Die letzten Zeugen - Das Buc

PERETZ SHAKED


 
 

PERETZ SHAKED

(früher Kurt Mandler)
geb. 1927-01-31
lebt heute in Israel


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Die HS II/RS Leibnitz aus der Steiermark war im Mai 2008 Gastgeber für Peretz Shaked. Die Lehrerin Edith Reichl hat den Besuch mit KollegInnen und SchülerInnen organisiert.

Peretz Shaked wird 1927 als Kurt Paul Mandler in Wien geboren. Sein Vater, Arthur Mandler, war Frontkämpfer im 1. Weltkrieg, hat die silberne Tapferkeitsmedaille erhalten. Von März 1938 bis Dezember 1939 lebt Shaked Peretz im Nazi-Regime und kann mit dem letzten Kindertransport über den Brennerpass nach Triest und von dort per Schiff in seine neue Heimat Palästina fliehen. Seine Mutter Margarethe, die nach Palästina nachkommt, wird von den Engländern fünf Jahre in einem Lager auf Mauritius interniert. Peretz Shaked wird Feinmechaniker. Er baut sich ein neues Leben auf und gründet eine Familie, hat heute zwei Töchter und fünf Enkelkinder.

Der Kreis in meinem Leben hat sich geschlossen

Peretz Shaked musste mit 12 Jahren auf einem Schiff nach Palästina flüchten. Der Besuch der alten Heimat hat ihn versöhnt.

ERSTER TEIL: Meine Zeit in Wien

Wir waren eine ganz gewöhnliche österreichische Familie jüdischen Glaubens. Wir feierten zwei bis drei Mal im Jahr Feiertage und am wichtigsten, Jom Kippur, ging ich mit meinem Vater in die Synagoge. Ich lernte in der Volksschule Sechskrügelgasse im 3. Bezirk, wo ganz in der Nähe, in der Neulinggasse 22, auch unsere Wohnung lag. Ich war Mitglied im Österreichischen Pfadfinder Bund. Meine Mittelschule war die »Radetzky-Realschule«.

Die Sommerferien verbrachten wir immer auf einem Bauernhof, wo meine Schwester Susi und ich mit den Bauernkindern spielten. Meine Mutter nannte das immer »Sommerfrische«. Mit ihr, die sehr naturliebend war, machten wir jeden Tag mit Proviant ausgerüstet Wanderungen zu nahen und ferneren Zielen. Wir suchten in den Wäldern Steinpilze und Eierschwammerl, und meine Mutter wusste genau, welche giftig oder essbar sind. Zurück nach Wien kamen wir dann immer mit Kilo schweren Säcken getrockneter Schwämme. Mein Vater kam nur an Wochenenden, um mit uns wandern zu gehen und alles mitzumachen. Beide meine Eltern liebten die Natur, meine Mutter war auch begeisterte Bergsteigerin. Von ihr lernten wir viel, auch wie man sich in der Natur verhält. Ich kann mich erinnern, als es bei einem unserer Ausflüge plötzlich zu regnen, donnern und blitzen begann. Wir eilten sofort auf eine offene Wiese, legten uns auf den nassen Boden und Mutti deckte uns mit dem Regenmantel zu. Später, als ich älter wurde, habe ich öfters über Unglücke gelesen, bei denen Menschen durch Blitze getötet wurden.

Ein anderes Mal stand plötzlich auf einem Waldweg, nicht weit von einem Gehöft, ein Zähne fletschender, knurrender Hund und versperrte uns den Weg. Meine Mutter sagte ganz ruhig und leise »Nicht rühren, nicht weglaufen!« und begann mit dem Hund ganz ruhig zu sprechen. Es waren immer verschiedene Silben und Laute, halbe Worte, monoton und der Hund beruhigte sich langsam. Plötzlich drehte er sich um und lief zu seinem Gehöft zurück. Diese Geschichte ist ein anderes Beispiel für das Wissen meiner Mutter über Tiere und die Natur.

Den zweiten Teil unserer Sommerfrische verweilten wir am Plattensee in Ungarn auch bei einer Bauernfamilie. Der Bauer brachte uns jeden Morgen zum Badestrand, wo wir für zwei bis drei Wochen eine Kabine gemietet hatten. Für die Woche bekam der Kutscher, einer seiner Söhne, er war 15 oder 16, eine Schachtel Zigaretten und alle waren glücklich. Die Verbindung zu Ungarn war die: Mein Vater hatte eine Schwester, Tante Paula, die ihr Glück in Budapest fand und Onkel Nandor heiratete und mit ihm einen Sohn, Djurka, hatte. So waren wir jedes Jahr bei ihnen zu Gast und fuhren von dort weiter zum Plattensee. Sie waren offenbar wohlhabend, denn mein Vater wohnte als Junggeselle einige Jahre bei Ihnen auf Kost und Quartier, studierte und absolvierte die Handelsakademie in Budapest. Dort erreichte ihn der erste Weltkrieg und er meldete sich sofort als einjähriger Freiwilliger bei der Österreichisch-Ungarischen Armee der Monarchie.

