Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.
Eine unvergessliche Woche in Wien
Lisa Leist de Seiden beschreibt ihre Eindrücke nach dem Besuch ihrer alten Heimat im Mai 2008.
Die Monate vor der Reise waren erfüllt von Zweifeln und Bedenken. Obwohl ich die freundliche Einladung angenommen hatte, gab es Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass ich doch lieber absagen sollte; und andere wiederum, in denen ich wusste, dass ich es mit Sicherheit bereuen würde, diese einzigartige Möglichkeit zu verabsäumen, mein Heimatland zu besuchen und gemeinsam mit der heutigen jungen Generation, die unbeteiligt an den Verfehlungen der Vergangenheit war, Wiedergutmachung zu leisten.
Dennoch verschob ich immer wieder die Planung darüber, was ich den sechzehnjährigen Jugendlichen der Sta. Christiana Schule sagen und wie ich sie erreichen würde. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie mich sehen würden: "Also so schaut eine alte, praehistorische jüdische Frau aus, die von einem fernen Ort gekommen ist, um uns zu versichern, dass auch sie einmal ein junges Mäderl war, das vor 70 Jahren aus 'ihrer' Schule in 'unserem' Wien hinausgeworfen wurde." Gruselig! Ich war mir nicht sicher, ob ich das tun wollte.
Aber einige Wochen vor der Reise begann ich doch zu überlegen. Ich verwarf die Idee eine Rede zu halten, noch weniger eine Predigt; genausowenig konnte ich Perlen der Weisheit aus meinem Ärmel schütteln. Daher enschloss ich mich für eine Art "Rollenspiel". Da ich die Namen aller Studierenden hatte (ich hatte für jede und jeden eine Karte mit getrockneten Blättern und Blumen gemacht), rief ich fünf oder sechs von ihnen auf und bat sie, mir etwas aus ihrem Alltag zu erzählen. Einfache Dinge. Zum Beispiel "Was wirst du heute nach der Schule machen?", "Sind einige deiner Mitschüler auch deine Freunde?", "Besucht ihr euch gegenseitig?", "Magst du deine Lehrerin?", "Wie hast du deinen letzten Geburtstag verbracht?", "Was wirst du nächsten Sonntag machen?" und so weiter.
Dann sagte ich ihnen, dass ich als Kind genau die gleichen Sachen gemacht habe und dass ich - um das Ganze noch schlimmer zu machen - mich daran erinnere, dass ich tatsächlich gerne in die Schule gegangen bin (einige merkwürdige Kinder tun das!) - und dann, eines Tages, ohne irgendeine Vorwarnung --- und an dieser Stelle bat ich eine der Schülerinnen zu mir zu kommen und mir zu helfen, den Moment nachzuspielen, in dem meine Lehrerin aus dem Nichts heraus mich eines Morgens daran hinderte in die Klasse zu gehen. Sie hielt mich in ihren Armen, und unter Tränen und mit nassen Wangen informierte sie mich darüber, dass ich die Schule verlassen musste und dass ich nie wieder zurückkehren durfte. Aber sie wollte mir nicht sagen warum. Erst später, zuhause, erklärte es mir meine Mutter: "Das ist so, weil wir Juden sind."
Dann erzählte ich den Kindern, dass ich tatsächlich nie wieder in meine Schule zurück gegangen bin oder irgendeinen meiner Mitschüler oder Lehrer wiedergesehen habe. Ich fuhr fort zu erklären, dass diese abrupte und gewaltsame Ende meiner Schulzeit eine Leere hinterlassen hat, die durch nichts jemals wieder gut zu machen war, bis zum heutigen Tag. Ich habe mit ihnen darüber gesprochen, dass sie sich immer wieder bewusst machen sollten, dass sie die Chance haben, ihr Leben mit ihren Freunden und der Familie leben zu können, eine wunderbare und keine plötzlich unterbrochene Kindheit zu haben und dass sie das "Privileg" feiern sollen, in einer so schönen Schule lernen zu können.
Ich glaube, dass das Rollenspiel und diese letzten Worte zu den meisten durchgedrungen sind. Jene, die sich selbst in die Lage des 9jährigen Mädchens, das ich damals war, versetzen konnten, waren möglicherweise bewegt. Ich erzählte den Schülern nichts von den wirklich hässlichen Erlebnissen, die ich in den letzten Monaten im Jahr 1938 in Wien erfahren musste, da ich weder die Stimmung trüben wollte noch, dass die Schüler sich unwohl fühlen müssen.
Nach dem Unterricht wurden wir von der Schule zum Mittagessen eingeladen und verbrachten den restlichen Nachmittag mit der wirklich reizenden Lehrerin Gertraud Weixlbaumer, die uns einige wundervolle Plätze in der Umgebung zeigte. Mein Enkelsohn Sebastian, 24 Jahre alt und mein Begleiter auf dieser Reise, und ich waren unglaublich beeindruckt von diesem Tag.
Ich könnte noch so Vieles über die acht Tage in Wien sagen. Über die verschiedenen Eindrücke und gemischten Gefühle, als ich meine frühere Wohnung zum ersten Mal nach 70 Jahre betrat, zum Beispiel. Ich errinerte mich kaum an die inneren Räume und konnte mein Schlafzimmer nicht mehr erkennen. Bloß der Blick aus dem Fenster, der leichte Abhang von der Straße bis sie nicht mehr sichtbar um die Ecke verschwindet, meiner Mutter auf den Knien rutschend die Straße schrubbend, dass Gelächter der Männer um uns, ... Schmezthafte Erinnerungen hängen fest im Gehirn, leider. Familie Wolm, die früheren Bewohner, waren so liebenswürdig und zuvorkommend als ob wir uns schon lange kennen würden. Sie luden uns ein und wir sprachen und lachten vom ersten Moment an. Sie wiederholten einige Male, dass Sebastian zu jeder Zeit bei ihnen ein Zimmer habe, sollte er wieder einmal in Wien zu Besuch sein.
Der Tag am Heldenplatz war wirklich beeindruckend. Die vielen junge Menschen - die Zukunft unsere Welt - mit ihren verschiedenen Auftritten, die T-Shirt Reihe die “Nein zu Rassismus” schrieb, die Kinder von Emigranten, die gelungenen Worte Chaplin’s und die verschiedene Reden von den “Überlebenden”, wo mir persönlich die Ansprache von Erwin Auspitz (auch ein Argentinischer Überlebender) am Besten gefiel.
Wien --- es ist so viel über Wien zu sagen. Alles klappt, alles ruhig, sauber, genau. Ich habe noch sehr schöne Kindheitserinnerungen und erbte viele Familienfotos von meinen Eltern, die ich mir heute nur noch sehr selten anschaue, obwohl sie glückliche Zeiten darstellen.
Tragisch, dass damals vor 70 Jahre die politische und finanzielle Situation dazu führen konnte, dass so etwas wie der Holocaust aus so einer gebildeteten Gesellschaft herausplatzen konnte.