HELEN DUNN(früher Hella Melita Wolf)geb. 1929-11-07 (verstorben 4/2014) lebte zuletzt in den USA |
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Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.
Gregor Glawanowitz, Schüler des Stiftsgymnasiums Admont in der Steiermark, ist im Projekt »Botschafter der Erinnerung« im April 2007 in New York Helen Dunn begegnet und hat ihre Lebensgeschichte dokumentiert. Im Projekt »38/08« war Helen Dunn im Mai 2008 zu Gast bei Lehrer Thomas Schrei an der Praxishauptschule Mayerweckstraße in Wien.
Helen Dunn wird 1929 als Hella Wolf in Wien geboren. Nach der Scheidung der Eltern kommt sie als Zweijährige zu ihren Groß-
eltern in die Tschechoslowakei. Nach der Besetzung durch die Nazis erlebt Helen Dunn die Verfolgung, die auch zu zahllosen Selbstmorden führt. Im Alter von 9 Jahren kann sie, ihre Familie und ihren Jugendfreund zurück lassend, nach Amerika fliehen, wo sie ein neues Leben beginnt.
Auf dem Schiff "Bremen" in die Freiheit.
Helen Dunn musste als 9-jähriges Mädchen Hella Wolf alleine in die USA emigrieren. 70 Jahre später stand sie am Heldenplatz.
Bei meinem New York-Aufenthalt hatte ich die Ehre, mehr über die traurige Vergangenheit von Helen Dunn zu erfahren. Ich traf Helen das erste Mal im »Jewish Heritage Museum« und mein erster Eindruck von ihr war richtig, denn Helen ist eine sehr freundliche, nette ältere Dame, die wirklich sehr daran interessiert war, mir ihre Vergangenheit zu schildern. Bei unseren Begegnungen waren wir gemeinsam mit ihrem Ehemann in der Oper und anschließend berichtete sie mir in ihrem wunderschönen Apartment, mit traumhaften Ausblick aus dem 68. Stockwerk, von ihren Erinnerungen.Helen Dunn kam am 7. November 1929 unter dem Namen Hella Wolf in Wien zur Welt. Ihre noch sehr junge Eltern trennten sich, als Helen zwei Jahre alt war, und ihr Vater bekam das Fürsorgerecht. Da ihr Vater die politische Situation in Österreich bereits 1932 zu unsicher empfand, schickte er Helen zu ihren Großeltern in die damalige Tschechoslowakei. Er blieb währenddessen in Wien und besuchte sie alle vierzehn Tage. Aufgrund ihres jungen Alters hat sie kaum noch Erinnerungen an Wien, wenngleich ihr Vater ihr oft von »dieser wunderschönen Stadt« erzählte.
Helen wohnte zu dieser Zeit mit ihren jüdischen Verwandten in einer typischen, ruhigen tschechischen Stadt in Mähren. Ihre Großeltern waren wohlhabend und in die Gesellschaft integriert. Sie hatte ein deutsches Kindermädchen namens Teta. Die Familie besaß ein dreistöckiges Haus, welches im Stadtzentrum gelegen war. Die unteren zwei Stockwerke waren vermietet, im obersten war das Sechs-Zimmer-Apartment, in dem Helen ihre Jugend verbrachte.
Ihr Großvater und ihr Onkel besaßen eine riesige Textilhandlung, welche, wie auch die Synagoge, in der Nähe ihres Hauses lag. Bis zum Jahre 1939 hat Helen nur positive Erinnerungen.
Ihr Großcousin war damals ihre erste große Liebe. Sein Name war Jindra. Oft fuhren die Familien gemeinsam in die Natur, wo die beiden gemeinsam spielten. Sie sammelten Schmetterlinge für Jindras Sammlung oder gingen in den Bächen baden. Helen besuchte damals die Volkschule und hatte viele Freunde und Spielkameraden. Auch bei den Erwachsenen galt sie als nettes, zuvorkommendes, hübsches Mädchen.
Mit glänzenden, strahlenden Augen erzählte mir Helen von ihrer Jugend. Diese Zeit empfindet sie heute noch als die glücklichste ihres Lebens. In einem Aufsatz, der am 14. April 1944 in der Zeitschrift »America Hebrew« veröffentlicht wurde, schrieb sie: »Life went on in a simple, wholesome way and these free people were at peace.« (Das Leben verlief in einem einfachen, gesunden Weg und diese freien Menschen lebten in Frieden.)
