Die letzten Zeugen - Das Buc

MAXIMILIAN LERNER


 
 

MAXIMILIAN
LERNER

geb. 1924-09-04
lebt heute in den USA


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Das Akademische Gymnasium in Wien 1 war im Mai 2008 Gastgeber für Maximilian Lerner, der hier vor 70 Jahren zur Schule ging. Im April 2007 besuchte die Schülerin Lia Böhmer den Shoa-Überlebenden in New York.

Maximilian Lerner wird 1924 in Wien geboren. Er lebte mit seinen Eltern in der Löwengasse 39/2a. Er geht ans Akademische Gymnasium. Nach dem Anschluss kann er mit seiner Schwester und den Eltern über Paris, Spanien und Portugal in die USA flüchten. Maximilian Lerner tritt mit 18 Jahren freiwillig in die US-Army ein, aufgrund seiner Deutschkenntnisse wird er als Spion nach Deutschland geschickt und kann, mit einer Naziuniform getarnt, sogar einige Nazis festnehmen. Nach dem Krieg arbeitet er zunächst in Deutschland und geht dann zurück in die USA, wo er eine Familie gründet und heute in Manhattan lebt.

"Danke, dass ich euch nicht mehr hassen muss ..."

Maximilian Lerner wurde mit 14 vertrieben, ging nach N.Y. und kam als US-Spion zurück. Doch erst die jüngste Reise hat ihn versöhnt.

Sechs Monate nach meiner »Bar Mitzvah« und zehn Monate nach dem Anschluss, ich war 14 Jahre alt, haben sich meine Eltern entschlossen, Wien und meine Heimat Österreich zu verlassen.
Eine Entscheidung, die unser aller Leben gerettet hat.

Wir nahmen einen Nachtzug nach Paris und plötzlich fand ich mich in einer Stadt wieder, die ich nicht kannte, deren Sprache ich nicht verstand. Meine Eltern, meine jüngere Schwester und ich lebten auf einmal in Hotels aus Koffern. Ich kann nicht sagen, ob meine Eltern gedacht haben, dass das eine dauerhafte Lösung sein sollte, oder ob sie gedacht haben, dass wir wieder in unsere Heimat zurückkehren könnten.

Wir suchten um Visa für Australien, Kanada und USA an. Nur die USA gaben unserem Ansuchen nach, informierten uns aber gleichzeitig, dass unsere Ansuchensnummer erst in fünf Jahren an die Reihe kommen sollte.

Nachdem Frankreich 1940 von Deutschen besetzt wurde, folgten wir zu Fuß dem Flüchtlingsstrom durch Frankreich, bis wir in Nizza, einem Teil Vichy-Frankreichs, ankamen. Der amerikanische Vizekonsul in Nizza überprüfte unsere Visanummer, und obwohl wir nur 2 ½ Jahre gewartet hatten, konnten wir auf einmal unsere Visa bekommen. Ich nehme an, dass viele Leute, die eigentlich vor uns an der Reihe gewesen wären, verschwunden sind.  Einige Geschäftspartner meines Vaters in New York hatten uns das benötigte »affidavit of support«, eine eidesstattliche Unterstützungserklärung,  verschafft. Wenn man bedenkt, was wir gerade durchmachten, war es für uns umso erstaunlicher, dass flüchtige Bekannte gewillt waren, mit ihrem eigenen Kapital für uns zu bürgen und uns Neueingewanderte nicht als öffentliche Belastung sahen.

Um aus Frankreich auszureisen, benötigen wir nun ein französisches Ausreisevisum, für welches wir nach Chatel-Guyon fahren mussten. Und das war uns nicht erlaubt, denn um in Frankreich von einer Stadt zu einer anderen zu reisen, benötigte man ein »Safe-Conduct« von der Gendarmerie, das wir natürlich nicht besaßen. So mussten wir das  illegal tun, andernfalls hätten wir kein Ausreisevisum bekommen.
Nachdem wir auch ein spanisches und ein portugiesisches Transitvisum besorgt hatten, konnten wir nach einigen Schwierigkeiten einen Platz auf dem Schiff »SS Nyassa« das in Lissabon lag, bekommen. Wahrscheinlich war dieses Schiff das letzte, das Portugal verließ.

