|
Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.
Hedi Pope wurde im März 1920 in Wien geboren. Sie konnte zusammen mit ihrer Schwester im Jänner 1939 in die USA ausreisen. Kurz nach ihrer Ankunft in New York erfuhr sie, dass ihr Vater angeblich an Lungenentzündung in Dachau verstorben war. Heute lebt sie in Alexandria, USA.
Hedi Pope, Tänzerin zwischen Reichskristallnacht und New York
Janet Beham, Lehrerin aus der Musikhauptschule Schärding, traf Hedi Pope im Sommer 2004 in Wien.
Meine erste Begegnung mit „A Letter To The Stars“ war im Jahr 2003, als ich mit meiner 4. Klasse in Geschichte bei der Projektarbeit mitmachte. Wir besuchten auch die Gedenkveranstaltung am Heldenplatz, die sehr bewegend war. Dieses Jahr rief mich das Projektteamvon „A Letter To The Stars“ in der Schule an und teilte mir den Namen einer Tänzerin aus Wien, Hedi Pope, mit, die jetzt in Alexandria, Virginia, USA, lebt. Dieser Anruf war der Anfang eines sehr interessanten Briefwechsels ...
Zuerst bekam ich nur ihren Namen, den Mädchennamen und die Adresse ihrer früheren Wohnung und Schule in Wien. Im Internet fand ich heraus, dass aus ihrer damaligen Schule (vom Beamtentöchterverein) jetzt die Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik geworden ist. Ich nahm den Kontakt per E-Mail auf und bald bekam ich die Kurzfassung von Hedis Lebensgeschichte in Wien auf Deutsch und einen Begleitbrief auf Englisch über den Verlauf ihres Lebens in Amerika, dessen Inhalt ich hier wiedergebe.
„Das Projekt „ A Letter To The Stars“ ist sehr interessant für mich, eine alte Wienerin! Ich bin gerne bereit, über die Ereignisse vom März 1938 zu berichten, wie es zum Anschluss gekommen ist, und wie schwer es war, Familie, Freunde und Heimat zu verlassen und ein neues Leben in einem fremden Land anzufangen.
Zuerst eine kurze Beschreibung meiner Familienverhältnisse und meiner Herkunft: Meine beiden Großväter waren erfolgreiche Geschäftsleute. Beide erhielten die Ehre, dem Namen ihrer Firma „k . u. k.“ (d. h. kaiserlich und königlich) hinzufügen zu dürfen. Mein Vater war das jüngste von sieben Kindern, meine Mutter eines von vier Kindern: drei Mädchen und ein Junge. Beide Eltern wurden 1887 geboren. Ich bin mit vielen Geschichten von „den guten, alten Zeiten unter dem Kaiser“ aufgewachsen. Vater und Geschwister hatten einen Hauslehrer, Mutter hatte eine „mademoiselle“. Französisch war die zweite Sprache, die man einfach lernen musste. Für die
Sommermonate mietete die Familie eine Sommerwohnung, entweder in Baden bei Wien, im Salzkammergut oder an einem Kärntner See.
Der Hochzeitstag meiner Eltern war der 13. September 1914. Der Erste Weltkrieg hatte gerade angefangen. Vater musste einrücken und verbrachte viele Wochen an der Ostfront als Feldwebel. Die Kriegsjahre und die Jahre nach 1918 waren hart. Die Monarchie war zerfallen und in kleine Länder aufgeteilt worden. Die Republik Österreich, mit Wien als Hauptstadt, war nun unsere Heimat.
Meine Volksschule war das Pädagogische Institut in der Burggasse, damals eine „Musterschule“. Lehrer anderer Länder besuchten unsere Klassen, um die neuen Methoden zu beobachten. Ab Herbst 1930 besuchte ich bis zu meiner Matura 1938 das Gymnasium für Beamtentöchter in Wien in der Langegasse 47. Meine besondere Vorliebe galt jedoch seit dem fünften Lebensjahr dem Tanz und Theaterspiel. Durch meine verschiedenen Tanzlehrer hatte ich Gelegenheit, im Burgtheater aufzutreten und in einem Film mitzuwirken.
