Die letzten Zeugen - Das Buc

GERTRUDE (TRUDE) LEVI


 
 


GERTRUDE (TRUDE) LEVI

(früher Mosonyi)
geb. 1924-04-23
lebt heute in Großbritannien

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Ana Marija Cvitic ist im November 2007 im Projekt »Botschafter der Erinnerung« in London Trude Levi begegnet und hat aus ihrer Lebensgeschichte gelernt.

Trude Levi wird 1924 in Szombathely/Ungarn geboren. Mit 20 Jahren wird sie zuerst in ein Ghetto, dann nach  Auschwitz deportiert und kommt schließlich nach Hessisch-Lichtenau, einem Nebenlager von Buchenwald. Dort arbeitet sie in einer Munitionsfabrik und überlebt einen Todesmarsch. Durch den Verlust ihrer Staatsbürgerschaft kann sie nach der Befreiung nicht nach Ungarn zurückkehren, bleibt 12 Jahre staatenlos, geht nach Frankreich, später nach Südafrika und Israel, bevor sie sich in England niederlässt. Heute schreibt sie Bücher über den Holocaust, hält Vorträge und arbeitet gegen Rassismus und Antisemitismus.

Keine Ahnung, wie man ein KZ überlebt

Trude Levi hat Auschwitz, Buchenwald und einen Todesmarsch überlebt. Ana Cvitic erzählt, was die Begegnung mit ihr bewirkt hat.


Ich sitze am Stadtrand von London in einem kleinen bescheidenen Haus. Viele Bilder hängen auf der Wand, die Regale sind voll Bücher, und obwohl ich in einem fremden Land bei einem mir unbekannten Menschen zu Besuch bin, fühle ich mich wohl und aufgehoben.

Die Frau, Trude Levi, die mir Tee und Kuchen serviert, ist ein Puzzleteil des Gesamtbildes, das sich mir in dieser Woche im November 2007 offenbart hat. Von da an hat sich viel an meiner Weltanschauung geändert. Aber nicht nur das. Am meisten habe ich mich verändert.

Trude Levi, eigentlich Gertrude Levi, war anfangs nur ein Name auf einem Papier, das ich bei einem von „A Letter To The Stars“ organisierten Seminar bekommen habe. Ich erfuhr, dass sie Bücher geschrieben hatte und dass sie von den Projekt-Mitarbeitern sehr geschätzt wird. Näheres sollte ich erst in London herausfinden können.

In London angekommen besuchten die anderen Schüler und ich jeweils die uns zugeteilten „Survivors“. Ich hatte ein bisschen Angst vor dem Treffen mit Trude und davor, wie sehr mich die sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Thema „Holocaust“ mitnehmen würde.

Nachdem Trude und ich über den allgemeinen Teil der Unterhaltung hinausgekommen waren, begann sie mir von ihrer Zeit in Ungarn zu erzählen. In vielem, das sie mir erzählt hat, erkannte ich mich selbst wieder. Ich stellte sehr bald fest, dass wir Gleichgesinnte sind. Zwei Mädchen, das eine älter, das andere jünger, die auf einer Wellenlänge sind. Das ist der Grund, weshalb wir immer noch in regem Austausch miteinander stehen und weshalb eine Freundschaft zwischen zwei Menschen, die mehr als ein halbes Jahrhundert Lebenserfahrung trennt, funktioniert. Diese Freundschaft ist für mich sehr wertvoll.

Trotzdem habe ich Trude vieles nicht erzählt. Was sie wahrscheinlich nicht weiß, und was ich anfangs auch selber nicht ganz verstanden habe, ist, dass ich nicht so leicht mit dem, was sie mir erzählt, fertig werde. Ihre Zeit in Auschwitz, die Deportationen, die Flucht, die Zeit nach Auschwitz und andere Dinge, die in ihrem Leben passiert sind, all das ist viel Leid für ein Menschenleben.

Das hat mir sehr zu schaffen gemacht. Ich hatte Alpträume, war innerlich depressiv und als ich Trude das zweite Mal getroffen habe, wollte ich nichts mehr an mich ranlassen. Ich wollte abblocken. Ich wollte weg, aber noch mehr wollte ich bleiben. Viel zu sehr war ich von der Person fasziniert, als dass ich sie hätte ablehnen oder ihr nicht zuhören können.

In London habe ich den großen Fehler gemacht, etwas, das ich immer noch unbewusst mache, dass ich die schrecklichen Zeiten in ihrem Leben auf mein Leben bezogen habe. Ich hatte ständig das Bild von mir im Kopf, nicht das von ihr oder jemand anderem. Wie ein kleines Kind, das anfängt zu weinen wenn jemand anderer weint, konnte ich nicht trennen, was mich betrifft und was sie.

Die Themen Antisemitismus, Shoa beziehungsweise Holocaust oder Pogrome gegen Juden lösen bei mir sehr starke Gefühle aus. Vielleicht weil ich mich von der jüdischen Philosophie sehr angesprochen fühle oder weil ich irgendwo etwas Jüdisches an mir habe. Aber trotzdem ist es nicht Mitleid, das ich entgegenzubringen versuche, es ist vielmehr eine tiefe Traurigkeit, gegen die ich mich nicht wehren kann, und die mich besonders in London sehr stark mitgenommen hat.

Doch trotz allem muss ich betonen, dass die Reise, die Begegnungen und der ganze Aufenthalt in London eine der schönsten Zeiten in meinem Leben waren. Dass ich Unmengen gelernt habe, dass ich reifer geworden bin, dass ich nicht nur mitgenommen habe, sondern dass mir viel gegeben wurde.

