Die letzten Zeugen - Das Buc

IRMGARD LOUISE NEUMANN


 
 

IRMGARD LOUISE
NEUMANN

(früher Haas)
geb. 1920-08-06
lebt heute in Israel

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Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Das BRG 8 in der Feldgasse in Wien mit Lehrerin Ursula Halla war im Mai 2008 Gastgeber für Irmgard Neumann. Ernst Neumann war an der VBS-HAK II am Hamerlingplatz bei Lehrerin Andrea Saathen-Weiß als Zeitzeuge eingeladen.

Irmgard Louise Neumann
(früher Haas) wird 1920 in Wien geboren. Nach dem Pogrom der »Kristallnacht« beschließt das 18-jährige Mädchen, weg zu gehen, die einzige Möglichkeit ist die Emigration nach Shanghai. Durch ein »Geschenk« erhält sie eine Schiffskarte für die Ausreise. Zwei Jahre später kommen die Eltern nach, alle Verwandten werden im NS-Regime umgebracht. Mit der Besetzung von Shanghai durch die Japaner muss die Familie in ein Ghetto ziehen. Dort trifft sie auf ihren späteren Mann Ernst Neumann. 1948 müssen Irmgard und Ernst Neumann erneut das Land verlassen, sie wandern nach Israel aus, wo sie sich wieder alles neu aufbauen.

Überleben in Wien, Shanghai und Israel

Irmgard & Ernst Neumann haben in ihrem unglaublichen Leben immer wieder alles verloren - und immer wieder neu angefangen.

Ich, Irmgard Neumann, bin 1920 in Wien geboren und auch meine Eltern waren Österreicher. Mein Vater war ein angesehener Oberbaurat bei der Bundesbahn, unter seiner Kontrolle wurden viele wichtige Verkehrsanlagen nach seinen Entwürfen und Berechnungen gebaut. Meine Mutter lebte mit ihrer Familie am Handelskai im Fabriksgebäude ihrer Familie und war 18 Jahre, als sie heiratete. Im Jahr 1910 war die Hochzeit und die Übersiedlung in eine schöne Wohnung im 9. Bezirk, welche von meinen Großeltern ausgestattet wurde. Mein Bruder wurde 1911 geboren und eine Schwester 1913.

Dann kamen die schweren Jahre des Ersten Weltkrieges, mein Vater war Offizier im Eisenbahner-Regiment und im letzten Kriegsjahr starb meine 5-jährige Schwester an Lungenentzündung.

Als ich auf die Welt kam, war mein Bruder 10 Jahre alt. Ich hatte eine sehr schöne Jugend, wurde verwöhnt, aber auch dazu erzogen, alles, was wir hatten, sehr zu schätzen. Ich lernte Französisch, noch bevor ich die Volksschule in der Hahngasse besuchte und später das MRG in der Albertgasse. Ich hatte gute Freundinnen, ein sogenanntes »Kränzchen« und Skikurse, bei welchen wir von unserem Klassenvorstand begleitet wurden. Skilaufen konnte man auch am Wochenende im Wienerwald, und Eislaufen im »Konopatsch«-Hof nicht weit von zu Hause, wenn »Heute Schleiftag« ausgeschrieben war. Einen Teil unserer Sommerferien verbrachten wir Freundinnen gemeinsam am Land. Mit 12 Jahren durfte ich mir meine Zöpfe abschneiden lassen und begann einen Tanzkurs, den ich bis zu meiner Abreise aus Wien besuchte. Ich liebe Musik und Ausdruckstanz und nahm im Laufe der nächsten Jahre oft an Vorführungen teil.

Nach vier Jahren Realgymnasium verlangte mein Vater plötzlich, dass ich die Schule verlassen sollte, um ein Handwerk zu lernen. Ich war nicht einverstanden, auch meine Lehrer nicht, da ich eine gute Schülerin war. Die Lehrer appellierten, die Familie versuchte ihn umzustimmen – nichts half, er bestand darauf: ein Kind muss einen Beruf haben! Ich weiß nicht, was Vater veranlasste, da rundherum in der ganzen Familie nur Akademiker waren. Ich wurde in die Schneider-Akademie eingeschrieben, wo meine Kollegen hauptsächlich Töchter und Söhne von Besitzern von Kleider-Fabriken, Mode-Geschäften und großen Schneidereien waren. Unser Klassenvorstand war eine alte, erfahrene Wiener Schneidermeisterin, und auch die Lehrer für Schnittzeichnen, Modezeichnen und Textilerzeugung waren Fachleute. Meine beste Freundin war die Tochter der Besitzer eines Modegeschäftes, und ich war eine gute Schülerin (trotz meiner Abneigung gegen den Beruf). Meine Freizeit verbrachte ich in der Tanzschule und in einem Klub »Für Gesellschaft und Wissen«, wo eine gemischte Gesellschaft von Jugendlichen Vorträge hörte, Theater spielte und Ausflüge machte. Es war eine wunderbare Zeit! Nach zwei Jahren Schule hatten wir »Gesellenprüfung«, mussten aber ein Jahr lang in einem Betrieb arbeiten, um ins Meisterjahr aufgenommen zu werden. Ich arbeitete ein Jahr in zwei verschiedenen Schneidereien und hatte damals mehr Zeit für meine Hobbies. Ich lernte sehr viel von meinem Vater, der alle technischen Sachen gut erklärte und ein großes Allgemeinwissen hatte. Mein Meisterjahr begann im September 1937, und wir Schüler bereiteten uns für die Endprüfungen vor. Zusätzlich zu den theoretischen Prüfungen mussten wir auch ein »Meisterstück« schneidern.

Und dann kam alles anders: Anfang März 1938 marschierten die Nazis in Wien ein und wir wussten, dass nun alles anders war. Mein Vater wurde rückwirkend pensioniert, was ihn sehr traf. Mein Bruder musste weg, weil er am meisten gefährdet war. Als ich am Tag nach dem Einmarsch in die Schule kam, trug mehr als die halbe Klasse Armbinden mit dem Hakenkreuz und ich sah, dass ich große Probleme haben würde, zur Meisterprüfung zugelassen zu werden, was jetzt besonders wichtig war. Irgendwie hielt ich noch die nächsten Monate durch, produzierte mein »Meisterstück« und erhielt ein Abgangszeugnis, aber keinen staatlichen Meisterbrief, da dieser Juden versagt wurde.