Ich glaube Mitte 1915 wurde mein Vater nach schweren Kämpfen Kriegsgefangener und war für fünfeinhalb Jahre in Sibirien. Später bekam er die Silberne Tapferkeitsmedaille. Ich bin noch im Besitz einer seiner Briefe an seine Schwester, datiert 1921 in Wladiwostok: »Wir warten noch immer auf ein Schiff.« Aber kurz danach kam das lang ersehnte Schiff und Tausende Kriegsgefangene kehrten in ihre alte Heimat zurück. Sein Bruder arbeitete bereits als Spediteur, hatte eine Firma und nahm meinen Vater als Kompagnon auf. Beide vergrößerten die Firma und erst als seine Existenz gesichert war – so wie es damals üblich war – bat er um die Hand meiner Mutter. Wie schon erzählt, waren wir eine kleine, glückliche Durchschnittsfamilie in Wien bis zum 13. März 1938, als wie ein Blitz Österreich zu bestehen aufhörte und wir die »Ostmark« mit einem Nazi-Gauleiter wurden.

ZWEITER TEIL: 13. März 1938 – 10. Dezember 1939

Wir hörten noch mit unserem Radioapparat in der Wohnung die letzten Worte des Bundeskanzlers Schuschnigg: »Rot-Weiss-Rot bis in den Tod« und »Gott schütze Österreich«. Dann brach für uns die heile Welt zusammen. Nach einigen Wochen stürmten einige SA-Männer in Uniform in unsere Wohnung und beschlagnahmten sie. Es wurde ein Inventar aufgenommen und alles, was sich in der Wohnung befand, aufgeschrieben. Mein Vater musste unterschreiben. Wir konnten unsere persönlichen Gegenstände, wie Bekleidung und Schuhe in einige Koffer packen. Innerhalb kurzer Zeit – vielleicht 48 Stunden – wurde die Wohnung mit einem Nazi-Siegel und dem Hakenkreuz verschlossen. Meinen Eltern wurde mit der Todesstrafe gedroht, falls wir es wagen sollten, das Siegel zu brechen.

Alles blieb in der Wohnung, alle Möbel, Betten, Tische, das Klavier, Glas und Porzellanservice, Teppiche, Lampen ... alles.
Wir wohnten provisorisch bei einer Tante, bis wir nach rund vier Monaten eine sogenannte Sammelwohnung am Franz Josefs Kai 45 zugewiesen bekamen. Dort wohnten drei Familien in einer Wohnung zusammen. Jede Familie hatte ein Zimmer, Küche und Bad wurden geteilt und gemeinsam benützt.

Die ersten Monate konnte mein Vater noch seine Spedition in der Ferdinandstraße 24 im 2. Bezirk betreiben, aber eines Abends kam er nicht nach Hause. Er wurde von der Zollbehörde verhaftet, natürlich unschuldig. Er kam nach vier Tagen unrasiert nach Hause. Wir konnten aufatmen. Er war ein redlicher Mann, der nie beim Zoll Probleme hatte. Man kannte ihn dort gut. Es waren ein oder zwei alte Kumpel, Kriegskameraden, die sich für ihn einsetzten.

In der Zwischenzeit kamen vier »Riesenlackeln« in schwarzer SS-Uniform und hämmerten mit ihren Fäusten gegen die Tür – Aufmachen! Meine Mutter, etwas blass, aber unerschrocken, hielt eine Platte mit allen Kriegsmedaillen meines Vaters vor ihrer Brust. Wir beiden Kinder standen erschrocken hinter ihr. Einer der Nazis schlug mit seinem bestiefelten Fuß alle Medaillen in alle Richtungen, murmelte einen Fluch und verließ uns. Dann wurde die Spedition arisiert. Mein Vater musste einem der Angestellten eine Generalvollmacht unterschreiben und futsch war alles Einkommen, von einem Tag auf den anderen.

