ILSE CRANMER(früher Salzer)geb. 1926-08-03 lebt heute in Großbritannien Ermordete Verwandte |
|
Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.
Birgit Westreicher, Schülerin des BG/BORG Landeck in Tirol, hat im Mai 2008 Ilse Cranmer eingeladen, im Projekt »38/08« nach Österreich zu kommen. Sie hat die Lebensgeschichte von Ilse Cranmer aufgezeichnet.
Ilse Cranmer wird 1926 in Baden bei Wien geboren. Nach dem Anschluss werden sie aus ihrer Wohnung geschmissen, der Vater verliert sein Geschäft. Der Bruder flüchtet nach Shanghai, Ilse Cranmer kann 1939 auf einem Kindertransport nach England entkommen, wo sie von einer Pflegefamilie aufgenommen wird. Der Vater stirbt an Typhus, das Schicksal der Mutter ist bis heute ungeklärt. Ilse Cranmer verliebt sich in einen britischen Luftwaffe-Soldaten und gründet nach dem Krieg mit ihm eine Familie in England.
Mit 13 Jahren ein Abschied für immer
Ilse Cranmer wurde nach England »verschickt«, ihr Bruder nach Shanghai. Ihre Eltern hat sie nie mehr wieder gesehen.
Ilse Cranmer ist eine äußerst bemerkenswerte Frau, und ich hatte das Glück, sie durch »A Letter To The Stars« kennen zu lernen.Heute wohnt sie in der Nähe von Eastbourne, einer Stadt an der Südküste Englands. Das war für mich auch der Grund, warum ich gerade mit Ilse Kontakt aufnehmen wollte. In der dritten Klasse Hauptschule habe ich mit meiner Klasse Eastbourne im Zuge einer Sprachreise kennen und lieben gelernt. Darum wusste ich sofort, als ich sah, dass Ilse dort wohnt, dass ich ihr gerne schreiben möchte.
Ilse kam am 3. August 1926 in Baden bei Wien auf die Welt. Ihre Eltern hießen Hugo und Theresia Salzer, ihr Bruder Ludwig. Ihre Familie lebte bis zu ihrer Flucht in Wien. Als Ilse 11 Jahre alt war, wurden sie gezwungen, zu ihrem Onkel in die Taborstraße zu ziehen. Das war eine große Umstellung, denn die bisherige Wohnung in der Mariahilfer Straße war groß, hell und lag in der Mitte einer Einkaufsstraße, während die andere Wohnung klein war und in einer schlechteren Gegend von Wien lag. Ihr liebster Ort in Wien war der Prater. Doch bei einem Besuch in Wien mit ihrem Mann Tom musste sie feststellen, dass sich alles verändert hatte. Nur das Riesenrad war gleich geblieben.
Nach dem Anschluss musste Ilse auch wie alle anderen Juden auch den Davidstern tragen. Sie durfte nicht mehr ins Kino gehen. Ihrem Vater wurde sein Geschäft weggenommen und er musste Straßenarbeiten und ähnliches verrichten. Im Juni 1939 verließ Ilse Wien. Mit dem Kindertransport kam sie nach England. Ihr Bruder Ludwig war schon ein Jahr zuvor nach Shanghai geflüchtet, weil dafür kein Visum benötigt wurde. Mit noch nicht einmal 13 Jahren musste Ilse sich von ihren Eltern verabschieden – für immer, wie sich später herausstellen sollte. Doch damals glaubte sie noch fest daran, dass sie ihre Eltern wieder sehen würde. Ihre Eltern hatten ihr versprochen, dass ihre Mutter bald nach England nachkommen und ihr Vater nach Amerika gehen würde, damit sie dort alle wieder zusammen sein konnten. Sie glaubte ihnen jedes Wort, denn der Gedanke, dass es nicht so sein würde, war einfach unvorstellbar. Erst später, als sie selbst Kinder hatte, wurde ihr bewusst, wie schwer es für ihre Eltern gewesen sein musste, sie gehen zu lassen. Das eigene Kind in die Welt hinaus ziehen zu lassen und nicht zu wissen, was mit ihm oder mit einem selbst passieren würde – es muss ein gewaltiges Opfer gewesen sein. Doch daran dachte Ilse damals nicht. Für sie war alles einfach ein riesiges Abenteuer. Zum Abschied schenkte ihre Mutter ihr ein Armband mit einem Anhänger. Sie nähte es in das Futter des Mantels, den Ilse auf der Reise tragen sollte. Heute ist es eine sehr wertvolle Erinnerung für Ilse und mittlerweile hat sie ungefähr zwanzig weitere Anhänger hinzugefügt. In ihrem Testament hat Ilse das Armband ihrer Tochter Penny vermacht, die es später einmal Ilses Enkelin vererben wird. An die Reise selbst erinnert sie sich kaum. Sie erinnert sich nur noch an die Fahrt durch Holland und dass sie überrascht war, dass die Menschen nicht alle Holzschuhe getragen haben und dass es keine Windmühlen gab.
