NOMI MERON(früher Hella Mittler)geb. 1924-03-11 lebt heute in Israel |
|
Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.
Die Studentin Sophie Menasse ist im März 2008 im Projekt »Botschafter der Erinnerung« Nomi Meron in Israel begegnet und hat ihre Lebensgeschichte dokumentiert. Im Mai 2008 war Nomi Meron, gemeinsam mit ihrem Mann Isi Meron, im Rahmen des Projekts 38/08 in Wien.
Nomi Meron wird 1924 in Wien geboren. 1938 wurden Nomi und ihre Zwillingsschwester nach Berlin in ein Hachschara- Lager geschickt, wo sie auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. 1939 emigrierte sie gemeinsam mit der Jugend Alliah- Gruppe nach Israel und gründete dort eine Familie mit ihrem geliebten Mann Isi Meron.
Nomi Meron - Die Geschichte eines Lebens
Gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester und der Jugend-Alliah Gruppe emigrierte die 15-jährige Nomi nach Palästina. Erst drei Jahre später wurde sie mit ihren Eltern vereint.
Nomi Meron kam am 11. März 1924 als Hella Mittler in Wien zur Welt. 1938, im Alter von vierzehn Jahren, wurde sie von der Schule verwiesen, der Vater verlor seine Arbeit als Hauptkassier bei der Volkszeitung. Die Eltern waren vorrausblickend genug und nahmen die erste Fluchtmöglichkeit wahr, die sich geboten hat. Und so wurde Hella gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Eva sechs Monate nach dem Anschluss bereits in ein Hachschara-Lager in Ahrensdorf bei Berlin geschickt, wo sie auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Während die Eltern und der ältere Bruder 1939 nach England emigrierten, blieb den Zwillingsschwestern nichts anderes übrig, als mit der Jugend-Alliah-Gruppe aus Ahrensdorf nach Palästina auszuwandern, weil sie keine Einreisegenehmigung für England erhielten. Dort lebten und arbeiteten sie im Kibbuz Massada, der damals gerade gegründet wurde. Lipa Gawse, ein Kibbuznik, begann sich für Nomi zu interessieren, was von den anderen Jugendalliahmitgliedern nicht gut geheißen wurde, woraufhin sie den Kontakt zu Nomi abbrachen. Nun war Nomi vollkommen allein – nicht einmal zu ihrer Schwester hatte sie noch Kontakt. Nachdem sie zwei Jahre auf einer landwirtschaftlichen Schule studiert hatte, kam Nomi als gelernte Gärtnerin zurück in den Kibbuz, heiratete Lipa und bekam zwei Töchter von ihm. Als 1948 der israelische Unabhängigkeitskrieg ausbrach, wurden alle Frauen und Kinder aus Massada nach Haifa evakuiert. Der Kibbuz wurde von den Arabern erobert und bei der Rückeroberung, kam Lipa um.
1949 kehrten sie wieder in den – vollkommen zerstörten – Kibbuz zurück. Und Nomi war wieder allein. Wieder musste alles von Neuem aufgebaut werden. Da so viel zu tun war, dass es die Kibbuzniks nicht alleine geschafft hätten, wurden bezahlte Arbeiter angestellt. Unter ihnen auch Israel Moishe, den Nomi ein Jahr später heiratete. 1951, im selben Jahr, in dem Nomis dritte Tochter geboren wurde, kamen auch die Eltern aus England nach Israel, und die Familie war endlich wieder vereint. Auch die Zwillingsschwestern hatten sich mittlerweile wieder versöhnt und die ganze Familie lebte im selben Kibbuz. Doch nicht lange, denn Isi, Nomis zweiter Mann, wurde von den anderen Kibbuzniks nicht anerkannt und so verließen die beiden schließlich den Kibbuz und zogen nach Haifa. Nomi unterrichtete Musik, leitete Chöre, dirigierte, und Isi begann bei „Shell“ zu arbeiten. Als er 1970 deren Supervisor wurde, übersiedelten die beiden ein letztes Mal: nach Jerusalem, wo sie es endlich schafften, sich eine sichere und erfüllte Existenz aufzubauen.
All over again from the beginning
Das Leben der Nomi Meron ist, wie sie es selbst in einem Brief an ihre Enkeltochter formuliert hat, eine Geschichte des „starting all over again from the beginning“: Mit vierzehn Jahren weg aus der Heimat, nach Ahrensdorf, alles mussten sie damals zurücklassen; dann von dort nach Israel, wieder ohne die Möglichkeit irgend etwas mitzunehmen; die Ankunft in Israel, in der Wüste, wo es nichts gab, noch nicht einmal Häuser im Kibbuz, nur Zelte und Hitze. Wieder mussten sie sich mühsam eine Existenz aufbauen, im Unabhängigkeitskrieg einmal mehr alles zurücklassen und beinahe ein Jahr zu zwanzigst in einem Zimmer in Haifa leben, wo es am Anfang nicht einmal Matratzen gab. Einfach ein leeres Zimmer, in dem zwanzig Mütter mit ihren Kindern am Boden schlafen mussten. Dann endlich die Rückkehr in den Kibbuz – der völlig zerstört war – wieder mussten sie ganz von vorne anfangen, wieder alles neu aufbauen. Trennung von den Eltern, dann Trennung von der Schwester, Verlust des Ehemanns. Immer wieder allein, immer wieder „all over again from the beginning“.
Erinnerungen teilen
In diesem Brief an ihre Enkeltochter, berichtete Nomi das erste Mal ihrer Familie ihre ganze Geschichte.
Ich hab eigentlich sehr wenig über die Vergangenheit erzählt. Und auch absichtlich. Ich wollte auch nie ein Buch über meine Geschichte schreiben, weil ich eigentlich so viele schlechte und schlimme Erinnerungen hab, dass ich froh war, dass ich sie vergessen hab. Immer wieder erzählen ist auch immer wieder aufwühlen. Es gibt Leute, bei denen ist jeder zweite Satz: „Ich hab ja den Holocaust miterlebt.“ Bei mir ist das nicht, ich erwähne das nie.