Alle Verwandten und Bekannten versuchten auszuwandern, was sehr schwierig war, weil man dazu doch irgendwo aufgenommen werden musste. Mein Vater schrieb an alle Verwandten, die im Ausland lebten, ersuchte Arbeitskollegen von über 30 Jahren zu helfen und – vor allem nötiges Geld aufzutreiben, um eine Auswanderung zu finanzieren. Man lernte Fremdsprachen und manuelle Berufe, die man vielleicht brauchen könnte. Ich lernte Heilgymnastik sowie Anatomie und Massage in einem Kurs im ehemaligen Tanzstudio. Manche Freundinnen konnten als Hausgehilfinnen nach England kommen, was ich als hoffnungslos erachtete. Sehr reiche Leute mit Familie in Amerika konnten in die USA emigrieren, doch waren die Schiffe monatelang ausverkauft. Die Regierung erschwerte täglich die Ausreisen, man verlangte hohe Beträge und unzählige Dokumente und Zahlungen, um eine Erlaubnis zu erhalten. Auch das Leben war sehr schwer geworden mit täglich neuen Erschwernissen für Juden, ich kann gar nicht aufzählen, was man alles nicht mehr durfte.

Und dann kam die »Kristallnacht«: Jubelnde Massen zogen durch die Straßen, zerbrachen Fenster und Auslagen, zerschmetterten Geschäfte, zündeten Tempel an und zerstörten, was ihnen Spaß machte. Man drang in Häuser ein, schleppte Menschen heraus, misshandelte sie und sperrte sie ein. Wir saßen zitternd in unserer Wohnung, in Gefahr, dass unser Hausmeister uns anzeigen würde, doch wurden wir damals verschont.

Am nächsten Tag erklärte ich meinen Eltern, dass ich nicht mehr bereit wäre, zu warten, und dass ich nach Shanghai fahren möchte, wohin man jetzt noch keine Einreisebewilligung benötigte. Meine Eltern stimmten zu und waren bereit, alles zu tun, um mich aus Wien hinaus zu bekommen. Wir begannen eine Passage nach Shanghai zu suchen, doch waren alle Schiffslinien auf Monate hinaus ausverkauft. Nach vielen Versuchen hörten wir von einer japanischen Schiffslinie, die aber auch für lange Zeit keine freien Plätze hatte. Inzwischen liefen wir herum, um die vielen nötigen Papiere einzureichen (ein Führungszeugnis, dass ich keine Schulden hatte, alle Steuern bezahlt hatte und dem Staat alles bezahlt hatte, was verlangt wurde). Für einen Pass konnte ich erst einreichen, wenn ich gültige Reisepapiere haben würde, was wiederum davon abhing, dass ich eine Schiffskarte hätte. Wir verbrachten ganze Tage mit Warten bei verschiedenen Organisationen – ohne Erfolg. Eines Tages warteten wir wieder bei einer japanischen Schifffahrtslinie, wo man uns wieder mitteilte, dass es vorläufig keine Plätze gäbe. Zufällig schaute die Beamtin der Linie hoch und bewunderte den Mantel, den ich anhatte. Es war mein neuer Mantel, welchen ich zur Meisterprüfung geschneidert hatte. Wir liefen sofort einen guten Stoff kaufen und ich nähte in drei Tagen einen identischen Mantel im Maß der Beamtin und präsentierte ihn als Geschenk, welches sie gerne akzeptierte. Bei meinem nächsten Besuch erhielt ich eine Schiffskarte für eine Fahrt im Januar.

Jetzt begannen die Formalitäten für meine kommende Ausreise, endlose Rennereien. Wir suchten auch um Erlaubnis an, sogenanntes Umzugsgut nachgeschickt zu bekommen. Knapp vor meinem Reisetermin erhielt ich einen deutschen Reisepass mit einem großen »J« und dem Namen »Sarah«angefügt und konnte damit 10 Dollar kaufen, welche mein Reisegeld waren. Das war alles, was erlaubt war, natürlich auch keinerlei Schmuck oder Wertsachen. Mein Koffer wurde direkt zum Schiff gesandt und ich hatte nur ein kleines Handköfferchen bei mir, als ich Österreich verließ.

Meine Mutter begleitete mich zum Bahnhof, als ich abfuhr (später fragte ich sie einmal, wie das war, ein Kind in die Fremde zu schicken, und sie antwortete einfach: um Dein Leben zu retten). Ich fuhr nach Neapel, wo ich übernachten musste und suchte am Morgen den Hafen ab, welcher voll mit herrlichen italienischen Schiffen war, um mein Schiff zu finden. Meine »Fushimu Maru« war nur ein kleines kombiniertes Fracht-Passagierboot. Ich erhielt ein oberes Bett in einer kleinen Kabine und bemerkte, dass ein Teil der Passagiere Emigranten aus Deutschland waren. Die Reise dauerte einen Monat mit einigen Stationen zum Laden von Fracht. Es war eine nette Reise, die deutschen Emigranten waren guten Mutes, hatten sie doch pro Person 400 Dollar mitnehmen können. Ich war sehr beliebt und beschäftigte die kleinen Kinder, und es gab auch Passagiere, die mich bemuttern wollten. Nach dem letzten Stop in Hongkong änderte sich das Wetter und das Meer war nun schmutzig gelb.

Shanghai

Wir landeten im Hafen Shanghais und hatten einen Schock: Man konnte nur Unmengen von Chinesen sehen – keinen einzigen Europäer. Ich hatte auch geglaubt, dass eine »internationale Stadt« eine gemischte Bevölkerung haben würde. Ich hatte damals noch keine Ahnung, dass Shanghai aus verschiedenen Teilen bestand, die getrennte Verwaltungen hatten. Ein großer mittlerer Teil stand unter internationaler Kontrolle, ein anderer Teil unter französischer Kontrolle, ein kleiner, abgelegener Teil war chinesisch und ein kleiner Teil auf der anderen Seite eines Flusses war halb zerstört vom letzten Krieg mit Japan. Insgesamt lebten damals 10 Millionen Chinesen in Shanghai. »Foreigner« waren in hohen Positionen, wohlhabend und vertraten ihre Regierungen in Handel und Politik, waren aber kaum zu sehen. Die Stadt hatte im Zentrum einen riesigen Racecourse und einige hochmoderne Warenhäuser, riesige Gebäude dem Fluss entlang und ein ständig stark pulsierendes Straßenleben.