Wir erreichten die Vereinigten Staaten am 25. April 1941, das war ein Freitag. Wir Passagiere konnten es kaum erwarten, endlich die Freiheitsstatue zu sehen ... Das Unglaublichste war die Freundlichkeit der Mitarbeiter der Immigrationsbehörde – nachdem wir in Europa als unerwünscht empfunden wurden, waren wir auf einmal wieder Menschen, und wir konnten uns sicher fühlen.

Am 4. September 1942, ich war 18 Jahre alt, meldete ich mich freiwillig zur US-Army, ich wollte nicht erst eingezogen werden. Davor musste ich aber auf mein Recht als Fremder verzichten. Ich kann mich gut an den Tag erinnern, als ich dies notariell beglaubigen ließ. Es gab in der 103rd-Street, bei der U-Bahn Station Broadway, einen öffentlichen Notar. Dort spielte gerade im Radio »Embrace Me. My Sweet Embraceable You« gesungen von Judy Garland, und ich dachte mir »Wieder ein Einschnitt  in meinem Leben«.

Für den Eintritt in die Armee musste ich einen Test machen. Obwohl ich diesen mit 1A bestand, wurde ich doch erst für Mai 1943 einberufen. Die Wege der Armee sind oft rätselhaft. Ich war sehr enthusiastisch, es war mein Jahr, und ich hatte den Wunsch, das, was ich verloren hatte, zurück zu bekommen. Das war eine dumme Annahme, denn ich war 18 und hatte das Gefühl, unverwundbar zu sein. Ich wollte ein guter Soldat sein und war so eifrig, wie ich nur konnte. Ich meldete mich für alles Erdenkliche freiwillig, einiges davor war ziemlich stupide, aber ich arbeitete hart und es gelang mir alles recht gut, von der Hindernisbahn bis zu Tätigkeiten bei der Flugabwehr.

Auf Grund meiner Sprachkenntnisse wurde ich schließlich dem Trainingslager des Heeresnachrichtendiensts in Camp Ritchie in Maryland zugeteilt. In meiner Einheit gab es nur junge Männer wie mich, die alle das Beste wollten und sich stolz fühlten, es zu tun. Sie alle waren, egal ob Österreicher oder Deutsche, jüdische Flüchtlinge. Während meines Aufenthalts in Camp Ritchie wurde ich amerikanischer Staatsbürger, obwohl ich erst 2 ½ Jahre in den USA lebte, aber es war die Regel, und ich denke, es war richtig so, dass nur Amerikaner nach Europa durften.

Wir waren selbstverständlich bereits in Uniform, als wir, eine Gruppe junger Soldaten, am 23. September 1943, am Hauptplatz von Hagerstown, Maryland, amerikanische Staatsbürger wurden – und es war ein gutes Gefühl. Im März 1944 wurden wir nach Europa, nach Belfast, ausgeschifft. Wir wurden in Lastwägen gesteckt und zum Besitz des Lord Londonderry, nahe dem Ort, der später  Londonderry und danach nur noch Derry genannt wurde, gebracht.

Auf diesem Besitz sahen wir das Herrenhaus nur von der Ferne, denn wir lagerten in einem Zeltcamp im Garten. Es war eine Art »Wartelager« Wir waren, wie viele andere Soldaten auch, nach Übersee geschickt worden, um bereits verwundete  Soldaten zu ersetzen, aber das war vor D-Day und wir waren deshalb dort nur gelangweilt und unzufrieden.