Am Anfang war es auch schwierig in Israel von den Erlebnissen in Europa zu erzählen, weil diejenigen, die schon länger in Israel waren, es nicht glauben konnten. Und weil man so sehr damit beschäftigt war ein neues Leben, ein neues Land aufzubauen – den Blick in die Zukunft gerichtet – dass man keine Zeit hatte, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Erst jetzt ist die Zeit und auch das Verständnis der anderen gekommen, um die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Der Anfang des Ganzen
Hella und Eva haben am 11. März Geburtstag. Als am 12. März 1938 die Deutschen Truppen in Österreich einmarschierten, waren die Zwillinge gerade 14 Jahre alt.
Und da sind dann alle Eltern zur Geburtstagsfeier gekommen, die Kinder nach Hause nehmen. Niemand von uns hat gewusst was los ist, aber die Eltern wussten, dass etwas Schlimmes passiert und die Kinder nach Haus müssen – mitten in der Geburtstagsfeier. So war der Anfang des Ganzen. Aber damals wussten wir auch gar nicht, was das alles bedeutet. Man hat uns gar nichts gesagt, und wir durften auch nicht fragen. Wir wussten nur was wir aufgeschnappt haben, wenn der Papa mit der Mutti gesprochen hat. Wir haben nur die Namen fliegen gehört, aber nicht genau gewußt, wer zu wem gehört.
Juden, Christen, Arier
Wir haben auch gar nicht gewusst, dass wir Juden etwas anderes sind. Wir waren zwar einmal in der Woche in jüdischem Religionsunterricht, aber täglich haben wir in der Schule in der Früh, stehend, das Vater Unser gebetet. Niemand hat uns je gesagt: „Ihr nicht“ oder so was. Niemand hat uns je anders behandelt.
Und das „durchschnittliche Volk“ hat genauso wenig vom Unterschied zwischen Juden und Christen verstanden:
Mein Papa hat im April 1938 noch an Rohr im Gebirge geschrieben, dass wir, wie jedes Jahr, gerne wieder auf Sommerfrische kommen wollen, und „ich betone, wir sind Juden.“ Die prompte Antwort war: „Das ist uns ganz wurscht, ob Sie ein Jude oder ein Christ sind, die Hauptsache: Arier müssen Sie sein.“ Das hat das Volk verstanden, also null. Und das ist meine große Entschuldigung für viele. Nicht für die Regierung, nicht für die Antisemiten, aber für das durchschnittliche Volk. Die haben überhaupt nicht gewusst, worum es ging. Das war eine Massensuggestion.
Für Hella war Religion einfach überhaupt kein Thema. Mein Großpapa war ein bißchen religiös. Er wollte, dass wir zu Chanukka die Chanukkia anzünden, aber bei uns war ein Christbaum. Und da haben wir dann als Kompromiss die Chanukkia unter den Christbaum gestellt, weil das zur selben Zeit war. Und wir haben das Fest „Weihnukka“ genannt.
Und dann ist der Großpapa gekommen und hat den Christbaum hinausgeschmissen. Er wollte keinen Christbaum aber Papa wollte die Chanukkia nicht.
Mein Papa war sehr assimiliert, überhaupt nicht religiös. Mein Bruder hatte eine gewisse Neigung zur Religiosität, er hat nicht jiddisch gesprochen, aber in so einer gesungenen Intonation. Das hat mein Papa überhaupt nicht ausgehalten. Da hat er immer gesagt: „Jiddel nicht! Du jiddelst schon wieder!“ Also mein Papa wollte gar nichts zu tun haben mit jiddeln und Judentum. Das war absolut nicht in seinem Sinn. Bei uns war gar nichts jüdisch, absolut nichts.
Deswegen war es für den Papa auch so ein großer Schock, dass man ihn hinausgeworfen hat, bei der Volkszeitung. Man hat ihm oft gesagt: „Ja, Herr Mittler, wenn alle Juden so wären, wie Sie, wäre das was anderes.“ Aber das hat dem Papa auch nicht geholfen, man hat ihn doch nach Dachau gebracht, in der Kristallnacht.
Nach dem Anschluss...
... hat sich dann alles radikal geändert.
Dann konnten wir nicht mehr in die Schule gehen, nicht mehr Eislaufen und eigentlich auch keine Freundinnen mehr besuchen. Man hat sich auch kaum mehr aus dem Haus getraut. Und sehr sehr liebe Freundinnen, die mit mir wirklich sehr gut waren, haben plötzlich nicht mehr mit mir gesprochen. Da haben die Eltern gesagt: „Mit der Saujüdin darfst du nicht reden.“ Wieso man die Kinder da einbezogen hat, weiß ich auch nicht. Hat es den Eltern so gebrannt, dass die Tochter nicht mehr mit mir spricht?
Es fing damit an, dass man sie in der Schule anders behandelte.
Man hat uns in der Klasse nicht mehr drangenommen, wir konnten aufzeigen, wie verrückt, es hat nichts genützt. Man hat uns nicht drangenommen. Und das ist, als Kinder ist das – Warum? Was ist los? Was haben wir gemacht? Wir wissen doch die Antwort!
Aber dann haben wir uns manchmal sogar ins Fäustchen gelacht, weil dann niemand die Antwort gewußt hat, nur wir. Wir haben überhaupt ein gutes Leben gehabt, meine Schwester und ich. Dadurch, dass wir Zwillinge waren und uns sehr ähnlich geschaut haben, und die Lehrer Familien Namen genannt haben, keine Vornamen. „Mittler.“Da konnten wir aussuchen, wer aufstehen wollte. Und das haben wir auch genügend ausgenützt. Wir sind ja in Bänken mit drei Sesseln gesessen und wenn die mittlere hinausgehen musste, musste die an der Ecke aufstehen. Also während wir aufgestanden sind, haben wir gedreht, wer von uns hinausgehen wollte... Und die Lehrer haben sich auch keine großen Gedanken gemacht, es war ihnen egal, weil wir beide gute Schüler waren.
Also, so hat es dann angefangen in der Schule, dass man uns nicht mehr drangenommen hat. Und dann, im April, sind wir aus der Schule geflogen. Mitten in der vierten Klasse Gymnasium. Das war wirklich sehr hart für uns. Erstens weil wir dann ja herumgelungert sind und nichts zu tun gehabt haben und zweitens weil wir auch das Material verloren haben, das Endzeugnis – wir haben damals ein Abgangszeugnis bekommen. Dass wir nicht studieren konnten, hat uns sehr geschadet – mehr als jeder materielle Verlust.