Bei meiner Ankunft hatte ich keine Ahnung, wo ich hingehen könnte und hatte Glück: Reisegenossen, eine Familie aus Deutschland, hatten eine Bekannte in Shanghai, welche ihr Haus in der French Town vermieten wollte. Ein Zimmer war noch frei, nachdem die anderen Zimmer schon besetzt waren, und ich sagte sofort zu, obwohl die Miete für mich viel zu teuer war, aber ich musste ja irgendwo schlafen. Gemeinsam fuhren wir zur angegebenen Adresse und fanden eine schöne große Villa mit Garten und einigen Zimmern. Unser großes Gepäck erhielten wir am nächsten Tag und wir konnten uns ein wenig einrichten und uns in der Gegend umsehen. DieVilla lag in einem schönen Wohnviertel in jenem Teil Shanghais, der unter französischer Kontrolle war, doch waren die Straßen voll mit Chinesen. Ich lief viel herum, um mich umzusehen, obwohl es sehr kalt war und kaufte mir bei den herumziehenden Straßenverkäufern etwas zu essen. Nach einigen Tagen erhielt ich Besuch: Zwei Frauen, scheinbar Französinnen, wollten das junge Mädchen sehen, welches allein angekommen war. Sie fragten mich aus, was ich für meinen Unterhalt machen wollte. Schweren Herzens erwähnte ich die Schneiderei, ein Geständnis, welches große Freude auslöste: »eine Schneiderin aus Wien« wäre wunderbar, bisher musste man doch chinesische Schneider dazu bewegen, Kleider laut mitgebrachten Modebildern zu nähen (zu dieser Zeit trugen orientalische Männer und Frauen nur chinesische Kleidung). Man lieh mir eine Nähmaschine und brachte mir Stoffe, und ich begann, bestellte Kleidung zu nähen. Ich war nicht glücklich darüber, aber froh, etwas verdienen zu können. Wenn ich Zeit hatte, lief ich in den Straßen herum und lernte bald verschiedene Ausdrücke in chinesischer Sprache. Nach einigen Monaten kam mein »Umzugsgut« aus Wien an und ich konnte mein Zimmer schön einrichten. Zusammen mit einer Nachbarin, welche Modistin war, konnten wir Kundinnen gut bedienen. Im Hochsommer verließen wohlhabende Familien dieStadt (und vergaßen mich zu bezahlen) und so musste ich mir dringend Arbeit suchen. Inzwischen konnte ich mich schon auf Chinesisch verständigen und fand Arbeit als zweite Directrice in einem Schneidersalon in der Mitte der Stadt.

Nach kurzer Zeit wurde ich von einem Herrn aus Wien aufgesucht, da er eine Zuschneiderin suchte, die einen Betrieb leiten könnte, den er vorhatte zu gründen. Er hatte vor seiner Flucht aus Wien Modelle für englische Regenmäntel gekauft und wollte solche erzeugen, weil er gehört hatte, wie viel es hier regnet. Er fragte mich, ob ich so eine Arbeit machen könnte und ich antwortete »natürlich«, obwohl ich noch nie in Massen-Konfektion gearbeitet hatte. Ich war begeistert von dieser Chance und half sofort bei der Einrichtung der benötigten Werkstätten. Zu dieser Zeit konnte ich schon gut Chinesisch, was eine große Hilfe war, so konnte ich gut die Werkstätteneinrichtung aussuchen. Nachdem alles Nötige für die Erzeugung da war, begann ich einen sogenannten »Nr.One«-Schneider zu suchen, welcher die passenden Arbeitskräfte bringen sollte. So war das üblich – der »Nr.One« prüfte die verschiedenen Arbeiter und stellte sie an. Die Bezahlung erfolgte per Stückzahl. Wir hatten Glück, der ausgewählte »Nr.One« brachte gute Fachleute. Jetzt konnte ich die Schnitte für alle Größen vorbereiten und die ersten Modelle produzieren. Es würde zu weit führen, alles zu beschreiben, aber in kurzer Zeit waren wir erfolgreich und belieferten viele Warenhäuser und exportierten unsere Produkte. Wir hatten viele Angestellte und erweiterten die Produktion auch auf Männer- und Kinder-Regenmäntel. Allerdings arbeitete man damals sieben volle Wochentage, und Freizeit gab es nur zum Chinesischen Neujahr einmal im Jahr und am Tag der Republik am 10. Oktober, »Double Ten« genannt. Ich verdiente gut, doch ich tauschte mein großes Zimmer für ein kleines, billigeres, wo ich meine Möbel unterbringen konnte. Ich war ja kaum zu Hause, aß irgendwo unterwegs, wenn ich Zeit hatte.

Meine Hauptsorge waren meine Eltern in Wien, die große Schwierigkeiten hatten, das Land zu verlassen. Sie schrieben zwar nicht darüber, die Briefe waren so gehalten, dass sie durch die Zensur gehen konnten, aber ich verstand, was sie nicht schreiben konnten. Inzwischen war der Krieg ausgebrochen, es gab kaum noch eine Schifffahrt, und mehr und mehr Juden wurden eingesperrt. Meine Eltern sprachen nie darüber, was sie in den zwei Jahren seit meiner Abreise mitmachen mussten – ich las darüber erst viele Jahre später in einem Tagebuch meines Vaters (welches ich erst nach seinem Tod fand). Vor allem mussten meine Eltern Geld aufbringen, um etwas erreichen zu können, doch zahlte die Bank Vaters Lebensversicherung nicht aus und die Eltern mussten das Mobiliar der Wohnung verkaufen, für welches sie weniger als zehn Prozent des Wertes erhielten. Um Ausreisebewilligungen zu bekommen, musste man alle paar Wochen in verschiedenen Ämtern Steuern bezahlen, gültige Einreisepapiere in irgendein Land haben und Fahrkarten für die Reise. Ich konnte meinen Eltern Einreisepapiere nach Shanghai verschaffen, welche man inzwischen brauchte, aber es gab keinen Schiffsverkehr mehr, weil doch der Krieg ausgebrochen war. Mein Vater setzte alles daran, um über Land nach Shanghai zu fahren, doch da gab es unzählige Probleme aufgrund der verschiedenen Durchreiseländer. Endlich, Ende 1940, konnten meine Eltern mit der Eisenbahn über Sibirien kommen. Ich mietete eine kleine Wohnung in einer guten Gegend, wo meine Eltern sich mit ein paar geretteten Möbeln einrichteten und gleich begannen, etwas Geld zu verdienen. Meine Mutter kochte für andere Immigranten, die in unserer Gegend arbeiteten, mein Vater kaufte am Markt die nötigen Lebensmittel und servierte. Meine Mutter arbeitete auch für ein Heim und strickte Babykleidung, um etwas Geld zu verdienen, und ich konnte zu Hause essen und schlafen, wenn ich spät abends von der Arbeit kam. Wir hörten, dass es viele andere Immigranten in einem weit entfernten Teil Shanghais gab, doch hatten wir keinen Kontakt, weil das sehr weit von unserem Stadtteil entfernt war. Obwohl meine Eltern sehr kränklich waren, arbeiteten sie viel.

Nach der japanischen Eroberung von Pearl Harbor wurde Shanghai von den Japanern besetzt. Alle Ausländer wurden heimgerufen und nur wir – die inzwischen Staatenlosen (weil wir doch mit deutschen Pässen eingewandert waren, die inzwischen abgelaufen waren) – waren die einzigen Weißen, die in der 10-Millionen-Stadt zurück blieben. Am Anfang ging das Leben ziemlich normal weiter, die einheimischen Chinesen bückten die Köpfe und lebten, zwar durch den Krieg sehr eingeschränkt, wie früher. 1943 waren die Japaner Verbündete der Deutschen und proklamierten, dass nun alle Staatenlosen innerhalb von drei Wochen in ein Ghetto übersiedeln  müssen.