Was in der Welt vorging, musste man in der Zeitung lesen, das Radio ist erst nach und nach eingeführt worden. Politik war für Erwachsene, nicht für Kinder! Da waren aber doch einige politische Ereignisse während meiner Kindheit in Wien, an die ich mich noch gut erinnere. Im Jahr 1927 ist der Justizpalast abgebrannt. Im Juli 1934 wurde Bundeskanzler Dollfuss ermordet. Man wusste damals schon, dass Deutschlands Nazis dahinter steckten. Die Olympiade 1936 in Berlin haben wir durch Wochenschau- und Radio-Berichte miterlebt. Hitler benützte die Spiele als Propaganda für den Nationalsozialismus. Eine jüdische Österreicherin durfte nicht mitmachen, den amerikanischen „Neger“ Jesse Owens, der vier Goldmedaillen gewonnen hatte, hat Hitler kaum anerkannt.
All das, was nebenan in Deutschland vor sich ging, hätte uns warnen sollen. Aber gemäß des österreichischen Temperaments sind wir einfach dem täglichen Leben nachgegangen – „Hier wird schon nix passieren“, war der Glaube. Wir wussten aber bereits, dass es auch in Österreich eine Menge illegaler Nazis gab. Auf der Schulbank, rechts und links von mir, trugen beide Mädchen ein kleines Hakenkreuz am Mantel.
Trotz alldem blieben meine Tanzklassen und Aufführungen, Skikurse und Sommerferien im Salzkammergut ungestört – bis zum 11., 12. und 13. März 1938. Ich war in der achten Klasse des Gymnasiums. Die schriftliche und mündliche Maturaprüfung stand bevor. Das erforderte viel Fleiß und harte Arbeit. Andererseits war aber Fasching, und wenn man 17 Jahre alt ist, ist natürlich auch das sehr wichtig! Am Freitag, den 11. März 1938, war ich bei einer Tanzprobe für eine neue Inszenierung von Faust, Teil 2, im Wiener Volkstheater. Es war am Abend, und am Weg nach Hause war eine Menge Menschen auf der Straße. Die meisten trugen Hakenkreuz-Armbänder, schrien „Heil
Hitler“ und sangen das Horst Wessel-Lied. Meine Eltern waren sehr besorgt um mich, bis ich endlich nach Hause kam. Sie hatten gerade übers Radio die Abschiedsrede von Bundeskanzler Schuschnigg gehört. Am nächsten Tag, Samstag, den 12. März, ist die Luftwaffe in Wien gelandet. Wien hatte damals nur einen kleinen Flugplatz, gerade noch genug Platz für Feldmarschall Görings 200 Luftfahrzeuge. Wien war eine „belagerte“ Stadt, und sie war bereit, Adolf Hitler am Sonntag, den 13. März, mit einer Parade, wie sie die Stadt noch nie gesehen hatte, zu empfangen. Dieser Tag blieb mir in lebhafter Erinnerung, ich war nämlich in die Oper „Carmen“ eingeladen und ich konnte nicht über den Ring gehen. Von weitem sah man, wie riesige Hakenkreuzfahnen aus dem Opernhaus heraushingen.
Nach den Anschlusstagen im März 1938 hatten wir eine Woche lang keine Schule. Vieles war anders, als wir am Montag, den 21. März, wieder unsere Klassen besuchten. In jedem Klassenzimmer hing ein Porträt von Adolf Hitler an der Wand. Vor dem Unterricht mussten wir bei der Schulbank stehen und mit rechtem Arm ausgestreckt „Heil Hitler“ rufen. Einige unserer Lehrer sind entlassen worden, unser Direktor, ein treuer Heimwehrler, wurde von einem Tag auf den anderen ersetzt. Die einzig willkommene Ankündigung war, dass nur eine schriftliche Matura sein wird, keine „mündliche“.
