ANDREAS
geb. 1929-00-00 |
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Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.
Andreas Sarasopa wurde 1929 in Ungarn geboren. Als Kind kam er gemeinsam mit seinem Vater nach Auschwitz. Dort meldete er sich zur vermeintlichen Kartoffel-Ernte, in Wahrheit wurde er so für die Gaskammer selektiert. Sein Vater konnte ihn im Austausch gegen einen anderen Häftling "retten".
Der Auschwitz überlebt hat - auf Kosten eines anderen...
Andreas Sarasopa konnte Auschwitz nur überleben, weil ein anderer KZ-Insasse starb.
Auschwitz Birkenau, Mitte September 1944, die Zeit der großen jüdischen Feiertage. Der Zählappell ist vorbei, die dünne Häftlingskluft bietet gegen die morgendliche Kälte keinen Schutz, die Leute frieren erbärmlich. Man schließt sich zu „Öfen“ zusammen, kreisförmigen Gruppen, bestehend aus 50 bis 100 dicht aneinander geschmiegten Gestalten. Wer von Beginn an bei der Ofenbildung dabei ist, befindet sich in der Mitte und hat es schön warm, die sich neu dazu stellen sind vorerst außen und ungeschützt, sie können nur auf neue hoffen, um auch von Außen gewärmt zu werden. Aus der Weite hört man die tiefen Pfiffe von vorbeifahrenden Zügen. Man spricht, wie immer, vom Zuhause, vom Essen und von Überlebenschancen ...
Man wartet auf das mittägliche Dörrgemüse. Das Dörrgemüse, ein aus undefinierbarem Grünzeug unter Zugabe von minimalen Mengen Fett und Fleisch ebenfalls undefinierbaren Ursprungs zusammengebrauter Übergang zwischen Suppe und Gemüse. Dem Geschmack nach grauslich, dem Nährwert nach nahe Null. Aus einem großen Kessel wird es mit einem Schöpfer in die „Menaschkas“ ausgeteilt, wird vom Boden des Kessels genommen, gibt es Fleisch und Gemüse, wird von oben genommen, nur Wasser. Die „Menaschkas“ sind verbeulte, teilweise rostige Geschirrreste – wie man hört – der polnischen Armee. Eine „Menaschka“ Dörrgemüse für drei Leute. Löffel gibt es keine. Aber soweit ist es noch lange nicht, doch erörtert man schon jetzt, wie man den Essen-Austeiler – meistens ein Funktionshäftling „im Range“ eines Stubendienstes – ansehen sollte, um ihn dazu bewegen, mit dem Schöpfer tiefer zu greifen.
Stubendienst. Im Lager herrscht eine strenge Hierarchie. Das Gerüst dieser Hierarchie bilden: der Lagerälteste, ihm beigestellt der Lagerschreiber, unter ihm die Blockältesten, eine Stufe weiter unten die Stellvertreter und schließlich die Stubendienste. Aber auch die Nachtwächter, die in der Nacht vor den Blocks sitzen, haben ihre exakte Position in dieser Ordnung. Alle Positionen aufzuzählen ist fast unmöglich, bezeichnend ist, daß auch die Mitglieder des Kloaken-Kommandos – die die Kloaken entleeren – in der Hierarchie über dem normalen Häftling stehen. Der Lagerälteste, der Lagerschreiber und die Blockältesten sind wegen krimineller Delikte Verurteilte, selten sind es politische Gefangene, weiter unten in dieser Hierarchie befinden sich jüdische, sogenannte Schutzhäftlinge. Der Lagerälteste „herrscht“ über bis zu 30 000, die Blockältesten jeweils über einen Block (eine Baracke) mit über 1000 Häftlingen. Die Zeit vergeht, es scheint schon die Sonne, die Kälte läßt nach, die „Öfen“ lösen sich auf. Gegen Mittag kann es sogar heiß werden, einige unvorsichtige haben einen Sonnenbrand. In der Nacht eiskalt, tagsüber brütend heiß.
Auschwitz September 1945. Plötzlich hört man von der Lagerstraße her lautes Schreien. Der Lagerschreiber läuft, nein, watschelt eher die Straße entlang und verkündet: „Jugendliche zum Kartoffelernte-Transport antreten!“ Der Lagerschreiber, kleinwüchsig, Brillenträger, eine eher komische Figur. Wer weiß, was ihn nach Auschwitz brachte? War er Raubmörder, oder vielleicht Kinderschänder? Von seinem Watscheln zu urteilen, gehört er eher der letzteren Kategorie an. Im Laufen teilt er noch mit, daß der zusammenzustellende Transport ins „Reich“ geht. „Weg von Auschwitz!“, das bewegt jeden.