Das Ghetto

Dieser kleine Stadtteil war in einem schrecklichen Zustand, ganz verarmt und überfüllt von ganz armen Chinesen und jüdischen Immigranten, die dort schon seit ihrer Ankunft hausten. Und jetzt mussten noch Tausende zusätzliche Menschen dort Platz finden. Mein Chef fand einen Raum für zwei Nähmaschinen, und ich musste für kurze Zeit auf meinem Fahrrad täglich die zehn Kilometer ins Ghetto fahren, da es keinen anderen Transport mehr gab. Meine Eltern hatten große Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden, es war einfach kein Platz mehr da und die lokalen Chinesen nützten die Situation aus, um die kleinsten Stuben zu hohen Preisen zu vermieten. Wir fanden dann einen ganz kleinen Raum (2 x 3 m, ohne Fenster und Tür) im 1. Stock eines primitiven Hauses, welches uns der Hauptmieter vermietete. Die Bedingung war, dass meine Mutter für seine Kunden kochen sollte. Es gab nur einen Wasserhahn im Hinterhof einer ganzen Häuserreihe und keine Toiletten in der ganzen Gegend, sondern nur hölzerne Kübel, die man zum Ausleeren auf die Straße stellen musste. Wir hatten keinen Platz für unsere Möbel, und mein Vater ließ eine hölzerne Decke im Zimmer einbauen, um dort Betten für Mutter und mich aufzustellen, er selbst schlief im Zimmer auf Sesseln.

Wir übersiedelten einige Möbel, für die wir Platz hatten und einen großen Tisch, welchen wir, zusammen mit unserem Reisekoffer, in einem kleinen Raum unterbrachten, welcher neben dem Hauseingang im Hinterhof war. Die restlichen Möbel und Küchengeräte mussten wir zurücklassen, da es keine Käufer dafür gab. Das Leben in den nächsten zwei Jahren unter diesen Bedingungen war sehr schwer, die Wohnungen waren voller Ungeziefer und schwere Krankheiten grassierten. Am Anfang war noch ein wenig Geld da, aber langsam wurde die Armut größer und es wurde immer schwerer, Essen zu finden. Das Wichtigste war, dass man Geld hatte, um abgekochtes Wasser kaufen zu können (das Leitungswasser war ungenießbar). Wir lebten monatelang von roten Linsen, welche meine Mutter auf einem kleinen Holzkohlen-Topf kochte. Wir waren vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen, Radio war verboten, und Black Out wurde von den Japanern kontrolliert. Wir wurden von der amerikanischen Luftwaffe bombardiert und litten auch gleichzeitig unter der japanischen Abwehr. Wir hatten keine Keller im ganzen Ghetto und erlitten Verluste. Wir hatten ein kleines Spital, in welchem freiwillige Doktoren und Schwestern arbeiteten, aber keine Medikamente für die tropischen Krankheiten, welche grassierten. Mein Vater erkrankte an Fleck-Typhus und es dauerte Wochen, bevor er halbwegs wiederhergestellt war, allerdings mit einem schweren Herzfehler. Im zweiten Ghetto Jahr ging mein Vater – trotz der Gefahr – täglich zum Markt, wo er irgendetwas von unseren Sachen zu minimalen Beträgen verkaufen musste und er ging auch manchmal – trotz der Gefahr – Essen von einer Küche holen

Für uns junge Leute war es leichter. Ich lernte Ernst gleich am Anfang kennen, als er mein Fahrrad reparierte. Er versuchte damals in seinem Wohnhaus Fahrräder zu reparieren, um damit etwas verdienen zu können. Seine Familie hatte Glück gehabt, weil sie zufällig in einem Teil wohnten, welcher dann zum Ghetto gehörte und sie nicht übersiedeln mussten. Wir versuchten ständig irgendwie Geld zu verdienen. Ernst erfand Arbeitsgänge, um Stricke aus Teppich-Wolle aufzuspulen und so die einzelnen Fäden zu gewinnen, ich erzeugte warme Fäustlinge aus Stoffresten und vieles Andere. Im Frühjahr 1945 erkrankte Ernst an Malaria, für welche es im Ghetto keine Medizin gab.

Wir hatten keine Ahnung, was in der Welt los war, doch hörten wir, dass die Japaner vorhätten, die Ghetto-Insassen auf eine Insel zu transportieren. Wir beschlossen gleich zu heiraten, um zusammen bleiben zu können. Da wir beide im August Geburtstag haben, wählten wir ein Datum dazwischen – den 12. August. Freunde halfen bei unserer Ausstattung, Ernst lieh sich einen Anzug und einen Hut aus und ich erhielt ein weißes Kostüm, welches ich umarbeiten konnte, und einen Hut und Schleier geborgt. Am 11. August erledigten wir die offiziellen Papiere (auf Chinesisch) und am 12. August fuhr ich mit meiner Mutter in einem Pedicab zum Tempel. Während der Fahrt war ich sehr unruhig, da ich nicht verstehen konnte, wieso keine Flugzeuge zu sehen waren und alles so still war. Im Tempel waren schon Familie und Freunde versammelt, als der Rabbiner eintraf. Er teilte uns mit, dass der Krieg zu Ende war, da die Japaner kapituliert hatten und demnach unsere Hochzeit die erste Friedens-Hochzeit war (viel später hörten wir von Hiroshima und dass auch der Krieg in Europa längst vorbei war). Nach dem Tempel waren wir bei Ernsts Eltern eingeladen. Wir erhielten einen Kuchen von einem Gast und ein paar Kleinigkeiten von anderen und gingen dann mit unseren Geschenken in die Wohnung meiner Eltern. Ernsts Eltern hatten meine Eltern eingeladen, bei ihnen zu wohnen, damit das junge Paar allein sein konnte. Wir lebten so noch über ein Jahr, da wir noch kein Geld hatten, um auszuziehen

Bald nach Kriegsende war Arbeit da und man konnte verdienen. Erst arbeitete Ernst für die amerikanische Besatzungsarmee und später bekam er einen guten Job bei der Shell Company. Obwohl viele unserer Bekannten auswandern wollten, dachten wir gar nicht daran. Wir waren zufrieden, dass wir frei waren und betrachteten China als unsere Heimat. Als ich schwanger wurde, brauchten wir eine bessere Wohnung und mieteten ein Haus in der Nähe, mit Vorhof, Speisezimmer, Küche im Parterre und einem großen Schlafzimmer im ersten Stock. Wir hatten auch ein Badezimmer und ein richtiges Klosett. Das alles war ein großer Luxus für uns.

Und jetzt begann eine glückliche Zeit!