Und den nächsten Tag hat man dann den Papa aus der Arbeit geschmissen. Und dann ist langsam das Geld ausgegangen. Es war kein Geld da um Essen zu kaufen. Und dann hat mich Tante Käthe gebeten, ihr bügeln zu helfen. Also bin ich dorthin bügeln gegangen. Und dann hab ich dort natürlich auch Mittag gegessen, weil ich ja über Mittag dort war. Erst später hab ich verstanden, dass ich eingeladen war dort Mittag zu essen, aber um uns nicht das Gefühl zu geben, nur aus Mitleid da jetzt ein Mittagessen zu bekommen hat man uns gebeten: „helft uns bei der Arbeit“. Und meine Schwester hat bei der anderen Tante Parfumflascherl umgefüllt. Die hatten eine Parfumerie und sie musste Flascherl sortieren. Mein Bruder, der ist ein Jahr älter als wir, der hat auf dem Bauernhof von der Tante geholfen. Und so haben wir uns irgendwie durchgeschlagen und uns mit der Situation, dass man eben zur Tante geht, abgefunden.
Die Situation eskaliert
Eines Tages haben mich zwei SS-Männer, die mir wie zwei riesige Ungeheuer vorkamen, von der Wohnung herunter geholt und weggeschleppt, ich weiß gar nicht wohin genau, in irgendeine andere Seitengasse da, ich soll Trottoir waschen, mit einer Zahnbürste! Was natürlich unmöglich war, weil das ja alles Ölfarbe war, das war ja nur Schikane. Dann haben sie mich geohrfeigt und beschimpft und „Sau-Sara“ und „Drecksmädel“ und weiß ich was noch gerufen und noch einmal geschlagen. Ich bin dann nach Haus gelaufen und bin dann auf der Stiege gesessen, weil ich keinen Schlüssel hatte um hinein zu gehen und hab drei Stunden gewartet, bis die Mama zurück gekommen ist. Sie hat mich da weinend auf der Stufe gefunden. Dann hat man die Mutti auch geholt, das Trottoir waschen. Das war wirklich sehr degradierend und sehr – arg.
Dann haben wir schon gesehen, dass man irgendwie eine Fluchtmöglichkeit suchen muss.
Emigration
Und dann ist plötzlich eine Nachricht gekommen, dass meine Schwester und ich ein Einreisezertifikat für Palästina bekommen und dass wir nach Palästina fahren sollen. Da war eigentlich gar keine große Diskussion darüber. Es war unmöglich zu bleiben. Und wer sich retten konnte... Da haben die Eltern auch schweren Herzens zugesehen, dass wir weggefahren sind. Aber sie wollten uns retten.
Es war alles ganz kurzfristig. Von heute auf morgen. Von meinem Bruder hab ich mich überhaupt nicht verabschieden können, weil er nicht zu Hause war. Er war wahrscheinlich bei der Arbeit auf diesem Bauernhof... Der schwerste Punkt war natürlich der Abschied von den Eltern. Und durch den Abschied von den Eltern ist auch mein Gedächtnis vollkommen verloren gegangen. Wir waren so eingenommen von dem Abschied, dass nichts mehr hineingegangen ist, es waren nur die Eltern.
Wir sind da auf die Praterstraße hinunter gegangen. Und die Eltern durften uns nicht begleiten, die Praterstraße zu überqueren – keine Ahnung warum. Und da sind wir beide alleine gegangen und haben uns von den Eltern verabschiedet. Wir wussten ja nicht, ob wir einander je wieder sehen würden. Und der Papa hat furchtbar geweint, die Mutti sowieso, aber den Papa hab ich das erste Mal weinen sehen. Und dass der Papa geweint hat und uns nicht loslassen konnte und uns umarmt und geküsst hat, mit dem Gefühl „vielleicht ist es das letzte Mal“, das war für uns so einnehmend, dass wir beide keine Erinnerung haben, wie wir von der anderen Seite der Praterstraße nach Ahrensdorf gekommen sind.
Südlich von Berlin liegt Luckenwalde und Ahrensdorf und dort waren wir auf Hachschara, ein Vorbereitungslager für Palästina. Und wir haben keine Ahnung, wir müssen ja mit der Bahn gefahren sein, aber wie sind wir zur Bahn gekommen? Hat man uns hin gebracht, hat man uns abgeholt? Das ist doch eigentlich komisch, dass wir beide (nicht nur ich, wir beide) keine Ahnung haben. Wie sind wir zur Bahn gekommen? Oder die Bahnfahrt: Es muss eine Bahnfahrt gegeben haben, aber keine Ahnung.
Hachschara in Ahrensdorf - Vorbereitung für die Auswanderung
Die Hachschara-Stätten dienten als Vorbereitung für die Auswanderung nach Palästina. Um ein Einreise-Zertifikat von den britischen Behörden ausgestellt zu bekommen, musste man bestimmte Bedingungen erfüllen, die den politischen und geographischen Gegebenheiten und Erfordernissen des Landes Palästina entsprachen. Um eine Infrastruktur aufzubauen wurden vor allem junge Menschen mit landwirtschaftlichem und handwerklichem Wissen und Können gebraucht. Allerdings war es in Deutschland schon ab 1934 verboten, Juden als Landhelfer oder landwirtschaftliche Lehrlinge einzustellen. Deswegen wurden von jüdischen Organisationen jüdische Landwerke gegründet, um möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, die für die Auswanderung nötigen Fähigkeiten zu erlernen. Eines davon war die 1936 gegründete Hachschara-Stätte in Ahrensdorf, etwa 30km südlich von Berlin. Anfangs wurden die Hachschara-Stätten von den Nazis geduldet, da sie – mit dem Ziel der Auswanderung – schließlich dazu beitrugen, Deutschland von Juden „freizumachen“. Als den Juden jedoch 1941 jegliche Berufsausübung verboten wurde, mussten die bis dahin noch existierenden Hachschara-Stätten geschlossen werden, so auch das Landwerk Ahrensdorf. Diejenigen die sich dann noch dort befanden, wurden in Konzentrationslager deportiert.