Mit fortschreitender Erzählung, wir waren beim Jahre 1938 angelangt, verfinsterte sich ihr Gesicht, ihre Stimme begann vor Emotionen leicht zu zittern. 1938 erfolgte der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Noch fühlten die Tschechen keine Bedrohung, da sie der Meinung waren, ihr Land sei viel zu klein, um okkupiert zu werden.
Bereits im November dieses Jahres verließ ihr Vater Österreich, um Exil in den USA zu suchen. Ursprünglich sollte Helen sofort mitkommen, doch ihr Großvater meinte, dass Helens Vater zuerst eine Existenz in Amerika aufbauen sollte. So blieb sie noch bei ihren Verwandten in Tschechien.
Schon als 9-Jährige musste sie erfahren, dass man Juden im Dritten Reich in Gefängnisse, sogenannte Konzentationslager, warf und das Wort »Freiheit« in Vergessenheit geriet. Doch auch jetzt verspürte das tschechische Volk noch keine Bedrohung.
»And yet March 15 came and went and with it a change – a change that I saw with my own eyes – and finally understood.« (Und der 15. März kam und ging und mit ihm kam eine Veränderung, eine Veränderung, die ich mit meinen eigenen Augen sah, und schließlich auch verstand.) Wie Helen mir diesen Satz aus ihrem Artikel vorlas, trat betretenes Schweigen ein.
Nun begann sie mir zu schildern, wie sich innerhalb eines Tages ihr Leben von Grund auf veränderte. Zuerst ahnte sie noch nichts von der Besetzung Tschechiens. Es war ein Tag wie jeder andere. Auf den Straßen war alles ruhig. Wie jeden Morgen lief sie in die Schule, doch auch hier herrschte Totenstille. Üblicherweise tobten die Schüler in ihren Klassen vor dem Eintreffen der Lehrkräfte, doch an diesem Tag war alles anders. Beim Betreten der Klasse saßen alle Kinder ruhig aber sichtlich erregt in ihren Sesseln. Sofort fragte sie eines der Mädchen nach dem Grund. Dieses deutete jedoch nur mit den Fingern zu einem kleinen Fenster in der Ecke. Schritt für Schritt näherte sich Helen diesem. Im tiefsten Inneren hatte sie bereits die Angst verspürt, dass dieser Tag nicht ausbleiben würde. Vom kleinen Fenster aus sah sie im Schulhof statt der tschechischen Nationalflagge die deutsche Hakenkreuzflagge. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Später erfuhr sie, dass Tschechien von Deutschland okkupiert geworden war. Ihre Stadt wurde von 300 deutschen Soldaten besetzt. »And with them came a group of Gestapo men with those awful black uniforms and the cruel looking eyes.« (Und mit ihnen kam eine Gruppe von Gestapo-Männern mit ihren schrecklichen schwarzen Uniformen und ihren grausam blickenden Augen.)
Die nächsten Monate vergingen langsam und schweigend. Die Straßen waren leer gefegt. Während ihr Vater bereits versuchte, ihre Ausreise nach Amerika zu arrangieren, musste sie viele traurige Dinge erleben. Die täglichen erscheinenden Todesanzeigen in den Zeitungen wurden immer länger. Als sie einmal mit ihren Freundinnen durch die Straßen der Stadt wanderte, sah sie die Blutlache eines Mannes, der es vorgezogen hatte, sich selbst zu töten, um sich nicht den Nazis unterwerfen zu müssen. Ein andermal, als Jindra und Helen zusammen spielten, bemerkten sie, dass Tomi, einer ihrer jüdischen Spielkameraden fehlte. Sie wanderten zur Wohnung seiner Eltern, die sie jedoch verlassen vorfanden. Auf der Eingangstür klebte ein Zettel mit der Aufschrift: »Umgezogen«. Später erfuhren sie von Jindras Vater, dass Tomis Vater in ein KZ gebracht worden war und die Familie ausziehen musste.