Einige Offiziere des »OSS - Office of Strategic Service« dem Nachrichtendienst und Vorläufer der CIA, suchten Freiwillige, die sich hinter die feindlichen Linien wagten – und wie ich sagte, war ich jung und verrückt und meldete mich. Gemeinsam mit einem Mann aus Quebec und zwei Franzosen wurde ich nach London beordert. Es war das erste Mal, dass ich auf mich allein gestellt war, seit ich in die US-Army eingetreten war. Wir bekamen eigene Pässe und nachdem wir die Fähre nach Großbritannien genommen hatten und mit einem Zug nach London gefahren waren, mussten wir uns bei einer speziellen Adresse melden.

Von dort wurden wir zu einem neuerlich sehr stattlichen Haus außerhalb Londons gebracht, wo wir einige Tage getestet und trainiert wurden. Nach Trainingsende wurde mir von französischen De Gaulle-Offizieren mitgeteilt, dass mein Französisch zwar exzellent, aber nicht ohne Akzent sei, was meinen Einsatz als Spion in Frankreich zu gefährlich machen würde.

Ich musste warten, bis es Zeit war, in Deutschland zu agieren, und man wollte mich wieder zurück nach Londonderry schicken. Aber auf meiner Rückreise sprach ich in London bei  ETOUSA (European Theater of Operations U.S. Army headquarters) vor. Ich ging direkt zur Abteilung G-2, der Nachrichtendienstabteilung und verlangte mit jemandem zu sprechen. Ich erklärte dem Colonel, dass es doch sehr schade wäre, wenn ich wieder zurück in das »Wartelager« müsse, da ich für soviel Dinge eine exzellente Ausbildung genossen hätte – es müsste doch einen passenden Job für mich geben. Der Colonel nahm all meine Daten und Wünsche auf und schickte mich zurück nach Nordirland, wo meine Abteilung mittlerweile nach Chester verlegt worden war. Kaum war ich da angekommen, erhielt ich die Nachricht, dass ich mich in London zu melden habe – der Colonel hatte Wort gehalten und für mich getan, was er konnte.

Ich wurde ihm persönlich zugeteilt und hatte von Anfang Juni bis Ende Juli 1944 eine wunderbare Zeit in London. Da ich die ganze Zeit in London war, konnte ich nicht am D-Day, der Invasion der Alliierten in der Normandie am 6.Juni 1944, teilnehmen. Ich lernte aber stattdessen die V-Bomber kennen, die gerade in London ausprobiert wurden. In dieser Zeit hatte ich auch Kontakt zu meiner Tante, die aus Österreich entkommen war und in den Vororten von London lebte. Ihr Mann, mein Onkel, hatte es nicht geschafft zu fliehen.
Später haben wir herausgefunden, dass er in Auschwitz ermordet wurde.

Nach dem D-Day und dem Fall von Cherbourg flogen mein Colonel und ich gemeinsam mit anderen hochrangigen Offizieren nach Frankreich, wo wir erst einmal abwarteten. Dies war zu jener Zeit, als wir unseren Durchbruch erlebten. Die Alliierten gaben letztlich den Franzosen das Privileg, Paris zu erobern. Auf einmal wurden Dolmetscher gebraucht, und ich war genau an der richtigen Stelle in Cherbourg. Ich wurde als Verbindungsoffizier in General Leclercs Panzer Division transferiert, die Division, welche die Spitze nach Paris bildete – zu dieser Zeit  waren nur fünf Amerikaner bei ihm. So kam ich am 25. August 1944 mit den ersten französischen Truppen nach Paris.
Es war unglaublich aufregend. In der Stadt wurde noch gekämpft. Ich musste mit  einem kleinem Flugzeug nach Paris fliegen, um dort Leclercs Truppen zu treffen, was nicht ungefährlich war, da noch überall Heckenschützen operierten. Sobald wir in der Stadt waren, übernahmen wir das Anwesen der früheren Familie Rothschild, das Gestapo-Hauptquartier in der Avenue Foch.