Ohne diese Woche wäre ich heute ein anderer Mensch, weil ich irgendwie weiß, dass mich dieses Thema nicht grundlos sehr beschäftigt. Die Auseinandersetzung mit der Ungerechtigkeit in der Welt und das Mitfühlen mit den Menschen, denen eine menschenunwürdige Haltung entgegengebracht wurde und wird, gehört zu mir und meinem Leben. Es hat einen Platz in meiner Seele und momentan kann ich nicht mehr machen, als Verantwortungs-gefühl entgegenzubringen und mich zu bilden. So viel wie möglich über alles Mögliche zu lernen, um es eines Tages miteinander zu verknüpfen und Gutes zu bewirken.

Ich weiß, dass ich es vielen schuldig bin, vor allem aber mir selbst.

Nicht viel ahnend, was mich in London erwarten würde, freute ich mich auf neue und spannende Erfahrungen, die ich, zurückblickend tatsächlich gemacht habe.

Mag einer denken, ist ja klar, aber ich sage nein, ist es nicht. Es hätte auch anders ablaufen können.

Es hätte auch sein können, dass mich die Begegnung völlig kalt lässt, dass ich nichts an mich ranlasse oder dass ich einfach nichts aus dem Treffen lerne. Es hätte so leicht eine kurze oberflächliche Begegnung sein können.

Ob es tatsächlich möglich ist, einen einwöchigen Aufenthalt nicht oberflächlich zu nennen?

Wenn man bedenkt, wie intensiv und teilweise anstrengend die Woche war, wenn man bedenkt, wie wir, besonders ich, müde am Abend über den Tag nachgedacht haben, wie viel Tränen vergossen wurden, wie viele Geschichten unter die Haut gingen ... all die Gefühle, die man in dieser Woche empfunden hat, ob guter oder schlechter Natur, die waren wirklich nicht oberflächlich.

Meine »Botschafterin der Erinnerung«, die unglaubliche Persönlichkeit Trude Levi, war ein leeres Blatt für mich, sie war ein Name, eine von vielen Überlebenden, deren Familien unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatten. Aber als ich sie getroffen habe, habe ich begriffen, was für ein Mensch sie ist. Sie ist 84 Jahre alt, lebt in London und sagt, »jüdisch zu sein, ist meine einzige Identität, es bedeutet mir sehr viel.« Religiös ist sie nicht, »wie sollte ich nach dem Erlebten noch an Gott glauben.«

Trude Levi hat mir ihre Geschichte nicht erzählt, sie hat sie mir anvertraut. Das macht man nicht bei jedem, das ist nicht für alle Welt Ohren bestimmt, sie hat es nur mir gesagt. Begebenheiten, die mich zum Weinen gebracht haben, die ich nicht wahrhaben wollte, die ich vielleicht nie wissen wollte. Begebenheiten, die meine naive Weltansicht zerstörten. Sie hat mir, was die Shoa betrifft, die Augen geöffnet. Sie hat mir, was das Leben und die Menschen betrifft, die Augen geöffnet.

Ich bin jung – wie jung wird mir manchmal erst in Extremsituationen bewusst. Ich verstehe nicht alle Dinge, die in der Welt geschehen. Ich gebe es offen zu. Es ist nichts wofür ich mich schäme, es ist einfach die Tatsache, dass ich ein Kind meiner Zeit bin, mit einer individuellen Biographie und einem individuellen Horizont.

Ich maße mir nicht an zu sagen, ich kann nachvollziehen, was Trude Levi erlebt hat. Ich bin 70 Jahre jünger als sie, ich kenne die Hälfte der Sachen nicht, die sie in ihrer Jugend und in ihrem Alltag benutzt hat.

Ich habe keine Ahnung, wie man ein KZ überleben kann, wie man danach ein unglaublich spannendes und beschwerliches Leben führen kann, ich habe keine Ahnung, wieso sie nicht an ihrer Lebensgeschichte zerbrochen ist, ich habe keine Ahnung weshalb ich weinen musste, als sie mir davon erzählt hat.

Aber ich habe viel geweint und es hat mich fertig gemacht.

Geschichte ist nichts, das einen selber nichts angeht, in der Schule wird das viel zu wenig betont.

Die Menschen, die vor uns gelebt haben, sind unsere Vorfahren, sie haben die Welt gestaltet, in der wir heute leben, sie haben die jetzige Gesellschaft geboren und erzogen. Genauso wie wir die Zukunft unserer Kinder und Nachkommen beeinflussen, beeinflussten sie einst das heutige Leben. All das wird einem erst klar, wenn man mit alten Menschen konfrontiert wird. Meine Großeltern wohnen nicht in Österreich, ich sehe sie nur alle drei bis vier Jahre für eine kurze Zeit. Ich habe keine Ahnung, wie sie ihr Leben gelebt haben und wer diese Menschen in Wirklichkeit sind. Aber diese Menschen sind da, und sie waren da, bevor es mich gab.

Trude Levi hat Unglaubliches gesehen, erlebt, gekannt und durchgemacht, bevor es überhaupt den Gedanken an Ana-Marija Cvitic gab. Und jetzt, wo ich 17 Jahre alt bin, treffe ich sie und sie teilt ihr Leben mit mir.

Sie kennt mich nicht und trotzdem vertraut sie mir. Und zwischen uns entwickelt sich so etwas wie Freundschaft.

Wenn sie stirbt, wenn ich sterbe und wenn meine Kinder und Enkel leben, und deren Kinder und so weiter, werden Trude Levi und ihr Treffen mit mir ein Teil der Geschichte sein. Und auch wenn sich das alles in einer Woche abgespielt hat, wer sagt, dass eine Sekunde nicht Leben verändern kann?

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