Meine Mutter besaß mit weiteren drei Geschwistern ein Haus in der Favoritenstraße im 10. Bezirk. Sie bekam ihren Teil als Mitgift ihrer Eltern. Das Haus wurde zwangsverkauft und der Erlös, der nur ein kleiner Teil des wirklichen Wertes war, wurde sofort als Sperrkonto in den Banken eingefroren. Möglicherweise zum Überleben durfte man mit Erlaubnis vom eigenen Konto ein paar Reichsmark abheben. Zum Überleben.

Dann im April 1938 wurde ich von der Schule verjagt, einige Klassenkameraden jaulten: »Saujud, geh` nach Palästina!« und warfen meine Schultasche durch das Fenster auf den Gehsteig. Keiner der Lehrer war im Korridor zu sehen, ich will hoffen, dass sich wenigstens ein oder zwei schämten. Es war natürlich alles vorbereitet gewesen und man wollte die Schule »judenrein« haben. Riesige Hakenkreuzfahnen hingen vom Dach bis zum Gehsteig. Ich nahm meinen Mantel, ging hinunter, sammelte wieder alles ein, was von der aufgeplatzten Schultasche verstreut herum lag und ging nach Hause.

Dann kam ich in eine jüdische Schule, eine Art Sammelschule, wo Buben und Mädchen unterschiedlichen Alters in Klassen gepfercht wurden. Selten kannte ich irgendein Kind oder einen Lehrer. Die wechselten jede Woche, manchmal jeden Tag. Einer wurde verhaftet, dem zweiten gelang die Flucht ins Ausland und wir hörten auch von Selbstmord.

1939 begann der Krieg mit Polen und mit ihm wurde die Lebensmittel-Karte eingeführt. Alles wurde rationiert, Brot, Mehl, Zucker, Eier, Fleisch, Butter, Fett, einfach alles. Wir bekamen weniger als unsere arischen Nachbarn. Und doch waren »im Netz einige Löcher«. Im Zuckergeschäft konnte man noch ohne Marken kaufen und man bekam dort auch Sardinenschachteln. Und so ging ich einige Male in der Woche 5 oder 10 dag Zuckerln kaufen und nahm immer nur eine Sardinenschachtel, damit ich nicht auffalle. Alles zu Fuß und immer in verschiedene Geschäfte. Radioapparate und Fahrräder hatten wir schon längst abgeben müssen und öffentliche Verkehrsmittel waren für uns strengstens verboten. Und so habe ich langsam gesammelt, um Proviant für die Reise bzw. Flucht meiner Eltern vorzubereiten. Meine Schwester, drei Jahre älter als ich, fuhr bereits im März 1939 mit einer Jugendgruppe nach Palästina.

Ich konnte am 10.Dezember 1939 mit dem letzten Kindertransport Wien verlassen und gelangte über den Brennerpass, Triest und von dort per Schiff mit der »Galilea« nach Haifa, wo damals der größte Hafen in Palästina war (auch englischer Kriegshafen).

Noch eine kleine Geschichte. Zu meinem 10. Geburtstag bekam ich als Geschenk meiner Eltern einen sehr einfachen Fotoapparat, eine Kodak Box, die ich mir schon lange gewünscht hatte. Ich »schoss« sehr gute Bilder mit ihr von Menschen, Tieren und Blumen. Als die Nazis an die Macht kamen, machte ich auch verschiedene Bilder, die uns gefährden könnten. Mein Vater bat mich daher, nicht mehr mit dem Fotoapparat auf die Straße zu gehen. Es sind mir jedoch einige Bilder übrig geblieben. Eines davon lege ich bei und zwar die Fotografie unserer besten Freundin Gretl Deutsch, die ich vor einer Wand mit aufgemalten und aufgeklebten Nazi-Parolen aufgenommen habe.

Heute heißt Gretl Leah Linton und wurde im Mai 2008 auch vom Projekt »A Letter To The Stars« nach Wien eingeladen. Wir umarmten uns jeden Tag im Hotel Ananas in Wien, wo wir glücklicherweise beide logiert waren und alte Erinnerungen austauschten. Ich lernte auch ihre Tochter und ihren Sohn kennen und sie meine Frau. Sie wohnen heute in den USA.

DRITTER TEIL: Palästina – Israel

Ich kam am 20. Dezember 1939 im Hafen von Haifa an und zog in einen Kibbuz bei Jerusalem. Ich lebte dort für zwei Jahre und absolvierte die 7. und 8. Klasse. Zuerst lernten wir Hebräisch, dies war unsere neue Sprache. Wir waren zwölf Kinder zwischen 12 und 13 Jahren. Die meisten kamen ebenfalls aus Wien, manche aus Tschechien und Berlin. Schon nach kurzer Zeit beteiligten wir uns in der Schulklasse rege an allen Problemen unserer Klasse.

