italien, aber es stand fest, dass es für meine Mutter und mich viel zu gefährlich war, noch längere Zeit in Wien zu wohnen. Deshalb verbrachte meine Mutter unzählige Stunden vor sämtlichen Ämtern, um eine Einwanderungserlaubnis in ein anderes Land zu bekommen. Endlich erhielten wir die Information, dass in England Hausdiener gesucht werden und über Nacht wurde meine Mutter zur Köchin und ich zu einem Dienstmädchen. Wir packten alles, was wir mitnehmen konnten, in einen großen Koffer und wanderten zwei Monate nach der Nazi- Ankunft in Wien nach England aus.

Ich werde nie vergessen, wie es sich angefühlt hat, auf der anderen Seite der Grenze zu sein. Ich war am Leben, ich war sicher. Ich habe nie vergessen, wie wertvoll es ist, am Leben zu sein. Meine Mutter und ich arbeiteten in einem großen englischen Haus am Land. Ich musste eine Uniform tragen mit schwarzem Kleid, weißer Schürze und weißem Haarband. Unsere Arbeitgeber gehörten einer ganz anderen Gesellschaftsschicht an als wir, aber sie waren immer freundlich zu uns.

Kurt hatte eine Arbeitsstelle in Sydney, Australien, als Ingenieur gefunden. Nach sechs Monaten kam ein Brief von ihm, dass es die Möglichkeit für mich gäbe, zu ihm nach Australien zu gehen, wir müssten allerdings innerhalb der ersten drei Monate heiraten. Auf meiner Schiffsfahrt kurz vor Australien packten mich kurz Zweifel: „Will ich wirklich Kurt heiraten? Ich kenne ihn so wenig.“ Als ich allerdings im Hafen ankam, und Kurt mich abholte und die ganze Zeit auf mich gewartet hatte, waren alle meine Zweifel mit einem Schlag dahin. Unsere Hochzeit fand 1939 während Kurts Mittagspause statt, als Trauzeugen waren zwei Arbeitskollegen von Kurt mitgekommen. Es ging alles sehr schnell und gefeiert wurde nur ganz kurz mit einer australischen Torte, die uns unsere Trauzeugen mitgebracht hatten, dann musste Kurt auch schon wieder zurück zur Arbeit.

Alles in Australien war damals fremd: die Landschaft, die Sprache, niemand war freundlich und keiner hat versucht zu helfen. Ich hatte große Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden, vor allem als Musterzeichnerin für Stoffe, konnte aber in einer Firma für Ton-Waren zu arbeiten beginnen. Dort habe ich viel gelernt, das mir später noch sehr viel weiterhelfen sollte: modellieren, glasieren, Waren im Ofen brennen. Im Jahr 1943 kam mein erstes Kind zur Welt – unser Sohn Peter. Wie beschreibt man, wie es ist, ein Kind zu haben? Es ist das tiefste und höchste Erlebnis, das es gibt. Im Krankenhaus wurden alle Frauen von ihren Verwandten und Freunden besucht, nur Kurt, Peter und ich waren allein, wir bekamen keinen Besuch. Das war ein sehr einsames Gefühl.

Zu dieser Zeit herrschte in Europa Krieg. Als ich mit Peter vom Krankenhaus in unsere Wohnung kam, Kurt war gerade in der Arbeit, gab es einen Luftwaffen-Alarm, der einzige in Sydney. Ich habe mich mit Peter unter dem Tisch versteckt und gedacht: „Jetzt ist alles vorbei“. Nach kurzer Zeit wurden alle Österreicher und Deutsche als „feindliche Fremde“ eingesperrt, unter ihnen auch Kurt, der erst nach sechs Monaten wieder frei kam. Danach durfte er allerdings nicht mehr als Ingenieur arbeiten. Er hat eine kleine Werkstatt gemietet, in der ich Figuren aus Ton hergestellt habe. Wir haben Hunderte dieser kleinen Figuren verkauft und damit unseren Lebensunterhalt verdient. Erst nach Kriegsende durfte Kurt wieder als Ingenieur arbeiten.

Damals habe ich eine Malerin kennen gelernt, die mich Künstlern in Sydney vorgestellt hat. Diese Frau hat mein ganzes Leben in Australien verändert, sie hat mir die schönsten Plätze Sydneys gezeigt – manchmal braucht es nur einen gutwilligen Menschen, um die Welt für einen anderen besser zu machen. 1945 kam unser zweiter Sohn Robin zur Welt, drei Jahre später wurde Nicholas geboren und wieder drei Jahre später erblickte unsere einzige Tochter Judi das Licht der Welt. Als Judi fünf Jahre alt war, hat Kurt in der Zeitung gelesen, dass die Hochschule junge Leute aus dem Ausland mit Kunstwissen als Kunstlehrer suchte. Ich wollte mich zuerst nicht bewerben, weil ich keine Lehrerin war und eigentlich schon genug mit der Erziehung unserer vier Kinder zu tun hatte, doch Kurt zuliebe habe ich mich dann doch beworben, vor allem weil ich dachte, sie würden mich ohnedies nicht nehmen. Doch ich bekam die Lehrstelle und arbeitete 22 Jahre lang in einem Job, der mich unglaublich glücklich machte. Ich durfte nicht nur mit Kindern zusammenarbeiten, was mir schon immer Spaß bereitet hatte, sondern konnte ihnen auch noch die Schönheit der Kunst und meine Erfahrung im Ausland näher bringen.

Nach dem Krieg wanderten auch meine Mutter und meine Schwester nach Australien aus. Vor kurzem hat meine Enkelin Nicole geheiratet, es war eine schöne und große Hochzeit mit vielen Familienmitgliedern und Freunden. Es war ein riesiges Erlebnis für mich, mit meinen Kindern und Enkelkindern zu feiern und es ist so ein riesiger Unterschied zwischen dieser Hochzeit und der Trauung zwischen Kurt und mir. Kurt lebt heute nicht mehr und auch meine Mutter ist schon gestorben. Manchmal werde ich gefragt, ob ich mich „australisch“ fühle. Australien hat uns viele Möglichkeiten gegeben und ich bin dankbar dafür, aber ich denke auch immer wieder an das Lied „Wien, Wien, nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein ...“. Ich erinnere mich mit Freude an die Berge, die Wälder, die Musik und die schönen, historischen Gebäude. Ich gehöre zu zwei Welten.“

Aufgezeichnet von Katherina Winkler, Don Bosco-Gymnasium Unterwaltersdorf, 2005


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