Die letzten Zeugen - Das Buc

VIKTOR ANTSCHERL


 
 

VIKTOR
ANTSCHERL

(verstorben)
lebte zuletzt in Großbritannien


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Viktor Antscherl versuchte in den 60er-Jahren möglichst viele der verschollenen Grabsteine des jüdischen Friedhofs in Ybbs zu retten. SchülerInnen des HLWBLA Wieselburg haben seinen Neffen Fred Antscherl getroffen und die Geschichte seines Onkels recherchiert.

Ein Mann rettete meinen Onkel – aus Menschenfreundlichkeit

Fred Antscherl ist in Scheibbs im Mostviertel aufgewachsen. Sein Onkel Viktor Antscherl hat einen abenteuerlichen Fluchtbericht hinterlassen und versuchte in den 60er-Jahren möglichst viele der verschollenen Grabsteine des jüdischen Friedhofs in Ybbs zu retten.

Eines schönen Schultages bekam unsere Schule einen Anruf von Fred Antscherl, der von seinem Londoner Wohnsitz aus regelmäßig in seine alte Heimat Scheibbs kommt, wo er von unserem Projekt gehört hatte. Er lud uns zu einem Besuch ein und gab Einblick in die Geschichte seiner Familie, zeigte viele Fotos und versprach, beim nächsten Besuch in Scheibbs aus London noch mehr Bilder, Dokumente usw. mitzubringen. Wir ordneten die Personen auf den vielen Familienbildern unserem Stammbaumentwurf zu und bekamen bald einen guten Überblick. Dann luden wir Fred und Susan Antscherl zu uns in die Schule ein, zeigten ihnen unsere Projektausstellung, nahmen einen offiziellen Besuchstermin beim Bürgermeister von Scheibbs wahr und besuchten gemeinsam den Jüdischen Friedhof in Ybbs.

Dort erfuhren wir von Fred Antscherl, dass sein Onkel Viktor Antscherl (siehe Bild links) in den 60er-Jahren veranlasst hatte, die zum damaligen Zeitpunkt verschollenen Grabsteine – der gesamte Friedhof war nach der Pogromnacht 1938 ausgeräumt, die Grabsteine Steinmetzen zum Wiederverkauf überlassen worden – wieder ausfindig zu machen und wiederaufzustellen. Da ein Großteil der Grabsteine nicht mehr auffindbar und der Standort der übrigen nicht mehr bekannt war, hatte man sich im Einvernehmen mit der IKG Wien entschlossen, die Grabsteine Rücken an Rücken auf ein Betonfundament im ehemaligen Mittelgang des Friedhofes zu stellen. Dieser gemeinsame Besuch auf dem Friedhof, auf dem wir bereits einen Großteil der vorhandenen Steine gereinigt und deren Inschriften fachgerecht erneuert hatten, hinterließ einen bleibenden Eindruck.

Fred Antscherl schrieb über seine Eindrücke: „I am writing to express my thanks to your students for the excellent way you are carrying out your project to renovate the cemetery at Ybbs, and to research the fate of the Jewish families from the Mostviertel. My particular gratitude to you all for restoring my grandfather’s grave. My wife and I enjoyed visiting your school, and meeting Marietta. Our thanks for organizing the whole day, and all that it represents.“

Zu den vielen Bildern und erzählten Einzelheiten kamen noch zwei für uns besonders beeindruckende Dokumente zur Geschichte der Familie Antscherl. Beim Besuch im Stadtarchiv wurde uns ein Fluchtbericht gezeigt, den Viktor Antscherl nach dem Krieg verfasst hat. Darin schildert er seine abenteuerliche Flucht aus dem Gemeindekotter von Scheibbs durch ganz Österreich bis in die Schweiz, die er schließlich im November 1938 – durch den Rheinfluss schwimmend – erreichte. Auch das zweite Dokument ist einmalig. Fred Antscherls Mutter, Beate Antscherl, die erst nach ihrer Emigration in England Englisch lernte, schrieb auf Englisch die „Antscherlsaga“, in der sie das Schicksal ihrer Familie beschreibt. Daraus entnehmen wir Abschnitte über den Alltags-Antisemitismus im Anschlussjahr in Scheibbs und über die Deportation ihrer Verwandten aus Brünn.

Aus Viktor Antscherls Fluchtbericht: „Cirka Anfang August 1938 hatte ich alle Vorbereitungen der Übersiedlung der Familie meines unglücklichen Bruders, der in Dachau interniert war, fertiggestellt, der Möbelwagen war bereits bestellt und die Frau und die zwei Buben auf Schleichwegen mit tschechischen Pässen nach Brünn gebracht worden.“ Da wurde Viktor Antscherl unter dem Vorwand der Vermögensverschiebung verhaftet. Drei Wochen später sollte sein Fall nach St. Pölten verlegt werden, sodass er seinen Fluchtplan unmittelbar in die Tat umsetzen musste.