Meine Eltern mieteten ein Zimmer gleich daneben und Ernsts Eltern zogen aus dem Haus in ein schönes Zimmer in der Nähe. Wir möblierten unser Haus mit den Sachen, die wir besaßen, und produzierten vieles von dem, was wir brauchten, mit eigenen Händen. Ernst verdiente gut, ich arbeitete nur stundenweise und unterrichtete Frauen, die auswandern wollten, im Schnittzeichnen. Nach der Geburt unserer Tochter stellten wir eine Chinesin an, deren Aufgabe es war, die Wäsche zu waschen und das Haus zu putzen. Meine Mutter kochte für uns alle und ich fuhr mit meinem Fahrrad zum Markt, um einzukaufen. Wir hatten viele Freunde in Shanghai, die wir wöchentlich zum Bridge und Nachtmahl einluden und fuhren öfters in die Stadt – zum Tanzen oder ins Theater. Wir erhielten unsere österreichischen Pässe zurück und waren nicht mehr staatenlos. Mein Vater beschäftigte sich damit, Verwandte in Europa zu suchen und deren Schicksale festzustellen. Er führte Bücher über die Vergangenheit und machte genealogische Familienlisten. Er versuchte auch seine ihm zustehende Pension von der Bundesbahn zu erhalten und sein Geld von seinem Konto in Wien – leider erfolglos

Wir waren sehr glücklich, fuhren mit Freunden oft zum Meer oder machten andere Ausflüge. Unsere Tochter wuchs dreisprachig auf, sie lernte instinktiv Chinesisch, Englisch mit uns und Deutsch mit Ernsts Eltern. Wir, als junges Paar, hatten die Möglichkeit, nach Kanada auszuwandern, aber wir wollten uns nicht von unserer Familie trennen, nachdem wir alle gemeinsam überlebt hatten. So lief das Leben bis zum November 1948, aber die Ereignisse im Inneren Chinas waren erschreckend und wieder wurden alle Ausländer heimgerufen, weil die Kommunisten sich näherten.

Inzwischen war der Staat Israel gegründet worden und man machte Propaganda, um Einwanderer zu gewinnen. Wir waren nicht interessiert, doch wir wussten auch fast nichts darüber. Die Kommunisten wurden immer bedrohlicher für Weiße, in denen sie Kapitalisten sahen. Man schickte ein Boot nach Shanghai, um Juden nach Israel zu holen, die dort dringend gebraucht wurden. Und wir hatten zu überlegen, was tun. Erst wollten wir absagen, aber dann wurde erklärt, wie gefährlich es wäre dazubleiben. Wir, unsere Familie und Freunde, beschlossen wegzufahren und meldeten, dass wir bereit waren, nach Israel zu reisen. Wieder mussten wir unser Hab und Gut zurücklassen, um zu flüchten.

Mühevoll hatten wir unsere Wohnung hübsch eingerichtet, hauptsächlich mit selbst fabrizierten Dingen, und jetzt mussten wir wieder alles aufgeben. Wir durften nur wenig mitnehmen, und für das, was wir zurück lassen mussten, konnte man kaum Geld bekommen. Die Anzahl der Transportkisten und das Gewicht waren vorgeschrieben (eine Vorschrift der Schifffahrtsgesellschaft, welche sich später als falsch herausstellte, weil das Schiff unterbelastet war). Wir erhielten für unser ganzes Hab und Gut einen alten Frigidair und packten in die Kisten Hausrat, Nähmaschine, Schreibmaschine, sehr viel Werkzeug und nützliche Dinge. Wir mussten unseren Schäferhund weitergeben und unsere Amah wollte unbedingt mitkommen, »weil sie doch zur Familie gehörte«. Wir waren sehr unglücklich, dass wir »unser« Land verlassen mussten. Es war nur ein kleiner Trost, dass viele unserer Freunde und deren Familien mit uns mitfuhren.

Die Schiffsreise war unbeschreiblich schwer. Frauen und Kinder waren in einem Saal am Heck des Boots untergebracht, direkt über der Schiffsschraube und hatten Hängematten – in zwei Reihen übereinander und für alle eine einzige Toilette und keinen Platz für unsere Sachen. Meine Mutter bekam ein kleines Bett unten und ich und unser Kind die Liege darüber. Die Situation war ständig gespannt und man stritt die ganze Zeit um primitivste Sachen. Die Männer hausten in einem Saal einen Stock tiefer, midship, wo man die Bewegung der Schiffsschraube nicht spürte. Ernst flocht rund um meine Liege ein Netz, damit unsere Tochter nicht herunterfallen konnte. Die vielen Kinder litten sehr und deren Mütter umso mehr. Das Essen war sehr karg, am Anfang der Reise noch etwas besser, aber später immer weniger. Die Besatzung war gemischt, und das Boot segelte unter liberischer Flagge. Glücklicherweise hatten wir von Freunden in Shanghai zwei große Kartons mit Kakao-Dosen mitbekommen, welche die Hauptnahrung für unser Kind waren.

Die Fahrt dauerte zwei Monate, weil man nicht durch den Suez-Kanal fahren konnte und kreuzte zwei Mal den Äquator, was bedeutete, dass es abwechselnd sehr heiß oder kalt war. Wir landeten einmal in Kapstadt, durften aber nicht an Land, obwohl die dort lebenden Juden uns eingeladen hatten. Einmal auf der Reise war der Sturm so stark, dass das Schiff herumgeschleudert wurde und in großer Gefahr war. Während der zwei Monate gab es viele Krankheitsfälle an Bord, nicht nur Seekrankheit, sondern auch Unglücksfälle, Geburten, Todesfälle und Selbstmord. Endlich landeten wir im Mittelmeer in Neapel und wurden auf ein israelisches Boot umgeschifft, welches im Hafen lag. Wir wurden instruiert, unser Handgepäck vorzubereiten, während man die großen Kisten umlud. Zu unserem Schrecken sahen wir im letzten Moment, dass man das Handgepäck zuerst im Laderaum versenkte und dann die großen Kisten obendrauf, sodass es in den nächsten Wochen praktisch unerreichbar war.

Ernst kletterte schnell hinunter in den Laderaum und es gelang ihm, unsere Handkoffer herauszuholen, so hatten wir für die nächsten zwei Wochen wenigstens die Toilettesachen. Neue Passagiere kamen an Bord, und wir staunten über deren weißen Teint, da wir alle eine leicht gelbliche Hautfarbe hatten. Wir erhielten eine Kabine mit 2 x 2 Betten für unsere Eltern und uns – Ernst und ich schliefen am Boden und unser Kind bei den Eltern. Unser Schiff, die »Negba«, fuhr zuerst nach Marseille und dann nach Haifa, wo wir am 14. Februar landeten.