Es gab einen großen Innenhof, in dem die FFI, die »Forces Francais de L’Interieur« also die Widerstandsbewegung der Resistance, inhaftierte Leute verwahrte. Der Hof war voll von Menschen, Frauen und Männern. Wir hielten  eine Krisensitzung ab, welche Leute inhaftiert bleiben sollten, ob es solche waren, die von ihren Nachbarn als Kollaborateur bezichtigt wurden, ob es sich wirklich um echte Kollaborateure handelte oder um deutsche Soldaten, die zu fliehen versuchten.

Ich habe einige Wochen in diesem Rothschild-Gebäude verbracht und Leute interviewt und entschieden, ob sie arretiert bleiben sollten und in Gefangenenlager gebracht werden, oder ob sie freigelassen werden. Dies war eine unglaubliche Periode in meinem Leben.

In Paris in amerikanischer Uniform zu sein, war, wie die Stadt zu besitzen. Wenn ich nur mehr Zeit und Stärke gehabt hätte ...  Es war eine großartige Erfahrung.

Nach einigen Wochen wurde ich abermals versetzt. Dieses Mal wurde ich in eine Spezialeinheit verlegt, endlich, und machte mich auf den Weg nach Verdun, Frankreich.

Auch da übernahmen wir ein Gebäude, das die Deutschen verlassen hatten, diesmal handelte es sich um ein altes Gefängnis. Es gab Zellen, in denen Gefangene verwahrt wurden, aber auch Zellen, in denen mein Team und ich schliefen. Zu dieser Zeit arbeiteten wir gemeinsam mit jungen französischen Offizieren und ich wurde Dienststellenleiter.

Wir befragten Gefangene, unternahmen von unserem Standort aus aber auch Geheimmissionen.

Und schließlich legte ich eine deutsche Uniform an und wurde in einige geheime Unternehmungen involviert. In Verdun war ich wiederum einige Monate.

Zu dieser Zeit war ich bei der CIC, »Counter Intelligence Corps« (Spionageabwehr), einer Abteilung des Nachrichtendienstes OSS. Ich wurde ein »Special Agent«‚ so besagten es meine Heerespapiere, und trug eine Art zivile Offiziers-Uniform ohne Rang.

Die Absicht dahinter war, dass ich mich bei höherrangigen Offizieren als »Herr Lerner« von der Kriegsabteilung vorstellen konnte, in Wirklichkeit aber  »Special Agent Lerner« in Erfüllung verschiedener Missionen war. Als »Herr Lerner« war mein Rang irrelevant und vertraulich, während man mir als Leutnant Lerner Befehle gegeben oder nicht einmal mit mir gesprochen hätte. So war es mir sowohl möglich, in Zivilkleidern Leute in Frankreich zu treffen, aber auch mehrere Male in deutscher Uniform hinter die feindlichen deutschen Linien zu kommen, um dort Leute zu Gesprächen zu sehen. All zu viele Details möchte ich darüber nicht verlieren, denn ich habe Geheimhaltung geschworen, auch wenn es schon sehr lange her ist.

Ich möchte aber gerne von der Schlacht bei Bulge, der Bezeichnung für die Ardennenoffensive, erzählen. Diese fand im Osten und Nordosten von Belgien sowie in Teilen des Großherzogtums Luxemburg statt.

Gerade zu diesem Zeitpunkt  war ich in der Stadt Luxemburg, die zu drei Viertel feindlich umstellt war. Jeder von uns rückte von da zur Front aus, um zu kämpfen. Ich musste aus einem speziellen Grund  nach Luxemburg, da ich wieder geheim Leute treffen sollte. Zu unser aller Überraschung blieb ich auch dort hängen. Auf einmal trug auch ich einen Offiziers-Karabiner und lag im Schützengraben im Schnee.
Immer wenn jemand »Feuer« gerufen hatte, feuerten wir. Ich habe zwar niemals jemanden gesehen, auf den wir gerade feuerten, aber wenn es Befehl war, mussten wir es tun.

