Die letzten Zeugen - Das Buc

OTTO DEUTSCH


 
 

Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

»Diesmal habe ich mich zu Hause gefühlt!«

Briefe von Otto Deutsch, geschrieben nach seinem Besuch in Österreich.

16. Mai 08. Meine lieben Freunde. Ich möchte, dass Ihr wisst, wie sehr ich, und ich bin sicher, alle eure Gäste, die wunderbare und großzügige Art geschätzt haben, mit der Ihr euch um uns gekümmert habt. Es war sehr schön, wie wir uns alle, die wir in verschiedensten Teilen der Welt leben, verbunden gefühlt haben. Was wir gemeinsam hatten und haben ist, dass wir alle gebürtige Wiener sind. Und obwohl alle von uns schreckliche Erinnerungen an die Vergangenheit haben, so haben wir doch große Hoffnungen für die Zukunft.

Ich kann nicht vergessen, dass meine lieben Eltern und meine liebe Schwester rücksichtslos ermordet wurden, nur weil sie Juden waren. Und ich kann nicht vergeben. Aber solange es Schüler und junge Menschen wie Euch gibt, habe ich die Hoffnung, dass solch eine Tragödie nicht wieder passieren kann. Auch meine Liebe für die Stadt, in der ich geboren wurde, habe ich nicht verloren. Es war eine wunderschöne Erfahrung, den Ort zu besuchen, an dem ich vor 70 Jahren gelebt hatte. Und es war ein reines Vergnügen, vor den Kindern der Volksschule Perchtoldsdorf zu sprechen, die Direktorin und die Lehrerinnen kennen zu lernen.

23. Mai 08. Ein Highlight meiner Reise war für mich der Besuch meiner früheren Wohnung in der Buchengasse 84. Wir konnten zwar nicht in die Wohnung Nr. 15, aber der Nachbar hat mich und Simon, der meinen Besuch filmisch dokumentiert hat, zu sich eingeladen. Als ich in der Wohnung neben unserer früheren Wohnung gewesen bin, war ich erstaunt, wie modern sie aussah. Nicht so wie damals, als sowohl das Wasser als auch die Toiletten am Gang waren. Ich habe mich plötzlich wieder wie ein kleiner Bub gefühlt. Was für bittere und zugleich süße Erinnerungen! Wir haben auch den Arthaber-Park besucht, wo ich gespielt habe und meine liebe Mutter auf mich aufgepasst hat. Ich habe dort auch meinen 10. Geburtstag gefeiert. In ein paar Wochen, am 12. Juli, werde ich wieder Geburtstag feiern – diesmal meinen 80. Geburtstag.

In der ›Kristallnacht‹ wurde mein Vater aus dem Bett geholt, ich habe ihn danach nie wieder gesehen. Als er aus dem Arbeitslager in Sachsen nach Hause zurückgekommen ist, war ich bereits in England. Meine Eltern und meine geliebte Schwester Adele sind bei Mali Trostinec gemeinsam in den Tod gegangen.

Ich versuche, fröhlich zu wirken. Aber tief in meinem Inneren trauere ich noch immer über die Ermordung meiner Familie und die von sechs Millionen meines Volkes. Wie auch immer, nicht alles ist verloren. Solange es Menschen wie Euch gibt, gibt es auch Hoffnung. Nochmals vielen Dank für alles. Trotz allem: ›Ein Stückerl von mein Herz liegt immer noch in Wien‹.

19. Juni 08. Als Tourist-Guide haben mich meine Reisen immer wieder auch nach Österreich geführt. Der Höhepunkt für mich war, wenn das Programm auch einen Besuch in Wien beinhaltet hat. Meine jüngste Reise im Rahmen von ›A Letter To The Stars‹ war vollkommen anders. Diese Reise werde ich nie vergessen. Dieses Mal war ich Gast. Von der Ankunft am Flughafen an waren wir willkommen und sogar ›wichtig‹. Einige der eingeladenen Gäste waren zuvor niemals wieder in Wien gewesen, seit sie vor so vielen Jahren vertrieben und hinausgeschmissen worden waren. Und obwohl ich selbst einige Male in meinem Beruf hier gewesen bin, so habe ich mich diesmal wirklich ›zu Hause‹ gefühlt.

Zudem gab es einige spirituelle Veranstaltungen, die für mich als praktizierenden Juden sehr wichtig waren. Es war schön, am Gottesdienst im Stadttempel, der Synagoge in der Seitenstettengasse, teilzunehmen. Im Chabad-Zentrum, wo wir danach zum Essen eingeladen waren,
kamen mir beinahe die Tränen, als der ›Rebbe‹ und sein Sohn uns ermutigten, gemeinsam so laut wie möglich die traditionellen hebräischen und jiddischen Lieder zu singen, die wir als Kinder gelernt hatten. Hier dachte ich mit großem Stolz, das ›jüdische Wien‹ lebt wieder. Wie schön!

An einem Abend in der Hotellounge hatten wir die Möglichkeit, unsere Gedanken und Erfahrungen auszutauschen. Ich habe eine Reihe neuer
Freunde gewonnen und wurde sogar in verschiedene Länder eingeladen. Wir haben diskutiert, ob wir vergessen und vergeben könnten. Vergessen? Niemals! Vergeben? Vielleicht!

Die Hoffnung liegt in der Jugend. Sie müssen darauf achten, dass die Verbrechen der Vergangenheit sich nicht wiederholen. Hier, in der jüdischen Gemeinde von England, können viele nicht verstehen, warum ich Österreich und im speziellen Wien noch immer gerne besuche. ›Nach all dem, was sie uns und deiner Familie angetan haben.‹ Manchmal fühle ich mich dann fast schuldig. Ich werde demnächst meinen 80. Geburtstag feiern. Ich bin eindeutig zu alt, um mich noch zu ändern. ›lch bin noch immer ein Wiener‹, aber ich werde England immer dankbar sein, dass es mir geholfen hat, als ich Hilfe brauchte. Danke für alles.

Home > Die Letzten Zeugen > Otto Deutsch