Wir mussten bis spät abends an Bord bleiben und wurden dann mit Lastwagen in ein Lager gefahren und dort in einem großen Zelt untergebracht. Es war sehr kalt, am nächsten Morgen entdeckten wir, dass rund ums Zelt Wasser stand. Wir waren in einem großen Immigranten-Lager in der Nähe der Stadt Hadera und es dauerte lange, bevor wir eine etwas bessere Unterkunft erhielten: ein kleines Holzhaus, wo 2 x 2 schmale Campbetten übereinander standen, welche man abends ausbreitete. Ernst und ich schliefen darunter am Boden, das Kind bei den Großeltern. Unser Umzugsgut war im Zentrum gelagert, wir bezahlten einen großen Betrag, damit die Kisten neben unserer Unterkunft gelagert wurden.

Der Empfang der neu eingewanderten Immigranten war gar nicht schön, wir mussten für jede Sache viel bezahlen. Nach kurzer Zeit wurde die ausländische Währung entwertet und unser mitgebrachtes Geld war nur mehr ein Drittel wert. Wir wollten nur heraus aus dem Camp, doch man machte große Schwierigkeiten. Wir konnten keine Arbeit finden, weil man dazu Mitglied bei der politischen Partei sein musste, was aber nicht möglich war, solange man im Lager lebte. Wir entschlossen uns dann, zuerst eine Unterkunft für unsere Familie zu suchen und uns danach um einen Verdienst zu kümmern. Als man verlautbarte, dass man ruhig in leere Wohnräume ein ziehen könnte, fanden wir zusammen mit unseren Freunden aus Shanghai zwei kleine Häuschen, welche wir putzten und renovierten. Als wir fertig waren, wurden wir von Mitgliedern eines nahegelegenen Kibbutz hinausgeworfen.

Wir versuchten in einem Kibbutz aufgenommen zu werden, doch wollte man nur uns und nicht unsere Eltern und ähnlich war es bei jedem neuen Projekt. Eines Tages wurde Ernst von einem Freund aufgefordert, mit ihm nach Jerusalem zu fahren, um sich dort umzusehen. Er kam begeistert zurück und erzählte von einer richtigen Stadt mit schönen Häusern und richtigen Strassen, wo es zwar leere Wohnungen gab, aber keine Arbeit. Wir wollten zuerst unsere Familie unterbringen und dann Arbeit suchen. Und so fuhr Ernst wieder – von einem Lastwagen mitgenommen – zurück nach Jerusalem. Wir suchten entweder drei Wohnungen oder eine gemeinsame Unterkunft für uns alle und er fand einen Vermittler, der verschiedene Häuser an der Hand hatte.

Sie fuhren nach Tapiot – einem Gartenvorort mit Villen, welche vor dem letzten Krieg von wohlhabenden Leuten bewohnt waren und jetzt vom Verband für verlassenen Besitz verwaltet wurden. Er mietete das Haus, das am schnellsten zu haben war, wusste aber nicht, dass der Preis viel zu hoch war – man nützte Neulinge aus. Er kam glücklich ins Lager zurück und wir bereiteten uns auf die Übersiedlung vor. Wir wussten, dass das Haus viele Reparaturen brauchen würde, um es bewohnbar zu machen, und Ernst und ich wollten zuerst hinfahren, um die nötigen Arbeiten auszuführen, bevor die Familie kommen sollte. Wir packten einen großen Koffer voll mit Werkzeug und fuhren mit einem Lastauto nach Tel Aviv zur Autobus-Station. Wir hatten keine Ahnung, dass dieser Tag der Vorabend des Pessach-Festes (Ostern) war, dass man zum erstenmal nach dem Krieg in Jerusalem feiern konnte und dass ein riesiger Andrang sein würde, um hinzukommen. Die Schlange der Menschen war unübersehbar lang und bewegte sich nur langsam vorwärts. Ernst setzte mich mit dem Koffer irgendwo in der Mitte ab und lief schnell, um noch in Tel-Aviv etwas zu verkaufen, um Geld aufzutreiben. Ich verschenkte rund um mich etwas Obst, welches ich bei mir hatte, hatte keine Probleme und schob den schweren Koffer langsam mit mir vor. Und da hatte ich ein schönes Erlebnis: Vor mir in der Schlange stand eine junge Frau, welche sich mit einem Mann auf Englisch unterhielt, bevor er davoneilte, um etwas zu erledigen. Wir kamen ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass dieses junge Paar auch nach Jerusalem fahren wollte. Die Zeit verging und wir fürchteten, dass die letzten Autobusse fortgefahren waren. Man verlautete noch, dass Lastwagen für eine kleine Aufzahlung auf die Buskarten nach Jerusalem fahren würden und wir bedauerten, dass unsere Männer nicht da waren. Da kamen plötzlich beide Männer gelaufen und wir rannten zusammen und erwischten im letzten Moment Plätze am Lastwagen. Während der Fahrt, die über drei Stunden dauerte, unterhielten wir uns und es stellte sich heraus, dass das junge Paar nach Jerusalem fuhr, um in Talpiot das Haus der Familie der Frau zu beziehen. Sie waren froh zu hören, dass wir in Talpiot wohnen wollten, ein verlassenes Viertel an der Grenze, welches noch vom Militär besetzt war. Der junge Mann stammte aus Wien und sein Vater war Lehrer in Ernsts Schule gewesen.

Wir erreichten Jerusalem knapp vor Beginn des Festes und unsere neuen Bekannten halfen uns noch schnell ein paar Sachen einzukaufen, welche wir zum Essen und zum Reinigen des Hauses benötigten. Es gab keinen Verkehr nach Talpiot und sie halfen uns auch, mit ihnen auf einem Militärbus mitgenommen zu werden. Wir erreichten unser Haus am Abend und sahen, dass es keine Fenster und Türen hatte und voll Schmutz war. Wir überlegten, in der Speisekammer zu schlafen, weil es sehr kalt war und da kam unsere neue Bekannte, um zu sehen, wie unsere Unterkunft aussah. Sie lud uns ein, in ihr Haus zu kommen, welches in tadelloser Ordnung war, weil das Militär darauf aufgepasst hatte. Es war mir peinlich, doch Ernst überredete mich und wir nahmen unseren Koffer und gingen im Finstern zum Haus der neuen Bekannten.

Wir feierten unseres erstes Pessach-Fest gemeinsam und steuerten zur Mahlzeit bei, was wir konnten. Wir wurden eingeladen, bei ihnen wohnen zu bleiben, bis unser Haus bewohnbar sein würde und es war eine große Hilfe, dass wir nach schwerer physischer Arbeit einen Platz zum Waschen und Schlafen hatten. Wir blieben während der ganzen Jahre, bis heute, gute Freunde und ich erzähle das nur, um zu zeigen dass es immer auch gute Menschen gab.