In Ahrensdorf gab es 80 Ausbildungsplätze, 60 für Jungen und 20 für Mädchen, jeweils zwischen 14 und 17 Jahren. Als sich 1938 die erste Gruppe auf den Weg nach Palästina machte und dadurch wieder neue Plätze frei wurden, kamen auch die ersten 30 Jugendlichen aus Wien nach Ahrensdorf. Unter ihnen Hella und Eva Mittler. Ursprünglich sollte die Ausbildung zwei Jahre dauern. Als sich die Situation allerdings immer mehr verschärfte, wurde versucht, alle so schnell wie möglich nach Palästina zu bringen. Die nächsten Gruppen machten sich bereits im Frühjahr und Sommer 1939 auf den Weg, mit ihnen auch die Mittler-Zwillinge. Weitere Gruppen folgten – teilweise mit, teilweise ohne Einreise-Zertifikate.
Das Leben in der Hachschara-Stätte folgte einem geregeltem Tagesablauf: Frühsport, Morgenappell, landwirtschaftliches Arbeiten und Lernen. Die Jugendlichen lernten neben landwirtschaftlichen Fahigkeiten auch jüdische Geschichte und Riten, sowie Hebräisch.
Alles futsch
Und dann war alles futsch.
Wir sind von Wien ohne Kleider ohne nichts weg. Mit einem Minimum vielleicht... Aber auf der Hachschara haben wir dann einiges bekommen. Stiefel zum Beispiel, kann ich mich erinnern, schöne Stiefel, damit wir im Schnee wandern können...
Aber als wir nach Ahrensdorf gekommen sind, das war wirklich eine sehr sehr schlimme Zeit. Die Trennung von den Eltern war das Schlimmste. Wir beide waren ja 14jährige Kinder und wussten nicht, ob wir die Eltern je wiedersehen würden.
Ich hab überhaupt keine Erinnerung an diese Zeit, dass ich sagen könnte: wir haben das oder jenes gemacht. Wir haben gearbeitet. Unsere Haupttätigkeit bestand aus landwirtschaftlicher Arbeit, die uns viel Spaß gemacht hat. Kuhstall, Hühner, Gemüse und dann die Sandverladung von einem Ort zum anderen, vom Berg herab. Die Zeit verging mit Arbeit und Lernen. Hebräisch lernen, Lieder singen, Schabbat feiern. Aber ich weiß zum Beispiel nicht, ob wir zwei im Zimmer waren, oder vier, oder zwanzig... Keine Ahnung. Alles erging über uns, oft ungewusst wofür, wie lange, bis das Zertifikat kommen sollte, um nach Palästina zu kommen.
Sauberkeitsinspektionen
Jede Woche sind Nazis gekommen und haben in der Uniform (SS und SA) Sauberkeitsinspektionen gemacht, in der Hachschara. Das war Schikane. Nur Schikane. Einmal hat mich einer die Wäscheleine abnehmen lassen (das war so eine ganz dicke Leine) und einen Knäuel machen. Und den Knäuel sollte ich ihm geben. Er hat den Knäuel genommen und mir ins Gesicht geschmissen – aber mit aller Kraft! Ich bin natürlich zu Boden gefallen. Solche Sachen haben sie gemacht! Die hatten Lust und Vergnügen dabei, uns mit Sadismus zu behandeln, das ist unmöglich zu glauben! Da waren solche Hügel mit Disteln und sie haben uns befohlen da hinauf zu gehen und „umdrehen auf der Gürtelschnalle.“ Das heißt: Hände und Füße hoch, die Gürtelschnalle ist das einzige, das den Boden berühren darf. Und umdrehen. Das heißt mit dem Gesicht durch die Disteln rutschen. Es hat uns keinen Spaß gemacht, aber wir haben gelacht – aus Hohn: was soll das? Wir haben gelacht. „Lachen? Noch einmal hinauf!“Das war jede Woche das selbe Theater.
Und dann waren da Burschen, die hatten vierzig und einundvierzig Grad Fieber. Und die mussten aus den Betten und sind in Ohnmacht gefallen. Und da haben die Nazis gesagt: „Wer ist der Apotheker hier?“ Und es gab wirklich einen, der sich um die Medizin gekümmert hat (Günther Anschel). Dem haben sie befohlen auf einen Baum hinauf zu klettern und „Tee“ hinunter zu holen. Das war natürlich kein Teebaum dort, das war nur Schikane.
Und dann war da die Ellen Fillippsthal. Die haben sie genommen: „Du bist doch die Ellen Fillippsthal. Gestern haben wir deine Eltern ermordet.“ So, einfach so. Sachen, die man – die ein Mensch! – nicht verstehen kann.
Reichskristallnacht
Wir wussten nicht, was los war, aber man hat uns in die Zimmer geholt, wir durften nicht hinaus. Und der Leiter von der Hachschara (der schon gewusst hat, was los ist; der wurde vom Gendarmerie-Hauptwachtmeister vorgewarnt) hat die SA- und SS-Leute, die gekommen sind (wahrscheinlich um mit uns etwas zu unternehmen), zu sich genommen und ihnen alkoholische Getränke im Überfluss eingeschenkt und sie einfach betrunken gemacht und so haben wir die Kristallnacht überlebt. Das haben wir aber auch erst viele Jahre später erfahren. Damals haben wir das nicht mitbekommen.
Die Eltern konnten uns natürlich Briefe schreiben. Aber nach der Kristallnacht hat der Papa plötzlich aufgehört zu schreiben. Und da haben wir der Mutti geschrieben: „Was ist mit Papa los?“ Die Mutti hat geantwortet: „Er hat keine Zeit.“ Und da haben wir zurück geschrieben: „Er hat vielleicht eine Woche lang keine Zeit, oder zwei Wochen. Aber monatelang? Wir befürchten das Schlimmste. Sag uns, was mit Papa ist!“ Und da hat die Mutti geschrieben: „Er ist gut bewacht, aber am Leben.“ Das war eine gewisse Erleichterung, immerhin, er ist am Leben. (Wir hatten schon befürchtet, dass er nicht mehr lebt.) Aber da war doch die Angst vor dem Konzentrationslager.