Auch heute musste ich bemerken, dass die damalige Situation Helen auch jetzt noch sehr traurig stimmte. Auch bei mir stellte sich ein Gefühl von Trauer und Wehmut ein. In weiterer Folge berichtete Helen, dass sie und ihre Großeltern Besuch von drei Gestapo-Männern erhalten hatten. Damals öffnete Helen die Tür und wurde sofort zu Boden geworfen. Nach einem lauten »Heil Hitler« durchsuchten sie die Wohnung nach verdächtigen Gegenständen.
Endlich, im August 1939, schaffte es ihr Vater, für sie ein Visum für die Ausreise aus der Tschechoslowakei zu bekommen. Helen fuhr mit ihrem Onkel Otto nach Prag, um dieses abzuholen. Nach zweitägiger Wartezeit erhielt sie die begehrten Papiere, um nach Amerika zu gelangen. Teta, ihre geliebtes Kindermädchen, sollte sie quer durch Deutschland nach Bremen begleiten, von wo Helen auf einem Schiff alleine weiter nach New York gelangen sollte.
Am 1. August verabschiedete sich von ihrer Familie und ihren Freunden am Bahnhof. Besonders traurig war der Abschied von ihrem geliebten Großvater und ihrer Jugendliebe Jindra.
»Not until today do I realize what wonderful people and perfect friends I left behind in that little town which used to be my home.« (Bis heute habe ich noch nicht realisiert, was für wunderbare Menschen und perfekte Freunde ich zurückgelassen habe in dieser kleinen Stadt, die mein Zuhause geworden war.)
Gemeinsam verließen Teta und Helen Tschechien. Prag war überfüllt von deutschen Soldaten und der gefürchteten Gestapo. Es gelang ihnen, den Zug nach Bremen zu nehmen. Helen erzählte mir, dass sie während der gesamten Zugreise bis Bremen keinen Laut herausbrachte. So groß war ihre Angst in dem von deutschen Soldaten und Gestapo-Leuten vollgestopften Zug. Am 3. August gelangten sie nach Bremen und bereits am 4. August legte Helens Schiff in die Freiheit ab. Weinend winkte sie vom Deck ihrer zurückgebliebenen, lieb gewonnenen Freundin Teta zu. Die Mitreisenden waren sehr freundlich und trösten sie immer wieder, wenn sie in Tränen ausbrach. Glücklich landete sie am 10. August in New York, wo sie von ihrem Vater liebevoll empfangen wurde.
In New York begann für sie ein neues, hartes Leben. Ihr Vater studierte damals noch Wirtschaft und hatte daher nur wenig Zeit für Helen. So musste Helen in ein Internat und konnte nur die Ferien gemeinsam mit ihrem Vater verbringen.
Helen erzählte mir, dass die Neue Welt sie sofort faszinierte. Alle Menschen waren sehr freundlich und zuvorkommend. Da ich diese Freundlichkeit der Menschen selbst erleben durfte, kann ich Helens Lage vollkommen nachvollziehen. 1944 schrieb sie für ihre Lehrerin einen Aufsatz, indem sie ihre Vergangenheit schilderte. Dieser wurde dann auch von ihrem Vater veröffentlicht.
Sehr berührt hat mich auch die Erzählung vom Schicksal ihrer in Tschechien zurückgebliebenen Familie. So starb ihre Großmutter kurz nach Helens Abreise. Ihr Großvater wurde verhaftet und ins KZ Theresienstadt gebracht, wo er kurze Zeit später ums Leben kam. Der einzige Überlebende war ihr Onkel Otto. Dieser wurde 1941 auch in Theresienstadt interniert und später nach Auschwitz verlegt. 1945 wurde er befreit. Mit 47 Kilo konnte er gerade noch lebend in ein amerikanisches Feldlazarett eingeliefert werden. Am 26. Mai 1945 schrieb er seinen Brief an seinen Bruder, beginnend mit den Worten: »Ich lebe, lebe – lebe!«
Nach all dem Gehörten bin ich Helen sehr dankbar, dass sie mich an ihrem Schicksal teilhaben ließ. Mich berührt es besonders, dass sie nach all ihren Schicksalsschlägen keinen Hass auf ihre alte Heimat und die heutige Jugend Österreichs empfindet.