Aus religiösen und Abstammungs-Gründen machten meine ältere Schwester und ich Pläne, unsere Heimat zu verlassen. Da war eine schwere Entscheidung für unsere Eltern. Die wollten absolut nicht ausreisen. In Wien geboren und aufgewachsen, war der Gedanke, die geliebte Stadt für immer aufzugeben, für sie ein Alptraum. „Wir werden uns schon durchwurschteln“ sagten Vater und Mutter, „die Kinder müssen weg!“ Auswanderung aus Österreich und Einwanderung in die USA waren sehr kompliziert. Man musste zur USA-Gesandtschaft gehen und eine Quota-Nummer erwerben. Jemand in Amerika musste ein Affidavit senden, um zu versprechen, dass wir nicht dem Staat
zur Last fallen werden. Zwei Kusinen und ein alter Freund meiner Eltern halfen uns dabei. Langsam, langsam bekamen wir unsere Pässe und Plätze auf der „Veendam“, um im Januar 1939 in die USA auszuwandern.
Die Monate von März 1938 bis zu unserer Ausreise im Januar 1939 erlebte ich als eine Mischung von Vorbereitungen für ein unglaubliches Abenteuer sowie der Traurigkeit, unsere Freunde und das schöne Wien unserer Kindheit zu verlassen. Anfang November geschah etwas, was eine lebenslange Tragödie für unsere Familie blieb: Die „Reichskristallnacht“. Nachdem der junge polnische Jude Herschel Grynszpan von der brutalen Abschiebung seiner Eltern erfahren hatte, kaufte er verzweifelt eine Pistole und erschoss am 7. November 1938 Ernst Eduard vom Rath, einen Attaché an der Deutschen Botschaft in Paris. Vom Rath starb zwei Tage später an seinen Verletzungen. Von der nationalsozialistischen Propaganda wurde dies als Begründung für die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 genommen. Synagogen und jüdische Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Tausende Juden wurden von der Gestapo und der SS inhaftiert. In Wien kam es zu besonders heftigen Ausschreitungen.
Mein Vater, ein Geschäftsmann, dachte mehr als meine Mutter an Auswanderung. Er begann Englisch und Spanisch zu studieren, und er ließ sich zum Installateur umschulen. Am 9. November war er in seiner Umschulungsklasse. Die gesamte Klasse einschließlich der Lehrer wurde an diesem Abend verhaftet. Meine Mutter, meine Schwester und ich warteten an diesem Abend vergeblich auf unseren Vater. Er kam nicht nach Hause und auch am nächsten und übernächsten Tag war keine Spur von ihm. Gemäß Gerüchten hörte man, dass die Verhafteten in die Rossauerkaserne kamen und dort einige Tage ohne Wasser und Nahrung blieben. Nach einer Woche kam ein kurzer Brief aus Dachau: „Es geht mir gut, macht Euch keine Sorgen. Die Kinder sollen die Reisepläne nicht aufgeben.“
Es waren schwere Wochen bis zum 11. Januar 1939, dem 52. Geburtstag meines Vaters – dem Tag unserer Abreise, an dem wir unsere arme Mutter allein in Wien zurücklassen mussten. Am 23. Januar starb unser Vater in Dachau. Herzschwäche und Lungenentzündung sagte man, als jemand die Asche meines Vaters an Mutter überreichte. Wir erhielten diese traurige Nachricht kurz nachdem wir am 25. Januar in New York gelandet waren. Die zweimonatige Korrespondenz meines Vaters von Dachau an seine Familie habe ich der Holocaust Museum-Sammlung gespendet.