Man hat ihn in der Kristallnacht nach Dachau geschleppt. Von November bis April war er in Dachau. Im April konnte der Bruder von meiner Mutti, der in Amerika gewohnt hat, viel viel Geld bezahlen und den Papa auslösen.
Und dann ist der Papa zu uns zu Besuch gekommen, sich verabschieden. Er ist von Wien nach Ahrensdorf gekommen und hatte zwei Stunden Zeit zwischen dem Zug, der angekommen ist, und dem anderen Zug, der weiter gefahren ist nach England. Papa hat ein Permit bekommen nach England. Und in dieser Pause wollte er uns besuchen. Er war in einem furchtbaren Zustand: ohne Haare, ohne Fingernägel, alle Finger gefroren. Er konnte kein Wort reden und wir haben den Papa auch kaum erkannt. Papa hat schönes Haar gehabt, und jetzt plötzlich mit Glatze– das war furchtbar, dieser Anblick. Und wir sind nur dagesessen und konnten gar nicht reden. Da hat uns der Leiter der Hachschara (Klaus Glücksmann) geholfen und hat ein bisschen die Konversation vermittelt. Aber viel haben wir nicht gesprochen. Der Papa hat auch Angst gehabt zu reden, weil man ihn ja wieder verhaften konnte. Er war ja noch in Deutschland. Er hat Angst gehabt, dass man ihn noch einmal verhaftet. Nach zwei Stunden haben wir ihn zur Bahn gebracht. Und wir haben uns wieder verabschiedet. Die Abschiede, das sind die schwersten Sachen.
Auf jeden Fall ist der Papa dann nach England gegangen – und wurde in England als Deutscher eingesperrt! Als Deutscher! Die Mutti ist mit meinem Bruder in Wien geblieben und hat die Wohnung liquidiert. Natürlich hat man kein Geld dafür bekommen, man hat alles herschenken und hergeben müssen. Sie hat dann als Köchin ein Permit nach England bekommen. Also im April ist dann erst der Papa und dann, zwei Wochen später, die Mutti und mein Bruder gekommen, die waren gerade zum Pessachfest da, und sind dann direkt von Berlin nach England weiter gereist.
Die Eltern haben dann natürlich gehofft, dass sie uns von Ahrensdorf nach England holen können. Sie haben nicht im Traum daran gedacht, dass wir nach Palästina gehen und wir uns derartig trennen werden. Sie haben sehr gehofft, dass wir ein Permit bekommen um nach England zu kommen. Aber das war unmöglich. Die Engländer sind unmöglich! Man soll mir nicht erzählen, dass die Engländer den Juden geholfen haben! Die Engländer haben uns wahnsinnig viel geschadet! Schon damals, als sie nicht erlaubt haben, dass die Eltern ihre Töchter zu sich holen. Mein Bruder war da, aber uns wollten sie nicht. Und da haben wir gewartet, was weiter geschehen wird. Und mittlerweile ist das Zertifikat für Palästina gekommen. Da haben wir uns – ich weiß nicht, ob meine Schwester mich, oder ich meine Schwester – bei der Hand genommen und haben gesagt: „Komm gehen wir weinen.“ Da haben wir beschlossen, in irgendeine Ecke weinen zu gehen.
Palästina - Wir haben getanzt vor Freude
Wir sind dann bis zum 24. Juli 1939 in Ahrensdorf geblieben. Und am 24. Juli hat es geheißen, dass unser Schiff nach Palästina in Triest auf uns wartet. Wieder sind wir mit der Bahn nach Triest gefahren. An die Bahn kann ich mich wieder nicht erinnern. Aber an Triest kann ich mich erinnern. Das war auf einem Hügel und man hat das Meer, die Adria, wunderschön gesehen. Das Schiff hat „Galilea“ geheißen.
Wir hätten in einen Ort in Palästina kommen sollen, der Balfuria heißt. Wir waren froh Deutschland zu verlassen. Und dann waren wir schon froh nach Balfuria zu gehen. Aber am Schiff hat man uns gesagt: „Ihr geht gar nicht nach Balfuria, ihr geht nach Massada.“ Das war eine schrecklich Enttäuschung für uns. Es blieb auch eine Enttäuschung. Massada war eine.
Die Schifffahrt hat vom 24. Juli bis zum 1. August gedauert. Am 1. August sind wir dann in Haifa angekommen und dort erwartete uns der „hochdeutsch“ sprechende Leiter vom Kibbuz, der natürlich nur geglaubt hat, dass er deutsch spricht, aber in Wirklichkeit hat er ein derartiges rumänisches Jiddisch gesprochen, dass wir überhaupt kein Wort verstanden haben. Das war ein Schock für uns: Jemand der kein Wort deutsch kann!
Von Haifa wurden wir dann mit einem Autobus nach Massada in den Kibbuz gebracht. Das war ein ganz alter kleiner Autobus mit ganz kleinen vergitterten Fenstern, weil man schon damals Steine geworfen hat. Es war eine wahnsinnige Hitze im Autobus. Als wir dann Stunden später mitten in der Wüste anhielten, habe ich gefragt, warum wir hier stehen bleiben an diesem Platz, wo nichts ist? Die Antwort war: „Hier sind wir am Ziel unserer Reise. Hier ist unser neues Zuhause.“ Also, das war wirklich ein Riesenschock für uns. Unsere Reaktion war aber nicht Verzweiflung, nein, wir sind ausgestiegen und sind in einen Freudentanz ausgebrochen. Wir haben getanzt. Wir haben getanzt vor Freude.
Kibbuz
Zuerst haben wir in Zelten gewohnt und dann in Holzbaracken. Dann hat man zwei Häuser gebaut. Aber in dieser Hitze war es unmöglich in den Häusern zu schlafen, also haben wir draußen geschlafen. Und wir bekamen Moskitonetze, die wir übers Bett gespannt haben. Die haben wir immer vor dem Schlafengehen nass gemacht und dadurch eine Aircondition gebildet. Der Luftzug durch die nassen Moskitonetze, das war unsere Aircondition.
Alle Sachen, die wir auf der Hachschara bekommen haben (Kleider, Stiefel, alles, was wir gehabt haben) war in Container eingepackt worden und sollte ankommen, ist es aber nie.