Mein Vater konnte im Februar 1940 Wien mit einem Donaudampfer über die Tschechei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien verlassen. Dort wurden 700 bis 800 Flüchtlinge auf einen etwas größeren, schäbigen Lastfrachter überwiesen und der »illegale« Transport fing an sich Richtung Palästina zu bewegen. Illegal deshalb, weil er ohne die Erlaubnis der englischen Oberherrschaft fuhr und Israel ein englisches Mandat war. Das Schiff wurde von einigen englischen Kriegsschiffen gestellt und mein Vater mit all den anderen Flüchtlingen in ein Internierungslager gesperrt. Dort empfingen sie bereits andere Hunderte Insassen mit demselben Schicksal.

Ich im Kibbuz Kirjath Anarim und meine Schwester im Kibbuz Naan wussten die ersten Wochen überhaupt nicht, dass unsere Eltern noch am Leben waren, bis man uns von unserem Vater erzählte. Erst nach 13 Wochen wurde er entlassen. Da davor kein Platz für meine Mutter frei war, fuhr sie erst im September 1940, mit demselben »illegalen« Transport wie zuvor mein Vater, von Wien weg. Auch dieses Schiff, die »Atlantik« mit 1200 Flüchtlingen, wurde von englischen Zerstörern gefasst und meine Mutter kam in dasselbe Lager wie mein Vater, aber in ein anderes Unterlager. Der ganze Komplex war in verschiedene kleinere, mit Stacheldraht abgezäunte Lager geteilt. Keiner der beiden wusste vom anderen. Alles war mit Stacheldraht und Wachtürmen abgesperrt. Heute steht auf demselben Platz ein Museum und es gibt noch originale Baracken und Wachtürme.

Nach zwei Wochen wurden die »Illegalen« mit Gewalt auf Lastautos verladen und zum Hafen von Haifa gebracht, wo sie auf zwei holländische Frachter geschleppt wurden. Es gab dort herzzerreißende Szenen. Um nur eine zu nennen: Frauen zogen sich nackt aus und wurden von der englischen Polizei in Decken gewickelt und auf das Schiff gebracht. Nach einigen Wochen im Indischen Ozean kamen beide Schiffe in Mauritius an. Dort waren meine Mutter, ihre Schwester Tante Irma und deren Tochter Trude fünf Jahre interniert. Die ersten Jahre Wellblechbaracken, Stacheldrahtverhau und Wachtürme mit schwarzen Polizistinnen. Für die Europäer herrschte ein schreckliches Tropenklima und fast alle bekamen Malaria. Meine Mutter überlebte, meine Tante jedoch nicht. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof in Mauritius begraben. Ihre Tochter bekam einen schrecklichen Nervenzusammenbruch und wurde für ihr kurzes restlichen Leben in eine Nervenklinik eingeliefert. Sie starb dort bald. Ich habe sie dort noch vor ihrem Tod besucht.

Nach dem V-Day, dem Siegestag der Alliierten, wurden die Insassen frei gelassen und meine Mutter kam mit ihrer armen, kranken Nichte Ende August 1945 in Tel Aviv an, wo mein Vater wohnte. Mitte August verließ ich den Kibbuz Jagur, wo ich drei Jahre Maschinenschlosser gelernt hatte, um meinen Eltern zu helfen. Ich war 18 Jahre alt, fand bald Arbeit und wurde langsam Schnitt- und Stanzenmacher. Der Inhaber war ein netter Mann namens Konas. Auch er war Ex-Wiener, wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass er mich aufnahm. Als ich mich nach zehn Jahren verabschiedete, sagte er, er habe es nicht bereut und gab mir auch ein schönes Zeugnis.

1948 brach unser Freiheitskrieg aus. Nach dem Beschluss der Vereinten Nationen, einen jüdischen Staat Israel zu gründen, griffen uns fünf arabische Staaten, darunter auch Mitglieder der Vereinten Nationen, an. In meinem Infanterieregiment in der Telefonzentrale traf ich ein hübsches und freches Mädchen an: Neomi. Wir heirateten eineinhalb Jahre später, 1950, hatten bald zwei Töchter und haben heute fünf Enkerln, mit denen wir sehr verbunden sind. Im Oktober 2008 werden wir unseren 58. Hochzeitstag feiern. Die Zeit vergeht schnell.

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