„Nun war keine Zeit mehr zu verlieren und die Flucht musste morgen stattfinden ... Ich konnte es fast nicht erwarten, bis es 5 Uhr war, der Zeitpunkt, wo ich wusste, dass Schlosser (mein Bewacher) ins Wirtshaus ging zum oberen Traunfellner und ich keiner Überraschung Gefahr lief. Die Kirchenuhr schlug 5 Uhr. Ich war bereits angezogen, das heißt Mantel und Hut sowie eine Aktentasche in der Hand und rasch die zwei Bänke in die Ecke des Hofes gestellt, die ich gewählt hatte zur Überkletterung der Mauer, eine auf die andere und nun hinauf und mit einem tüchtigen Schwung erfasste ich gerade die Kante der Mauer, ein Klimmzug und ich war oben. Noch ein Blick zurück und hinauf zu den Fenstern der Steuerbehörde, aber schon war ich mit einem Satz in Richtung des Baumes gesprungen, dämpfte den hohen Sprung hinunter beim Abreißen eines Astes (dem der Bezirkshauptmann sicherlich nachweinte, es war ein schöner Spalierbirnbaum) ... Müde gelangte ich um ca. 4 Uhr morgens nach Kemmelbach, ich war bereits 11 Stunden auf den Beinen über Stock und Stein und kam nun zur Donauüberfuhr in Ybbs a.D. Hier hatte ich zu warten, bis die erste Fähre, das war 5 Uhr morgens, die Fahrt über die Donau machte. Niemand war dort, aber knapp vor der Überfuhr kam ein uniformierter SA-Mann mit einer Fahne, um nach Krems zu fahren. Wir waren die einzigen zwei Passagiere ...“

Auf Umwegen kam Viktor Antscherl über Wien und Salzburg nach Innsbruck. „... wo gerade ein großer Wirbel war, der Gottsoberste Herr Baldur von Schirach hielt eine Hitler-Jugendversammlung ab, alles war mit Hakenkreuzfahnen etc. dekoriert, tausende von Braunhemden belebten die Straßen, die SS hielt Polizeidienst. Frech trat ich an einen SS-Mann heran und ersuchte ihn, mir eine Gasthausadresse zu geben, wo ich ruhig und billig schlafen könnte. Es stellte sich heraus, dass dieser nun große Herr einst Hausknecht in einem Hotel war und er gab mir einen Zettel, der mich als Parteigenosse mit spezieller Behandlung empfahl ...“

Über Bludenz gelangte Viktor Antscherl schließlich nach Höchst. Dort suchte er seinen entscheidenden Fluchthelfer auf. „Der Mann hatte ein Mechanikergeschäft und war außerdem ein fanatischer Sozialist, der aus Begeisterung und Menschenfreundlichkeit viele hunderte Menschen rettete, was ich später in der Schweiz erfuhr ... Abends kam der Mann und begrüßte mich herzlichst. Ich erzählte ihm mein Leid und er sagte, er würde mich morgen abends hinüberbringen über den Rheinfluss ... Wir marschierten los an die Stelle, wo der Rheinfluss wohl tief und weit ist, aber nicht so stark bewacht ... Wir warteten bis 12 Uhr nachts und dann sagte er: Jetzt oder nie. Also hinunter zum Fluss und durch die Brücke, die durch das Überschwemmungsgebiet stand ... Es war bereits bitter kalt und nicht besonders verlockend, ins Wasser zu gehen, noch dazu bei ziemlich starkem Wassergang. Doch es blieb nichts übrig, herunter mit den Kleidern, diese am Kopf in ein Bündel und hinein ins Wasser. Es war leichter, als ich dachte. Wir kamen zwar mehrere hundert Meter stromabwärts, aber wir erreichten das Schweizer Ufer ...“

Beate Antscherl, Fred Antscherls Mutter, schreibt in der „Antscherlsaga“ über ihre schreckliche Erlebnisse beim „Anschluss“: „People began to be hostile to us, they ignored our shop, indeed it was ‚verboten’ for them to come in to buy. It was not allowed to keep my two girls in my household, jewish people were not allowed to have arian servants. One time a youth pushed me from the pavement without to apologize. Poor little Fred had to leave school ... One night I was really scared, four men knocked at the door at midnight demanding money and took everything they wanted from the shop. They emptied the safe and took everything from it. They took also our car, typewriter etc. But the worst has to come. One day they came to arrest my husband ...“

Nachdem Beate Antscherl mit ihren zwei Söhnen über Brünn und Zürich endlich nach England einreisen konnte, sorgte sie sich um das Leben Ihrer Verwandten in Brünn. Ihrer „Saga“ liegt der folgende Zettel bei: „Mein Vater Friedrich Schuller, meine Mutter Therese Schuller, Bruder Otto Schuller, sind am jüdischen Friedhof Brünn begraben. Mein Bruder James Schuller, seine Frau Jessy und deren Kinder Thomas und Edith. Meine Schwester Henriette Hoffmann und ihr Mann Armin und deren Kinder Susi und Fritz, meine Schwester Della Spitz und ihr Mann Otto (keine Kinder). Meine Schwester Hedwig Kaiser und ihr Mann Walli und deren Sohn Paul : Trotz vieler Nachfragen haben wir nie wieder etwas von ihnen gehört, sie wurden alle von Brünn deportiert, in verschiedene Lager gebracht und dort durch die Nazis umgebracht. Sie waren alle gute Menschen und haben nicht das traurige Schicksal verdient. Ich bin die einzige Überlebende und habe und will sie nie vergessen. Morgen ist Jom Kippur und ich will für sie beten, Beate.“

SchülerInnen des HLWBLA Wieselburg, 2005


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