Im Kibbuz haben wir keine eigenen Kleider bekommen. Stattdessen wurden jeden Freitag saubere Kleider ausgeteilt. Allerdings waren die nicht mit Namen bestickt, sondern wurden einfach sauber ausgeteilt. Das war so ein Blödsinn! Die Großen haben zu kleine Sachen bekommen, die Kleinen haben zu große Sachen bekommen! Dann haben wir selber beschlossen, dass wir unsere Namen einfach einsticken, wenn uns etwas gepasst hat. War doch idiotisch, dieses System, einfach auszuteilen. Handtücher hat man ausgeteilt, ok, Leintücher hat man ausgeteilt. Aber persönliche Kleider!
Das war am Anfang wahnsinnig schwierig für mich, in dieses ganz neue System zu kommen. Dieses Austeilen, dass man nichts Privates hat, kein Spielzeug – wir waren ja noch Kinder. In Wien hab ich alle möglichen Bastelarbeiten gemacht und viel musiziert: wir haben Mandoline und Klavier und Flöte gelernt in Wien, wir haben wirklich sehr viel Kultur betrieben.
Das war dann alles nicht mehr möglich. Wir mussten alles zurücklassen, als wir in die Hachschara gegangen sind, nichts haben wir mitnehmen können.
Und in Israel war kein Klavier im Kibbuz und keine Flöte und keine Mandoline und gar nichts. Nur die Arbeit. Wir haben sehr schwer am Feld gearbeitet: wir haben Steine vom Feld abräumen müssen, damit man überhaupt mit dem Pflug fahren kann. Dann haben wir Pflanzen gepflanzt. Ich hab alles gemacht im Kibbuz. Ich hab in der Küche gearbeitet, ich hab bei den Babys gearbeitet,...
Und ich hab die ganze Zeit eine Möglichkeit gesucht, wie ich weiter Musik lernen kann, weil es ja kein Klavier gab. Irgendwann konnte ich mir dann eine Mandoline kaufen und war überglücklich damit!
In diesem Kibbuz waren wir noch keine Members sondern nur Jugend-Alija. Jugend-Alija heißt Vorbereitung. Das ist für zwei Jahre: vormittags arbeiten, nachmittags Ivrit lernen. Und nach zwei Jahren geht man dann in einen anderen Kibbuz und bewirbt sich dort als Member vom Kibbuz.
Begehrt und Verstoßen
Und dann war wirklich ein sehr großer Schicksalsschlag dadurch, dass ein Member vom Kibbuz sich für mich interessiert hat und mir nachgelaufen ist. Ich war sechzehn. Ich hab gar nicht gewusst, was er von mir will. Ich war noch ganz unentwickelt damals (als Zwillinge
waren wir später entwickelt). Aber er ist mir nachgelaufen und wollte, dass ich mit ihm spazieren gehe und wir sind auf der Wiese gelegen und haben die Sterne angeschaut und die Sternbilder gedeutet, den großen Bär und den kleinen Bär... In der Wiese war es auch schön kühl. In Wirklichkeit war das gar keine richtige Wiese sondern nur so etwas Bewachsenes. Und kurz und gut, die Jugend Alija-Gruppe aus Wien hat beschlossen mich aus der Gruppe hinauszuschmeißen weil ich mit einem Member vom Kibbuz befreundet bin und mit ihm gehe. Sie haben mich aus dem Zimmer hinaus geschmissen und haben alle meine Sachen aus dem Zimmer hinaus geworfen. Was mir natürlich am meisten weh getan hat war, dass meine Zwillingsschwester mitgemacht hat...
Und da bin ich von der Arbeit nach Hause gekommen und alles war in der Sonne und meine Mandoline war zersprungen. Das war furchtbar für mich. Und dann musste ich in ein Zelt ziehen. Es war ja kein Zimmer für mich alleine da. Habe ich also in einem Zelt gewohnt. Die Hitze kann ich euch gar nicht schildern. Auch in den Zimmern war es heiß genug, aber in den Zimmern haben wir ein System entwickelt: Man ist um fünf Uhr Früh aufgestanden und hat den Fußboden mit viel Wasser gewaschen, alle Fenster geöffnet und dadurch hat der Boden dieses Wasser verdunstet und ist kühl geworden. Dann wenn alles verdunstet war und der Boden trocken war, als man zur Arbeit gegangen ist, hat man schnell die Fenster geschlossen und alles war dicht, so dass die Sonne nicht herein kam und da konnte man sich zu Mittag auf dem Fußboden ausruhen. Auf dem Bett konnte man nicht schlafen, das war zu heiß. Aber auf dem Fußboden war es kühl und da konnte man sich zu Mittag hinlegen, da haben wir ein Leintuch aufgelegt und dann dort geschlafen. Aber ich war im Zelt!
Der Kontakt zur Gruppe ist vollkommen abgebrochen, ich hab zu niemandem mehr Kontakt gehabt. Ich war natürlich bei der Arbeit und den Unterrichtsstunden dabei, aber ich war bös mit den Leuten, die haben mich doch hinaus geschmissen und ich hab mit niemandem mehr Kontakt gehabt. Bis heute übrigens, bis heute. Das war unverzeihlich, was sie damals gemacht haben. Als ob das nicht schon genug gewesen wäre, die Nazis und alles, auch noch unsere Leute!
Und ich bin weiter mit diesem Chawer (Chawer nennen wir die Member vom Kibbuz. „Freund“ heißt das) gegangen. Aber wir waren mit siebzehn Jahren fertig mit der Jugend-Alija, wir sind ja mit fünfzehn Jahren gekommen. Und ich hätte mir doch nicht gedacht, dass ich mit siebzehn Jahren heiraten will. Ich wollte nicht im Kibbuz bleiben, ich wollte studieren, ich wollte lernen, ich wollte nicht heiraten, aber ich wollte irgendetwas lernen. Da hat mir die Tante von diesem Chawer arrangiert, dass ich in eine Agrikulturschule gehen konnte.
Blumengärten
In der Agrikulturschule hab ich Gartenarchitektur gelernt.