Am 23. Juni 1939 kam sie schließlich in London an. Dort saß sie in einer riesigen Halle mit all den anderen Kindern und wartete darauf, dass jemand sie abholen würde. Sie erinnert sich daran, dass sie sehr lange warten musste, bis ein Mann und eine Frau zu ihr kamen und sich als Mr. und Mrs. Levy vorstellten und ihr erklärten, sie würde von nun an bei ihnen leben. Ilse lebte gerne bei ihnen und war sehr glücklich dort. Ihre Cousine, die schon vor ihr in England gewesen war, hatte sie gefunden und Ilse beschreibt sie als »very nice people«. Nachdem Mr. und Mrs. Levy sie abgeholt hatten, gingen sie in ein Restaurant, um etwas zu essen. Danach fuhren sie »in a lovely car« nach Brighton (»Half way there I was very sick!«), wo sie während der Kriegsjahre lebten.
Als der Krieg ausbrach war es für Ilse so gut wie unmöglich geworden, ihren Eltern zu schreiben und auch diese konnten Ilse nun kaum mehr erreichen. Ab und zu konnten sie sich kurze Nachrichten, die nicht mehr als 25 Wörter beinhalten durften, durch das Rote Kreuz schicken, aber mehr als das war nicht möglich. Nur ihr Bruder hörte öfters von ihnen.
Doch dann wurden ihre Eltern nach Polen deportiert. Ihr Vater starb an Typhus. Was mit ihrer Mutter geschah, konnten sie nie heraus finden.
Zu Beginn sprach Ilse noch kein Englisch, doch sie holte sehr schnell auf. Und auch sonst genoss sie die Zeit des Lernens in der Schule. Sie lernte dort viele Freunde kennen und war eine ziemlich gute Schülerin. An ihre Schulzeit in Wien erinnert sie sich nicht. Aber sie besitzt ein Foto, das sie und ihre Klasse zeigt. »So I must have been there«, sagt sie heute mit einem Schmunzeln im Gesicht. Mit 16 besuchte Ilse einen Abendkurs, um Maschinschreiben, Buchhaltung und Stenografie zu lernen. Als sie die Schule verließ, bekam sie einen Job in einem Versicherungsbüro. Dort lernte sie wieder neue Freunde kennen, mit denen sie an den Abenden ausging. Sie gingen tanzen, denn in Brighton waren viele Flieger verschiedenster Nationen stationiert, sodass sie viel Spaß hatten oder sie gingen ins Kino oder Rollschuhlaufen. An den Abenden arbeitete sie freiwillig in einer kanadischen Kantine.
Während des Krieges gab es mehrere Luftangriffe auf Brighton und Ilse beobachtete viele »dog fights« – die Begegnung zweier feindlicher Flugzeuge mit der Absicht, den anderen zu zerstören – am Himmel über dem Meer. Das war auch der Grund, warum sie nicht ins Wasser gehen konnte. Es wäre wegen der Minen zu gefährlich gewesen.
Mit 17 trat Ilse dem »Women`s Junior Aircorps« bei. Sie trafen sich immer in einer Schule in Brighton und eines Tages kam ein Fotograf, um die Mädchen in ihrer Uniform für die lokale Zeitung zu fotografieren. Ihr späterer Mann Tom machte damals zu dieser Zeit gerade seine Ausbildung zum Funker bei der Royal Air Force und seine Mutter schickte ihm die Zeitung jede Woche. Als die jungen Männer das Foto der Mädchen sahen, schrieben sie der Zeitung, dass sie den Mädchen gerne schreiben würden. Sie nannten sich »12 lonely Airmen« und jeder schrieb einen Brief. Als die Mädchen ihre Briefe bekamen, zog jede einen Brief aus einem Hut – Ilse zog Toms Brief. Alle Mädchen schrieben
»ihrem« Airman, aber Ilse und Tom waren die einzigen, die weiter in Kontakt blieben. Sie schrieben sich zwei Jahre lang. Tom war die ganze Zeit im Ausland und irgendwann schrieben sie sich einen Brief pro Tag. Sie sahen sich nie, bis der Krieg vorbei war.
Dann trafen sie sich zum ersten Mal unter der Uhr im Bahnhof in Brighton. Sie verlobten sich, Ilse lernte Toms Eltern kennen und am 8. Oktober 1946 heiratete Ilse ihren »lonely Airman«.