Es dauerte drei Wochen, bevor wir unsere Familie nachkommen lassen konnten. Jedes Elternpaar bezog ein Zimmer und zusätzlich hatten wir noch ein Wohnzimmer, ein großes Esszimmer, Küchen für jede der Großmütter und Badezimmer und verschiedene Vorzimmer mit eingebauten Schränken, zwei große Garagen und einen Garten rund ums Haus. Wir hatten kaum Möbel, außer Betten, doch wir konnten unser Haus nach und nach mit viel selbstgebauten Möbeln einrichten. Ich wurde bald als Directrice im größten Kleidergeschäft Jerusalems angestellt und arbeitete dort die nächsten siebzehn Jahre (in dem von mir verhassten Beruf). Ich lernte Hebräisch auf der Strasse und konnte bald sprechen und schreiben. Unsere Kundschaft waren die damals Prominenten, Politiker, Doktoren und Professoren. Die Arbeitstage waren lang und nur durch eine Mittagspause unterbrochen, welche teilweise durch Überstunden und Verkehrs-Schwierigkeiten verkürzt war.

In diesen Jahren passierten viele Dinge. Meine Schwiegereltern verließen Israel und kehrten zuerst nach Wien zurück, um später zur Tochter nach Amerika zu gehen. Mein Vater, der praktisch unsere Tochter großzog, starb im Jahr 1951, kurz nach der Geburt unseres Sohnes. Meine Mutter führte unseren Haushalt und pflegte die Enkel – obwohl sie oft krank war. Unsere Kinder hatten eine wunderschöne Jugend in Talpiot und wir hatten sehr viele Freunde in der Gegend. Mein Mann arbeitete oft in zwei Jobs (Lastwagenfahrer und Auto-Garage), um genug zu verdienen. Auch er hasste seine Arbeit, führte sie aber trotzdem tadellos durch und war beliebt. Er musste auch öfters Militärdienst machen und war dann wochenlang nicht zu Hause. Die Jahre vergingen, die Kinder wuchsen heran, aber immer wieder gab es Kriege im Land, die das Leben erschwerten. Langsam wurde das Haus schöner eingerichtet, die Kinder hatten eigene Zimmer und wir hatten ein altes Auto und ein Motorrad. Nach der Arbeit studierte mein Mann verschiedene technische Fächer, eines davon war »Production Engineering«, welches auch mich sehr interessierte.

Als man meinem Mann einen Posten als technischer Leiter einer Autofabrik in Haifa anbot, war er sehr interessiert. Er musste dazu in Haifa wohnen und konnte nur an den Wochenenden nach Hause kommen, was sehr schwer für uns war. Ernst hatte nette Kollegen und lernte ein neues Produkt kennen, das ihn faszinierte: »Fiberglass«. Daraus wurden die Auto-Karosserien produziert, die Eigenschaften dieses ganz neuen Materials waren erstaunlich gut. Ernst brachte Muster nach Hause, experimentierte mit den verschiedenen Komponenten und studierte die erzielten Eigenschaften. Nach über einem Jahr wollte Ernst nicht mehr allein in Haifa leben, und wir beschlossen, mit der Familie zu übersiedeln. Wir waren alle nicht glücklich darüber, die Kinder wollten ihre Freunde und Schulen nicht wechseln und ich wollte meine Arbeit nicht aufgeben. Wir liebten Jerusalem und unser Heim, und als man Ernst eine Arbeit als Leiter einer Buchbinderei in Jerusalem offerierte, nahm er die Arbeit an und wir waren glücklich, dass wir doch nicht übersiedeln mussten. Leider war dieser Job keine richtige Arbeit und Ernst war erneut gezwungen, wieder eine Auto-Garage zu leiten. Er benützte jede freie Minute, Fiberglass zu studieren, korrespondierte mit Erzeugern in der ganzen Welt und lernte darüber. An Wochenenden arbeiteten wir alle an Mustern und staunten über die Erfolge. Eines Tages im Jahr 1962 verließ er die Arbeit in der Auto-Garage für immer und es begann wieder ein neuer Abschnitt in unserem Leben.

Fiberglass-Industrie

Ernst erhielt die ersten Aufträge, mietete eine Werkstätte und ein Jahr später brauchte er bereits ein größeres Arbeitslokal, weil er schon einige Arbeiter beschäftigte. Nach weiteren zwei Jahren erzeugte er in seiner Fabrik sehr große Behälter für die chemische Industrie, mit vielen Arbeitern, die er ausbildete. Er musste sehr viel im Land umherfahren, um das neue Material zu bewerben und arbeitete viele Stunden, um seine Erzeugnisse zu entwickeln. Er studierte nächtelang, um über die Materie im Ausland zu lernen und Anfang 1966 kamen wir – schweren Herzens – zu dem Entschluss, dass wir die Produktion in die Mitte des Landes verlegen müssten, um den Transport unserer sehr großen Behälter zu ermöglichen (Jerusalem liegt am Berg und war damals nur mit einer Strasse erreichbar). Es tat uns sehr leid, unser geliebtes Jerusalem verlassen zu müssen, aber es war unbedingt notwendig. Wir begannen, Industrie-Gebiete in der Mitte des Landes zu suchen, welche an großen Verkehrsadern lagen. Außerdem mussten wir auch eine Wohnmöglichkeit in der Nähe finden, um unsere Familie unterzubringen – und das alles musste erschwinglich für uns sein. Wir fanden schließlich Fabriksräume im Industriegebiet der Stadt Netanya und ein kleines Haus in einer kleinen Siedlung in der Nähe. Das Haus hatte nur zwei Zimmer und einen großen Garten mit Bäumen. Wir erhielten für unser gemietetes Haus in Jerusalem zwei Drittel des Wertes und ich erhielt einen Teil meiner Abfindung von meinem Chef für siebzehn Jahre Arbeitszeit. Mit diesen Mitteln mussten wir die neue Fabrik mieten und unser Haus kaufen. Das Geld langte nicht und wir waren gezwungen, von einer Bank gegen Wechsel zu borgen. Die Übersiedlung sowie die Einrichtung der Fabrik kosteten viel, aber wir waren überzeugt, dass wir auch das »übertauchen« würden. Alle halfen mit: Meine alte, kränkliche Mutter hatte volles Verständnis, unser Sohn musste seine Schule wechseln und auch unsere Tochter, die damals beim Militär war, war einverstanden. Das Haus hatte wie gesagt nur zwei Zimmer, sodass unsere Sohn in einem kleinen Raum im Garten schlief und die Tochter auf einer Couch im Wohnzimmer. Ich hatte schon jahrelang darauf gewartet, in der Fabrik arbeiten zu können und war glücklich, dass ich das nun endlich tun konnte. Ich liebe Produktion – egal was – und konnte bald die verschiedenen Maschinen bedienen und die Arbeit überwachen. Mein Mann war viel unterwegs bei Kundschaft und abends arbeiteten wir am Entwurf von neuen Produkten. Nach einiger Zeit musste er auch manchmal ins Ausland reisen, um Kontakte zu knüpfen, neue Materialien zu kaufen und neue Maschinen zu prüfen. Wann immer Ernst Militärdienst leisten musste, war ich mit der ganzen Verantwortung allein. Wir mussten sehr sparen, doch kamen wir weiter und vergrößerten ständig unsere Produktion.