Drei Tage lagen wir angstvoll und frierend im Schützengraben, dann hob sich die Wolkendecke, wir sahen unsere Flugzeuge und die Angriffe waren vorüber.

Das waren die einzigen drei Tage wo ich in wirkliche Kämpfe verwickelt wurde. Alle anderen Male war ich nicht im Kampf, ich war mehrmals in Gefahr, gefangen genommen zu werden, aber nie an der Front.

Der Zwischenfall, den ich jetzt erzählen möchte, ist  wahrscheinlich der Wichtigste: Bevor die Brücke von Remagen eingenommen wurde, haben die Deutschen Taucher mit Sprengstoff eingesetzt, um sie in die Luft zu jagen.

Einige von ihnen wurden von uns gefangen genommen und befragt.

Sie alle waren in einem Hallenbad in Wien trainiert worden, das ich sehr gut kannte. Diese Tatsache half mir erheblich bei der Befragung. Sie berichteten uns, wo ihr Camp war, und dass sie auf dem Weg wären, die nächste Brücke zu sprengen. Kurz darauf konnten wir eine weiterer Brücke, die Oppenheim-Brücke, einnehmen.

Und in dieser Nacht setzte ich in deutscher Uniform mit einer Gruppe von amerikanischen Militärpolizisten, die uns assistierten, mit einem Boot über den Rhein über. Das gesamte Rheinufer war zu diesem Zeitpunkt bis auf die eben eingenommene Brücke noch in deutscher Hand. Ich trug die deutsche Uniform in der Hoffnung, dass, wenn ich gefangen genommen werden würde, die Deutschen glauben sollten, dass ich auch Deutscher wäre. Wir liefen zu dem von den Tauchern beschriebenen Camp, attackierten es und schossen auf alles, was sich bewegte. Kurz darauf fanden wir uns für zwei Tage versteckt auf einem Heuboden wieder, bis unsere Truppen über den Rhein kamen und uns befreiten. Wieder kam es zu Kämpfen, aber diesmal war ich nun nicht mehr involviert.

Wir setzten bei unseren Gefangenen keine Folter ein, aber wir machten es ihnen auch nicht angenehm. Eine Methode war es, den Deutschen solange nicht zu erlauben, die Toilette zu benützen, bis sie mit uns sprachen. Diese Maßnahme war sehr effizient. Eine der besten Methoden war es, wenn man zwei Personen auch von zwei Leuten befragen ließ, die danach ihre Informationen austauschen konnten. Ich habe herausgefunden, dass Deutsche nicht allzu eifrig dabei waren, ihre Geheimnisse zu behalten, sobald sie gefangen genommen wurden. Eigentlich unterschied sich das nicht stark von den Kreuzverhören, die man in Filmen sehen kann, es war wirklich sehr ähnlich.
Wesentlich schwieriger war es mit den französischen Kollaborateuren, die natürlich alles, was sie getan hatten, rechtfertigen mussten. Aber wenn man die Umstände ihrer Geschichte kannte, konnte man leicht erkennen, ob es Kollaborateure waren oder nicht.
Zum Beispiel gab es da in Paris einen Mann russischen Ursprungs, der einen Nachtklub besaß. Dieser wurde inhaftiert, weil sein Klub häufig von Deutschen besucht wurde – ich ließ ihn frei. Denn wer sonst als Deutsche hätten während des Krieges dort hingehen können? 1947 war ich wieder in Paris, lief in der Stadt herum, ging in die Bar, er erkannte mich und lud mich auf einige Drinks ein.

Aber es gab auch echte Kollaborateure, zum Beispiel Industrielle, die für die Deutschen gearbeitet haben.

Meine Kameraden und ich waren zu dieser Zeit bereits in Deutschland. Es war beinahe unwirklich, damit meine ich, dass ich wusste, dass der Krieg vorbei war, wir hatten gewonnen und wir waren wirklich da.