Einmal hat mich die Leiterin von dieser Schule gefragt, wieso ich so viele schöne Kleider hab. Ich hab geantwortet: „Das ist aus einem ganz einfachen Grund: Ich hab eigentlich überhaupt keine Kleider. Aber ich wohn mit noch drei Mädeln zusammen, die im Land geboren sind. Die haben genug Kleider und borgen mir jeden Tag etwas zum anziehen. Deswegen hab ich so viele verschiedene Kleider.“ Da hat sie mir aus Barmherzigkeit einen Trainingsanzug gekauft und um mich nicht zu beschämen hat sie gesagt, dass mir das die Tante von diesem Chawer geschickt hat. Später hab ich dann erfahren, dass sie mir das in Wirklichkeit selbst gekauft hat.
Nach zwei Jahren bin ich mit einem wirklich guten Zeugnis von dieser Schule zurück in den Kibbuz gekommen und war gelernte Blumengärtnerin. Und da hat man mich engagiert, dass ich den Blumengarten in Massada leite. Wasser war ja keines geleitet, man musste mit Kübeln jeden Baum gießen gehen und von weit weg das Wasser holen und schleppen... Aber ich hab das gern gemacht.
Hochzeit
Als ich zurück kam, aus der Schule, war ich ja schon neunzehn. Und dann hab ich irgendwann geheiratet. Irgendwann hat man beschlossen: „Jetzt heiratet ihr.“ Das war auch logisch. In zwei Zelten wohnen, das war unlogisch und so haben wir dann beschlossen zu heiraten und zusammen in einem Zelt zu wohnen.
Ich hab kein Datum von der Hochzeit, weil keine Gäste eingeladen waren. Es war einfach eine Hochzeit unter einem Baum. Den Baum könnte ich bis heute erkennen, ich weiß genau, wo der war: auf einer Wiese, die ich gepflanzt habe. Ich hab wunderschöne Blumengärten gepflanzt gehabt. Den Ring hat man ausgeliehen. Jeder der geheiratet hat, bekam am Tag der Hochzeit den Ring und fertig.
Jetzt, vor kurzem, hab ich um ein Heiratszertifikat gebeten, weil das verloren gegangen ist. Und man hat mir vom Rabbinat von Kinnereth eine Urkunde geschickt, aber mit einem vollkommen unmöglichen Datum. Da steht nämlich, dass ich am 4. Oktober 1945 geheiratet hab. Das ist aus ein paar Gründen unmöglich. Erstens war ich damals schon hochschwanger, weil meine Tochter am 26. Januar 1946 geboren ist, und das war damals nicht üblich. Und zweitens war meine Schwester damals bereits wieder im Kibbuz, ich war aber schon längst verheiratet, als meine Schwester zurückgekommen ist. Also, ich hab kein Datum von meiner Hochzeit.
Militär und Musik
Mein Mann, Lipa Gawse, war einer der Gründer der Palmach (der ersten Armee; bevor die israelische Armee gegründet wurde).
Er war die ganze Zeit in diesem Militär, in dieser Palmach, er war kaum zu Hause, so dass ich wirklich sehr sehr alleine war.
Ich war auch bei der Palmach, aber nicht mit ihm. Ich hab einen Tommy Gun gehabt, ein schweres Gewehr, und ich hab Morsen gelernt, ich konnte mit den Fahnen von einem Kibbuz zum andern morsen, man ist hinauf auf den Wasserturm und hat von einem Kibbuz zum andern mit Fahnen Zeichen gemacht. Und dann kam auch schon langsam elektronisches Morse... Und so hab ich mit den anderen Kibbuzim Kontakt gehabt.
Als Wächter hat mein Mann damals ein Pferd bekommen. Und da hab ich auch eines bekommen, damit ich mit ihm mitreiten kann. Und wir sind sehr viel geritten, das war ein großes Vergnügen!
Ich hab das ausgenützt und bin mit diesem Pferd in benachbarte Kibbuzim geritten, wo es ein Klavier gab und konnte dort Klavier üben. Und ein Member dieses benachbarten Kibbuzes hat mir auch Lektionen gegeben. Dann bin ich mit dem Pferd in einen anderen Kibbuz geritten, wo es ein Mandolinenorchester gab und hab dort Mandoline gespielt. Mit dem Leiter von diesem Mandolinenorchester hab ich Harmonie und Kontrapunkt studiert und Kompositionen gemacht. Und dann hatte ich wenigstens die Musik wieder.
Dann hab ich in Massada ein Mandolinenorchester gegründet. Da war man einverstanden Instrumente zu kaufen und ich hab dann Mandoline und Klavier unterrichtet. Und so hatte ich wieder einen Lebensinhalt. So langsam hab ich mir irgendwie das Leben zusammengestellt...
Dann wurde ich gebeten einen Chor zu gründen und ein berühmter Dirigent hat einen Auftritt von meinem Chor gesehen und gemeint: „Die Nomi kann nicht dirigieren, so dirigiert man nicht.“ Und da hat man mich auf zwei Wochen zu einem Dirigentenkurs geschickt. Dann wollte man, dass ich in einem Nachbar-Kibbuz einen Chor von Achtzehnjährigen leite. Und da hab ich einen wunderbaren Chor herausgebracht. Daraufhin hat man mich gebeten, dass ich dort an der Schule unterrichte, womit ich nicht einverstanden war, weil ich doch keine Lehrerin war. Und da haben sie mir gesagt: „Wenn du einen solchen Chor herausgebracht hast aus diesen Achtzehnjährigen, dann kannst du alles machen.“ Also hab ich unterrichtet. Und dann, nachdem ich dort gut unterrichtet hab, wollte man, dass ich auch in Degania an der Kreisschule unterrichte. Aber ich hab gesagt: „In Degania unterrichte ich absolut nicht, bevor ich nicht eine Lehrerausbildung gemacht habe! Das ist ein Beruf und den muss man lernen. Ich hab Chöre geleitet, ich hab Orchester geleitet, die haben alle wunderbar gesungen und alles richtig gemacht – aber ich hab falsch dirigiert.“ Und da hat man mich für ein Jahr nach Tel Aviv ins Lehrer-Seminar geschickt, wo ich bei der Aufnahmeprüfung schon die Endprüfung dieses Seminars gemacht hab, weil ich so viel alleine studiert hab, Harmonie und Kontrapunkt und alles. Und der damalige Leiter von der Schule, Paul Ben Chajim, hat auch gesagt: „Du hast hier nichts verloren, du kannst bei mir privat Harmonie lernen“, was ich auch getan habe. Ich musste vier Schüler unterrichten, um eine Stunde von seinem Unterricht bezahlen zu können. Den Privatunterricht musste ich selber zahlen, das andere hat der Kibbuz bezahlt.