Hans, der Blockälteste des 19-er-Blocks, ein Krimineller aus Hamburg, verrückt, unberechenbar, seit sechs Jahren in verschiedenen KZ, jedoch mit einem Rest von Menschlichkeit, sagt es immer wieder: „Weg von Auschwitz“. Und als Begründung zeigt er auf den Rauch der Krematorien und sagt: „Im Reich gibt es das nicht!“ Der Rauch. Schon längst weiß man, was er bedeutet. Man sieht die Züge, die an der Rampe ankommen, die Alten, die Frauen mit den Kindern, wie sie in Richtung der Krematorien verschwinden und nie wieder auftauchen. Oder doch: in Form des Rauches. Die älteren Häftlinge – solche, die schon länger im Lager sind – wiederholen es immer wieder: „Von hier kommst du nur über den Schornstein raus“ und zeigen auf den Rauch. Man weiß auch, was mit denen geschieht, die man bei den von Zeit zu Zeit stattfindenden Selektionen als nicht arbeitsfähig aussondert. Offiziell heißt es: sie fahren zur „Schonung“, doch was das heißt, weiß jeder. Zurückgekommen von der „Schonung“ ist noch niemand.
Kartoffel ernten! Das klang sehr, sehr viel versprechend. Bei der Arbeit von den rohen Kartoffeln essen können! Und dazu vielleicht auch noch reichlich! Eine paradiesische Vorstellung! Sammelplatz für den Transport ist der Fußballplatz, der sich am Ende des Lagers, hinter der Latrinen-Baracke befindet. Gespielt wird hier selten, und wenn, dann tun es nur die privilegierten Funktionshäftlinge. Ein kahler Platz, nur an den zwei Toren als Fußballplatz zu erkennen. Hierhin strömten aus den Baracken an die eintausend kräftig gebaute, fast ausnahmslos über 15-jährige Burschen. Die jüngeren oder schwächlicheren haben ja nach der Ankunft das Lager schon wieder auf dem üblichen Weg, über den Schornstein, verlassen.
Alles weitere sieht eher nach Improvisation aus. Die Auswahl wird in der Anwesenheit des Lagerschreibers von nur zwei bis drei SS-Männern vorgenommen. Einige Blockälteste sehen der Prozedur eher gelangweilt zu. Offensichtlich beraten die SS und der Lagerschreiber miteinander, wie sie aus dem Überangebot eine Auswahl treffen sollen. Plötzlich kommt eine Latte zum Vorschein, die quer in etwa 1,60 cm Höhe seitlich am Fußballtor angenagelt wird. Jetzt geht alles recht flott. Die Jugendlichen müssen einzeln unter der Latte durchschreiten, die kleineren werden genommen, die anderen in ihre Blocks heimgeschickt. Daß nur die kleinen geeignet sind, leuchtet in Hinblick auf die zu verrichtende Arbeit, Kartoffeln aus der Erde zu klauben, ein. Am Ende bilden die über 400 „Auserwählten“ einer Gruppe.
Dann geschieht etwas völlig Unerwartetes. Die fast als gemütlich zu bezeichnende Szene wechselt abrupt. Wie aus dem Nichts tauchen weitere SS-Männer, diesmal mit Hunden, auf. Die Zahl der Blockältesten verdoppelt sich, sie schlendern nicht mehr herum, sondern agieren offensichtlich nach einem genau vorgegebenenDrehbuch. Sie umringen die Gruppe der „Auserwählten“ und treiben sie laut schreiend unter Anwendung von Holzknüppeln in einen leer stehenden Block. Der Block wird hermetisch abgeriegelt und von Blockältesten und SS mit Hunden umstellt. Nichts mit Kartoffel lesen, nichts mit Transport. Es fand soeben eine getarnte Selektion für die Gaskammern statt. Die Falle hat zugeschnappt. Selbstverständlich ist auch den eingesperrten ein Licht aufgegangen. Sie beginnen laut zu schreien, zu weinen und um Hilfe zu rufen. Aber wer sollte, wer könnte helfen?