Wir begannen vorzurücken, zuerst bis Augsburg, dann nach München. Auf dem Weg nach München kamen wir an Dachau vorbei, wo wir anhielten. Das KZ war zwei Tage zuvor befreit worden. Immer noch lagen tote Körper am Boden und der Geruch im Lager war unbeschreiblich. Jawohl, ich wusste vom KZ in Dachau.

Dachau war das älteste der Lager und ich hatte auch schon genau gewusst, wo sich Dachau befand, in der Nähe von München.
Ich fand München sehr zerstört vor, und ich sage ehrlich, es hat mir gefallen. Ich suchte dort speziell nach den Ruinen des sogenannten »Braunen Hauses«, dem Hauptquartier der Nazis.

Es gibt ein Foto von mir, wo ich auf den Steintrümmern der Ruinen stehe. Es war befriedigend, dennoch war Dachau für mich die furchtbarste Erfahrung.

Ich habe sogar schon von Dachau gehört, als ich noch ein Kind in Wien war. Dachau war kein Vernichtungslager, aber sehr wohl das erste Lager in Deutschland. Ich kannte Leute aus Wien, die nach Dachau gebracht wurden und ich kannte Leute, die nach Dachau gebracht und wieder freigelassen wurden.

Der Vater meiner ersten Frau wurde in Wien verhaftet, nach Dachau geschickt und unter dem Versprechen, seine Heimat und seinen Besitz zurück zu lassen, freigelassen. So war mir Dachau ein wohl bekanntes Konzept. Und als ich dann das Ortsschild von Dachau sah, verlangte ich zu stoppen, um mich umzusehen.

Da, wie gesagt, die amerikanischen Truppen erst zwei Tage davor hier gewesen waren, sah ich noch sehr, sehr viele Leute leiden, die medizinischen Trupps waren erst auf dem Weg, ihnen zu helfen. Die Toten waren noch nicht verbrannt. Man begann erst alles zu organisieren.
Nach Kriegsende hatte ich die Verantwortung über die Kriminalpolizei in Wiesbaden. Es war der Sommer 1945 nach dem V-E day, dem sogenannten »Victory in Europe« Tag. Damals existierte ein Buch von der Größe eines Taschenbuchs, das von obersten Behörden des alliierten Expeditionskorps herausgegeben wurde, welches alle Ränge der verschiedenen para-militärischen Naziorganisationen auflistete.
Eine der einfachsten Aufgaben war es, SS-Leute zu identifizieren, denn man musste nur unter ihren linken Arm sehen, um die typische Blutgruppentätowierung oder die Narbe, die durch die versuchte Entfernung dieser Tätowierung entstanden war, zu finden.

Auch da gab es einen berichtenswerten Zwischenfall: Ein Kamerad von mir, ein Mann namens Tompkin, und ich mussten eines Tages zu einer Wohnung gehen, wo wir einen SS-Verdächtigen verhören sollten. Ich hatte rasch beschlossen, dass dieser Mann zu einer weiteren Befragung mit uns kommen sollte, da mir die Art, wie er sprach, nicht gefallen hatte. Sofort lief er ans Ende des Zimmers, zog eine selbstangefertigte Keule hervor und setzte zum Schlag gegen meinen Kopf an. Ich schloss die Augen, tastete nach meinem Revolver, den ich am Gürtel trug und feuerte. Durch reinen Zufall brach ich dem SS-Mann durch meinen Schuss den Ellbogen ... Wenn das nicht passiert wäre, hätte er mich wahrscheinlich mit dem Knüppel erschlagen. Danach habe ich diese Keule als Erinnerung aufbewahrt.