Während dieser Zeit heiratete unsere Tochter und unser Sohn wurde zum Militär einberufen, wo er zunächst drei Jahre dienen musste. Er heiratete, doch musste er nach dem »Sechs-Tage- Krieg« noch zwei weitere Jahre dienen. Obwohl er die Möglichkeit hatte, zu studieren, wollte er nur in der Fabrik arbeiten. Im Laufe der Jahre wurde die Fabrik immer größer und vielseitiger, und unser Sohn übernahm die Leitung der Produktion. Wir drei arbeiteten gut zusammen, Ernst machte einige technische Erfindungen und wir kamen gut voran. Wir bauten riesige Rohrleitungen, Wasseranlagen und spezielle Projekte für die Armee und die Marine. Es würde zu weit führen, alles aufzuzählen. Im Lauf der Jahre renovierten und vergrößerten wir unser Haus und versahen es mit schönen Möbeln, doch als wir älter wurden, übersiedelten wir in eine Wohnung in der Stadt Netanya in eine gute Gegend, nahe am Meer. Es war ein schwerer Entschluss, doch mit zunehmendem Alter vernünftig.

Wir arbeiteten weiter, auch als wir die Fabrik in ein neues Industriegebiet übersiedelten. Ich war 80 Jahre alt, als unser Sohn die Fabrik schloss und seine neue Karriere begann – er ist heute ein bekannter und angesehener Fachmann für die Materialien und die Erzeugung in Industrie-Anlagen auf der ganzen Welt. In der ersten Zeit fiel es mir schwer, eine »Privatfrau« zu sein, doch langsam lernte ich – zusammen mit meinem Mann – unserem Leben eine neue Bedeutung zu geben. Ich wuchs nach dem Motto meiner Eltern auf : »Wenn Du abends schlafen gehst, musst Du wissen, was Du getan hast, um diesen Tag zu verdienen.«

Ich habe zu viel erlebt, um eine einfache Hausfrau zu sein und bin dankbar dafür, dass es mir gegeben war, einige Male im Leben neu aufzubauen, nachdem ich alles verloren hatte. Ich habe nach meiner Pensionierung viele Übersetzungen von Deutsch auf Englisch gemacht, unter anderem über 80 Briefe, die verzweifelte Juden aus Wien an ihre Verwandten nach Amerika schrieben.

Nach dem Ableben meines Vaters fand ich Aufzeichnungen darüber, was meine Eltern litten, bevor es ihnen gelang, aus Wien zu flüchten und konnte die in Kurrent-Schrift geschriebenen Zeilen übersetzen. Ich besuchte auch die heute renovierten Konzentrationslager und lernte am meisten nicht aus den Relikten, sondern vom Inhalt der Schriften und Bücher ehemaliger Insassen.

Obige Zeilen beschreiben in Kürze das Leben einer vertriebenen Familie, deren Überlebende das Glück hatten, trotz aller Probleme wieder aufbauen zu können.
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Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

"Das hieß anstellen und weiter hoffen ..."

Ernst Neumann über die Schikanen beim Versuch zu emigrieren.

Nach und nach begann man sich mit der neuen Situation abzufinden. Man hörte über die ersten KZ. Viele Bekannte und Verwandte waren bereits verschwunden. Wahre und unwahre Geschichten wurden erzählt, man wusste nicht mehr, was man glauben sollte. Die Hausmeister waren eine ständige Bedrohung. Man musste sich sehr in Acht nehmen, kein falsches Wort zu sagen. Man lebte in ständiger Angst.

Nach einiger Zeit kam man dann zum Entschluss wegzugehen. Aber wohin? Dafür waren viele Dinge notwendig: Zuerst eine Ausreisebewilligung, dann eine Einreisebewilligung in ein anderes Land, dazu die nötigen Durchreisevisa.

Doch das »Ausland«, besonders die USA und England, haben sich zu dieser Zeit schlecht benommen, viele Juden kamen deshalb ums Leben. Zunächst benötigte man einen gültigen Reisepass, was sehr kompliziert und sehr teuer war. Man musste sich einen Nazi-Anwalt nehmen – jüdische Anwälte gab es ja nicht mehr – und diese nutzten die Gelegenheit aus, viel Geld zu machen. Dann brauchte man eine Ausreisebewilligung. Dazu musste man bei einem Amt in der Prinz-Eugen-Straße vorsprechen und um Bewilligung ansuchen. Man musste sich bereits um Mitternacht anstellen, um in der Früh Einlass zu bekommen. Die Anzahl der Personen war beschränkt und wenn man nicht dran kam, so musste man sich in der nächsten Nacht wieder anstellen. Dazu kam, dass die Nächte in den Herbst- und Wintermonaten eisig kalt waren, viele zogen sich  schwere Erkältungen zu oder starben.

Und dann kam die wahre Schikanierung: Man musste warten, wurde auf den nächsten Tag verschoben, der Beamte ist gerade nicht da, kommen Sie doch morgen wieder. Das hieß wieder nachts anstellen und weiter hoffen. Dann hatte man endlich, wenn man Glück hatte, erreicht, was man wollte und bekam die verlangte Bewilligung. Bis man aber die zusätzlich nötigen Bewilligungen erhalten hatte, war die erste schon wieder abgelaufen und man musste um eine neue ansuchen. Und wenn man diese dann bekam, so waren die anderen Bewilligungen schon wieder abgelaufen. Dazu kam noch die ständige Angst vor willkürlichen Verhaftungen.

Schließlich begann der Kampf um die Einreise in ein anderes Land. Auch der war sehr kompliziert. Die meisten Konsulate hatten Anweisungen »zu verschleppen«, unter tausend verschiedenen Ausreden wurde man hin- und hergeschickt. Dazu kamen Geldforderungen, welche man sich meistens nicht leisten konnte. Man hatte auch schon keine Kraft mehr, weiter zu kämpfen. Zudem wurden zu dieser Zeit die Juden ausgeraubt. Geschäfte und Wohnungen wurden »arisiert« und für eine Bagatelle weg genommen. Man musste sein Einverständnis geben, sonst ...

Dadurch gingen auch die finanziellen Mittel zum Teufel, mit welchen man sich eventuell helfen hätte können. Man traute sich nur auf die Straße zu gehen, wenn es unbedingt nötig war. Und dauernd hatte man Angst, Angst und Angst.

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