Inzwischen ist Dörrgemüse-Zeit, die Kesseln stehen bereit, es wird ausgeteilt wie immer. Manche bekommen vom Boden des Kessels, manche nur Wasser. Einige Blockälteste kehren in ihre Blocks zurück und nehmen als Aufsicht an der Austeilung teil. Der Alltag kehrt wieder ein. In Auschwitz gehört auch der Massenmord zum Alltag. Die Eingesperrten bekommen kein Essen, das wäre ja Verschwendung für die wenigen Stunden, die sie noch zu leben haben. Doch gibt es einen, für den der Alltag nicht einkehrt, einen, der sich mit dem, was zu geschehen hat, nicht abfindet. Es ist der Vater eines der todgeweihten Jungen. Er will etwas Unmögliches: er will seinen Sohn retten.
Aus seiner früheren Zeit kennt er einen Stubendienst im Block 19, des verrückten, unberechenbaren Blockältesten Hans. Er sucht diesen Stubendienst auf, sie besprechen die Situation und gehen zusammen zu Hans in sein am Anfang des Blocks befindliches nach Auschwitz-Verhältnissen komfortables Zimmer. Inzwischen ist es Nachmittag geworden. Man steht wieder am Platz zwischen den Baracken herum und spricht von Zuhause, vom Essen und von den Überlebenschancen. Der Vater kommt aus dem Zimmer von Hans, sagt aber nichts. Man geht davon aus, dass das Gespräch, wie erwartet, ergebnislos verlaufen ist.
Später verläßt Hans sein Zimmer und geht hinüber zum Block, wo die Jungen eingesperrt sind. Man hört aus dem Block verzweifelte Schreie und lautes Beten. Auf der Lagerstraße erscheint der Karren, mit dem die leeren Kesseln von Mittag eingesammelt werden, gezogen und geschoben von sechs Häftlingen. Sie sind allgemein beneidet, da ihre Leistungen mit Essensresten von der Küche abgegolten werden. Kaum dass der Karren die Höhe des Blocks mit den todgeweihten Kindern erreicht, springen zwei Blockälteste, die dort Wache stehen, hervor, ergreifen einen von denen, die den Karren schieben und schleppen ihn in den abgesperrten Block. Fast gleichzeitig erscheint Hans mit dem Sohn, den er dem strahlenden Vater übergibt. Eine klare Transaktion: die Anzahl in dem Block muß haargenau stimmen, statt des Sohnes muss wer anderer sterben. Alle, die herumstehen, beglückwünschen den Vater und den Sohn, Hans wurde gefeiert, dass er den Jungen aus dem Vorzimmer des Todes gerettet hat.
Wie der Vater Hans dazu bewegen konnte, seinen Sohn zu retten, ist nicht bekannt. Ist es ihm gelungen, durch seine Vaterliebe Hans zu rühren und zur Hilfe zu bewegen, oder hat er ihn mit ins Lager geschmuggelten Wertgegenständen einfach bestochen? Es wird immer unbekannt bleiben, Hans, der Stubendienst und der Vater haben davon nicht gesprochen und sind entweder noch im Lager umgekommen oder sind seither längst gestorben.
Das Lager überlebt hat der Sohn, psychisch scheinbar nicht mehr angeschlagen als alle anderen früheren KZ-Häftlinge. Er machte eine Lehre, ging oft ins Kino, manchmal auch zum Tanzen, und er gründete eine Familie. Um es klar auszusprechen, er hat nicht den Eindruck gemacht, als ob er so etwas wie Probleme mit seinem Gewissen hätte, dass für sein Leben ein anderer sterben mußte. Im Lager war das selbstverständlich, dort herrschte ja eine Moral, nach dem der Überlebende immer im Recht ist. Aber nach dem Lager?
Moralische Selbstverständlichkeiten und um solche handelt es sich hier, haben ein zähes Leben. Sie überleben die Bedingungen, die sie hervorbringen. Bei unserem „Geretteten“ dauerte es Jahre, bis er eigenbrötlerisch wurde, zu kränkeln begann, ständig unter Schweißausbrüchen und Schlafstörungen litt. Sichtlich freute er sich seines Lebens nicht. Er scheint sich der Verantwortung seines durch den Tod eines anderen erkauften Lebens bewußt zu werden. Die Selbstverständlichkeiten der Lager-Moral, die ihn bisher vor den Gewissensbissen schützten, sind erloschen ...
Er wurde gerettet, aber für was für ein Leben? Zuerst setzte er das Lagerbewußtsein mit seinen Selbstverständlichkeiten und mit den damit einher gehenden Zwängen und Ängsten fort. Nachdem er dies überwand, musste er mit der Absurdität der Voraussetzung seines „normalen“ Lebens fertig werden. Daran zerbricht er. Gerettet, aber für was für ein Leben?
Andreas Saraposa, 2005