Auch nach dem Kriegsgewinn war uns das gesamte Ausmaß, die Zahl der Naziopfer nicht bewusst. Wir hatten keine Ahnung. Wir wussten nichts vom methodischen Abschlachten in Auschwitz, nichts von Vernichtungslagern. Wir wussten das alles noch nicht.
Aber auch wenn wir diese Verbrechen noch nicht kannten, waren meine Anstrengungen zu entnazifizieren immer größer geworden, und das bringt mich zur letzten Geschichte, der mit dem Chef der Feuerwehr. Es ging gegen Spätherbst 1945, und wie ich bereits erwähnte, war ich für die Kriminalpolizei in Wiesbaden zuständig. Vertreter der Militärregierung riefen mich zu sich und teilten mir mit, dass sie einen neuen Chef der Feuerwehr benötigten und mir Männer zur vorherigen Befragung schicken würden. Ich sollte sie interviewen, untersuchen und ihnen dann mitteilen, ob sie den richtigen Mann ernennen würden. Der erste in Frage kommende Mann wurde zu mir geschickt und ich arretierte ihn sofort. Er wurde deshalb eingesperrt, weil er während der Nazizeit bei der Feuerwehr einen so hohen Rang bekleidet hatte, dass er praktisch automatisch in den Arrest gehen musste.

Natürlich habe ich diesen Mann abgelehnt und sie schickten mir den nächsten. Auch dieser war von seinem Rang so hoch, dass ich ihn inhaftieren musste. So schickten sie mir den Dritten, der auch wieder im Arrest landete.

Daraufhin bekam ich einen Anruf aus dem Frankfurter Hauptquartier, mit der Bitte, den »unschuldigsten« der drei Männer für den Job auszuwählen. Ich sagte, darauf: »Nein, das ist nicht mein Job, mein Job ist es, diese Leute in Haft zu nehmen.« Als man mir aber antwortete, dass es wichtiger wäre, einen Feuerwehr- Chef zu bekommen, und ich mich weiter weigerte die Leute zu entlassen, nahm ich innerhalb von wenigen Tagen meine Papiere und meinen Abschied und fuhr nach Hause.

Man bat mich anfänglich, noch eine Zeit lang zu bleiben, so um die sechs Monate, ich überlegte es mir auch kurz, aber als die Frage nicht mehr aufkam, war ich sehr froh.

Ich war bereit, heim zu kommen.

»Damit das Böse siegt, genügt es, dass gute Menschen schweigen«

Gedanken von Maximilian Lerner im Projekt »A Letter To The Stars«.

"Vor 70 Jahren wurde ich aus meiner Schule und aus meiner Heimat verstoßen. Dann kam der Krieg. Und nachher 50 Jahre des großen Schweigens. Aber was ihr in den letzten Jahren geschafft habt, hat mich davon überzeugt, dass Anne Franks Glaube an die Güte der Menschheit kein Irrtum ist. Dafür danke ich Euch allen. Ich schließe mit der Mahnung des Philosophen Burke: »Damit das Böse siegt, genügt es, dass gute Menschen schweigen!« Ich sage es noch einmal: Ich bitte euch, bleibt Menschen, die etwas tun."
Rede am 5. Mai 2008 / Wien, Heldenplatz

Es war die größte Menge an Menschen, zu der ich jemals gesprochen habe, und es war sonderbar, auf dem selben Platz wie Adolf Hitler zu den Nachkommen derer zu sprechen, die dort gestanden hatten, um ihm zuzuhören.                                       
Anmerkung nach der Rede

Das Geschenk, das ihr mir gemacht habt, ist, dass ich nun aufhören kann, Österreich und die Österreicher zu hassen. Natürlich können wir niemals vergeben oder vergessen, was die Generation der Österreicher uns 1938 angetan hat, aber die Tatsache, dass ihr und eure Generation die Verantwortung übernehmt – die nicht die eure ist – und die Tatsache, dass ihr aus eigener Initiative ohne Anregung durch die Republik etwas getan habt, ist wirklich wunderbar. Wir bedanken uns für Eure Herzlichkeit und Freundschaft und unser Danke richtet sich an das gesamte Projektteam, das unseren Besuch in Österreich zu einer wunderschönen Erfahrung gemacht hat.          
Brief an das Projektteam nach der Rückkehr in die USA

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