Nach ihrer Hochzeit zog Ilse in die Nähe von Ipswich in East Suffolk, Toms Zuhause. Nachdem Tom die Royal Air Force verlassen hatte, ging er zur Police Force. Nach einem Jahr kam ihr Sohn Graham zur Welt und 22 Monate später folgte ihre Tochter Penelope, kurz Penny. Nach 14 Jahren in Suffolk beschlossen die beiden, dass sie gerne wieder in Sussex wohnen würden. Tom wechselte zur Sussex Police Force und Ilse lebte einige Jahre in Bexhill, bevor sie vor Toms Pensionierung nach Willingdon zogen, wo sie auch noch heute wohnen und das schon seit 22 Jahren.
Ihre Kinder Graham und Penny verstanden sich immer sehr gut, was, wie Ilse vermutet, an dem geringen Altersunterschied zwischen den beiden liegt. Penny war immer die frechere. Sie zögerte auch nicht und schrie einmal, wenn sie nicht ihren Willen durchsetzten konnte. Graham war immer ruhiger, auch wenn sich Ilse immer große Sorgen wegen ihm machen musste – sie hatte immer Angst, dass er mit seinem Motorrad einen Unfall haben könnte. Doch das war nicht die einzige Sorge, die sie wegen seinem Bike hatte. Er hatte auch die Angewohnheit es in der Küche in seine Einzelteile zu zerlegen. Seine Mutter war davon nicht so begeistert wie er. Penny hatte andere Hobbys. Sie ging zu Tanzstunden, tanzte Ballet und steppte. Ilse nähte all ihre Kostüme selbst und sie und Tom besuchten viele Aufführungen, um ihre Tochter auf der Bühne zu sehen.
Heute sind Graham und Penny verheiratet. Grahams Frau heißt Carol und ihre Kinder heißen Sara und Simon. Sie leben heute in Portsmouth, etwa 70 Meilen von Willingdon entfernt. Penny ist mit Graham verheiratet (Ilse denkt, »two Grahams in the family is a bit confusing«), dessen Sohn aus erster Ehe heißt Gregory und sie leben nur 5 Meilen von Ilse und Tom entfernt, in Hailsham. Ilse beschreibt ihre Familie als »very close family« und sie treffen sich oft zu Geburtstagen und auch bei jeder anderen Gelegenheit, die sich ihnen bietet. Ihr Bruder Ludwig lebte mit seiner Frau und ihren drei Kindern in San Francisco. Er starb vor einigen Jahren, doch zu seinen Lebzeiten besuchten sich die Geschwister regelmäßig gegenseitig.
Heute ist Ilse immer noch eine sehr aktive Frau. Sie und Tom haben während ihrer langjährigen Ehe Geld gespart, mit dem sie heute viel in andere Länder reisen. Sie waren in Malaysia, um ihre Enkelin zu besuchen, die dort fünf Jahre gelebt hat, in China, wo sie auf der Chinesischen Mauer spazieren gingen, in Südafrika auf Safari und in Borneo. Ein anderes Reiseziel war Amerika, um ihren Bruder und seine Familie zu besuchen und Kanada. Sie waren auf Teneriffa, auf Malta, in Spanien und Portugal. Sie reisten durch den Panama-Kanal und den Suez-Kanal. Zu Hause haben sie einen großen Garten, der sie sehr beschäftigt. Ilse sieht nach den Blumen und Tom nach dem Gemüsegarten. Dreimal die Woche gehen sie in die Turnhalle, um dort zu trainieren und zu schwimmen und einmal die Woche geht Ilse auch zum Yoga. So sind sie sehr beschäftigt und genießen, was sie tun.
Seit ihrer Vertreibung und Flucht war Ilse drei Mal in Wien. Einmal mit Tom, doch damals konnte sie Wien nicht schnell genug wieder verlassen. Das zweite Mal nahmen sie ihre Tochter Penny mit, um ihr zu zeigen, wo Ilse gelebt hatte und wo sie herkam. Aber auch auf dieser Reise war sie nicht sehr glücklich. Erst als sie im Mai 2008 im Zuge des Einladungsprojektes von »A Letter To The Stars« Wien ein drittes Mal besuchte, fühlte sie sich wirklich wohl und glücklich in ihrer ehemaligen Heimatstadt.