Meine Mutter, ihre Schwester und ihr Schwager kamen im April 1940 nach Amerika nach. Durch viel harte Arbeit konnten wir uns alle unser Brot verdienen. Wir durften nur ganz wenig Geld aus Österreich mitnehmen. Mit einem Stipendium wurde es mir ermöglicht, ein College zu besuchen. Im Juni 1946 heiratete ich einen Amerikaner, der den Krieg im Süd-Pazifik verbrachte. Wir haben eine Tochter, einen Sohn und eine erwachsene Enkelin.“
Im Januar 1939 kam Hedi in Amerika an, wo sie jüngstes Mitglied einer Kleinkunstbühne („From Vienna“) wurde. Zwei Monate lang spielte diese Exil-Revue am Broadway, bevor der Krieg ausbrach und den Mitgliedern der Bühne als „enemy aliens“ Fingerabdrücke abgenommen wurden. Glücklicherweise bekam Hedi gerade zu diesem Augenblick die Gelegenheit, an der Miami-Universität in Oxford Tanz und Turnen zu studieren. Sie bekam ihr Diplom im Juni 1942 und schloss ein Jahr später ihren „Master“ am Wellesley College ab. Es folgten drei Jahre als Lehrerin am Converse College in Spartenburg, South Carolina.
Als der Krieg 1945 vorbei war, kamen „the boys“ heim und im Juni 1946 heiratete Hedi einen früheren Frontsoldaten, der gegen die Japaner im Südpazifik gekämpft hatte. Sie bauten ihr Haus in Alexandria und bekamen zwei Kinder, eine Tochter 1945 und einen Sohn
1952. Ihre Kinder sind jetzt verheiratet und wohnen in Des Moines, Iowa und Atlanta, Georgia.
Im Jahre 1947 eröffnete Hedi ihre Tanzschule „The Dance Studio“, die sie bis zu ihrer Pension 1982 führte. Sie schreibt, dass Tanz, Theater und Musik sehr wichtige Teile ihres Lebens bilden. Nach dem Erwachsenwerden ihrer Kinder reisten sie und ihr Mann viel. Ihre Enkelin schreibt gerade an ihrer Diplomarbeit.
Dem Brief beigelegt waren faszinierende Fotos, die Hedi als junge schöne Tänzerin in Walter Reischs Film „Silhouetten“ aus dem Jahr
1936 oder im Kulturfilm „Wiener Walzer“ mit Grete Wiesenthal, der im Schönbrunner Park gedreht wurde, zeigen. Sie legte auch Bilder von den Schülern aus ihrem Tanzstudio bei, zusammen mit einem Brief vom Bürgermeister Alexandrias, in dem er sich für ihre Arbeit und ihren Einsatz für die Stadt bedankt.
Am meisten bewundere ich Hedis offensichtliche Lebensenergie. Sie hat einen wunderschönen Garten, geht öfters in der Woche schwimmen und arbeitet zusätzlich seit 1993 als freiwillige Helferin im Holocaust Museum in Washington. Sie schickte mir Broschüren
über die Wechselausstellungen, die dort gezeigt werden, zum Beispiel „Daniels Story“ über Kinderschicksale im Dritten Reich. In ihren
E-Mails empfiehlt sie mir auch Bücher über dieses Thema, die sie gerade liest.
Im Mai fuhr ich zur Gedenkveranstaltung des Projekts „A Letter To The Stars“ nach Mauthausen und schickte Hedi nachher Fotos. Von
den Veranstaltungen an unserer Musikhauptschule, zum Beispiel unserem Musical über Weltreligionen „Maranatha“, schickte ich ihr
Bilder und eine Videokassette. Durch „A Letter To The Stars“ lernte ich eine sehr interessante, sympathische Zeitzeugin kennen. Es ist etwas ganz Besonderes, die Schilderung geschichtlicher Ereignisse auf einer so persönlichen Ebene erfahren zu können.
Einige Zeitdokumente, die Hedi mir schickte, waren von unendlicher Traurigkeit, zum Beispiel die Postkarte von ihrem Vater an ihre Mutter aus dem Konzentrationslager Dachau. Was aber bleibt, ist der Eindruck einer kreativen, optimistischen Frau, die sich im Exil eine neue Existenz aufgebaut hat.
Hedi Pope bezeichnet sich aber trotz ihrer furchtbaren Erlebnisse als „alte Wienerin“ und hält den Kontakt zu ihrer alten Heimat noch immer aufrecht.
Janet Beham, Musikhauptschule Schärding, 2005