Der »wunderbare Empfang« und die gesamte Veranstaltung haben Ilse und Tom sehr berührt. Das war auch das erste Mal, dass ich die beiden getroffen habe. Zusammen mit unserem Geschichteprofessor fuhren meine Klasse und ich mit dem Nachtzug nach Wien, um die Gedenkveranstaltung am Heldenplatz zu besuchen. Ich war die ganze Zeit sehr gespannt und wartete auf das Ende, denn dann würde ich Ilse und Tom das erste Mal begegnen. Am Ende sollten ein anderes Mädchen aus meiner Klasse und ich die beiden von ihren Plätzen abholen. Ich ging voraus und wir schoben uns durch die Menschenmenge, bis wir endlich an der Reihe 5 angelangt waren, wo Ilse und Tom schon auf uns warteten. Wir gingen durch die Reihe 6 und dann sah ich sie: sie saßen direkt vor uns. Die Begrüßung hätte nicht herzlicher sein können, wenn wir uns schon seit Jahren gekannt hätten. Wir umarmten uns und wir waren sehr glücklich, uns nach dem fast einjährigen Briefwechsel endlich auch einmal persönlich zu treffen.
Wir gingen zusammen zu unserer Klasse zurück und anschließend zum »Denk.Mal« für Ilses Familie. Es war ein sehr emotionaler Moment, als Ilse die Namen ihrer Eltern auf der Gedenktafel geschrieben sah. Doch wir mussten uns bald wieder verabschieden, denn der Zug nach Hause wartete schon auf uns. Am nächsten Tag dann sollten Ilse und Tom in Landeck ankommen. Ich holte sie vom Bahnhof ab und brachte sie in ihr Hotel, das nicht weit von meiner Schule entfernt war. Für den Abend hatte meine Klasse die beiden auch zum Abendessen im Hotel eingeladen, was sie sehr freute. Am nächsten Tag holte ich sie dann vom Hotel ab und wir gingen zusammen in meine Schule. Dort erzählten sie uns etwas über ihr Leben, wir stellten ihnen Fragen und sie zeigten uns auch Fotos. Alle in meiner Klasse waren sehr beeindruckt und als die Zeit um war, hätte sich jeder gewünscht, dass es noch ein bisschen länger gedauert hätte.
Für den Nachmittag hatten das Land Tirol und der Historiker Horst Schreiber uns – Ilse, Tom, andere Zeitzeugen und mich – zu einem Synagogenbesuch mit anschließendem Abendessen eingeladen. Ilse, Tom und ich fuhren zusammen mit dem Zug nach Innsbruck und gemeinsam sahen wir uns Innsbruck an. Anschließend setzten wir uns in der Altstadt in ein Café. Wir unterhielten uns und ich hatte das Gefühl, die beiden schon mein ganzes Leben zu kennen. Es war ein ganz besonderer Nachmittag für mich. Um 17 Uhr gingen wir in die Synagoge in der Sillgasse. Danach führte uns die 8B-Klasse des Franziskaner-Gymnasiums Hall unter der Leitung von Prof. Hermann Freudenschuss ihr Theaterstück »Erinnern statt Entschuldigen« auf. Es war ein sehr bewegendes Stück und ich denke, dass es allen Anwesenden auch sehr gut gefallen hat, insbesondere Ludwig und Melitta Andermann, auf deren Erzählungen es basiert. Nach dieser Theateraufführung gingen wir ins Restaurant Goldener Adler in der Innsbrucker Altstadt, wo wir zum Abendessen eingeladen waren. Dann hieß es auch schon wieder Abschied nehmen. Zusammen fuhren wir noch im Zug zurück nach Landeck und meine Mutter und ich fuhren sie in ihr Hotel, von wo aus sie am nächsten Tag die Heimreise antreten würden. Diese drei Tage gehören zu den eindrucks-vollsten meines Lebens und ich bin sehr glücklich, dass ich die Gelegenheit hatte, zwei so wundervolle Menschen zu treffen.
Ich hoffe, dass ich sie auch einmal in England besuchen kann, denn mittlerweile sind mir Ilse und Tom zwei gute Freunde geworden. Ich bin sehr froh, dass ich sie durch »A Letter To The Stars« kennen gelernt habe. Immer wenn ich einen Brief aus England auf unserem Tisch liegen sehe, kann ich es kaum erwarten, ihn zu lesen, und ich hoffe, dass ich noch viele lesen werde, denn Ilses und Toms Freundschaft und ihre Briefe sind etwas, das ich in meinem Leben nicht missen möchte. Ich denke, dass das zeigt, dass nichts einer Freundschaft im Wege steht, keine Staatsgrenzen, Meere, Religionen, das Alter oder sonstige Unterschiede. Freundschaft steht über solchen Dingen, so lange es nur Menschen gibt, die bereit sind, diese Grenzen zu überschreiten, zu überwinden und über sie hinweg zu sehen.