Wieder Krieg
Als dann 1948 gekommen ist und man gewusst hat, dass am 15. Mai die Engländer Palästina verlassen werden und der Staat Israel ausgerufen wird, war klar, dass Krieg ausgerufen werden wird. Also hat man im Kibbuz eingeteilt, wohin jeder zu gehen hat, wenn Bomben fallen oder irgendeine Attacke ist. Und am 15. Mai, das war Schabbat, hatte ich Dienst im Babyzimmer. Und die erste Bombe traf das Babyzimmer. Der Sohn von meiner Schwester war gerade auf der Waage weil Schabbat Gewicht-Tag war. Jeden Schabbat hat man die Kinder gewogen, um zu sehen ob sie zugenommen haben. Er war splitternackt auf der Waage, und meine Tochter daneben im Bett. Und ein Member, der mit mir dort Dienst hatte, war eingeteilt meine Tochter zu nehmen, mit ihr ins Shelter zu laufen, weil sie schon ein halbes Jahr alt war und schwer war, und ich nehm den Sohn von meiner Schwester, der nur drei Monate alt war. Schnell eingewickelt und wir sind gelaufen. Ein Mann ist schwer verletzt worden, aber niemand ist getötet worden.
Und dann, um drei Uhr Früh haben wir für die Babys Milch gebraucht. Aber die Kinderküche war ziemlich weit von dem Shelter entfernt. Ich hab beschlossen, ich lauf in die Kinderküche, schnell zwischen den Bomben, und hole Milch. Aber die Küche war komplett zerbombt, mit Schutt und Schrott überall. Die ganze Milch war voller Steine... Und da hat man dann schon verstanden, dass wir mit den Babys nicht im Kibbuz bleiben können. Es wurden dann irgendwelche Lastautos gebracht, in der Nacht, und die Babys in den Nachbarkibbuz evakuiert. Am nächsten Tag hat man dann die Frauen und die Kinder nach Haifa gebracht. Wir sind in ein ausrangiertes Haus gekommen, ein riesen Haus, mit nichts drin, leere Zimmer, und da sollten wir mit den Kindern hinein. Wir hatten nicht einmal Matratzen, ich weiß nicht, warum man nicht wenigstens für Matratzen sorgen konnte. Wir waren da zwanzig Leute in einem Saal, mit den Babys und allem. Die Burschen sind in Massada geblieben. Und im Nachbarkibbuz waren auch nur noch die Männer. Aber es war überhaupt keine Kommunikation möglich, es gab ja kein Handy oder Telefon, so dass man herausfinden konnte, was der andere Kibbuz macht, nur Fahnen und Morse. Aber die Bomben sind überall gefallen, es waren natürlich keine Leute draußen, alle waren im Shelter. Und die Leute vom Nachbarkibbuz haben jemanden geschickt um zu schauen, was die in Massada machen. Aber sie haben nicht in die Shelter geschaut und haben deswegen geglaubt, dass Massada verlassen wurde. Und umgekehrt genauso. Die Leute von Massada haben im Nachbarkibbuz niemanden gesehen und deswegen geglaubt dass der verlassen wurde. Und die Bomben sind nur so gefallen. Man hat vielleicht Gewehre gehabt, aber gegen Bomben – man hat ja gar nichts gehabt. Lipa wurde dann zurück gerufen nach Massada (er war ja überall im Land). Man hat gesagt „Wir brauchen jetzt einen Kommandanten in Massada und du bist der geschulteste Militär, also musst du nach Massada kommen.“ Also er ist zurückgekommen in den Kibbuz und hat die Befehle gegeben. Und er hat beschlossen jemanden in den Nachbarkibbuz zu schicken um zu schauen, was dort los ist. Und dort war kein Mensch. Und da hat er gesagt, wenn die den Kibbuz verlassen haben, dann können wir nicht alleine weiter kämpfen. Er hat auch um Hilfe gebeten aber man hat keine Hilfe geschickt. Die ganze Hilfe wurde von Degania aufgehalten, am Kinereth See, das war der erste Kibbuz, den wollte man schützen und die anderen Kibbuzim hat man eigentlich freigegeben. Also mussten sie Massada verlassen. In der folgenden Nacht sind die Syrier hineingekommen, mit Lastwagen, und haben alles geplündert. Also wenn man schon irgendetwas gehabt hat, ein Radio oder Kleider, oder irgendetwas, hat man es wieder verloren...
Nach ein paar Tagen hat man beschlossen, den Kibbuz zurückzuerobern, was auch gelungen ist. Dann sind die Männer abwechselnd nach Haifa gekommen, die Familie besuchen, also die Frauen mit den Babys. Und da ist Lipa zu mir gekommen und hat gesagt: „Massada wurde geplündert und erobert, aber wir sind gesund und wir werden alles wieder neu aufbauen.“ Das war ein einziger Besuch. Eine Woche später hat man mir gesagt, dass ein Member vom Kibbuz, ein gewisser Jakov, von einer Bombe getötet, und Lipa schwer verwundet wurde. Und der Frau von Jakov hat man gesagt, dass der Lipa gestorben ist und Jakov verwundet. Wir sind dann beide mit einem Lastauto ins Spital gefahren, um unsere Männer zu besuchen. Ich meinen verwundeten und sie ihren verwundeten, die in Wirklichkeit beide tot waren. Und wir fahren durch die Stadt durch ohne bei einem Spital zu halten. Sag ich: „Wir wollen doch ins Spital“, aber der Chauffeur hat gar nicht geantwortet und wir haben schon verstanden: wir fahren nach Massada, es gibt gar kein Spital. Und da haben wir dann nur die Särge gefunden.
Ich bin dann zurück nach Haifa und musste stark sein für meine zwei Töchterlein, die Zaffi war zweieinhalb Jahre und die Dorit ein Jahr alt. Es hat ein Jahr gedauert bis der Kibbuz wieder aufgebaut war. Zu Pessach 1949 hat man beschlossen zurück zu gehen in den Kibbuz. In Haifa war ich nicht die einzige gewesen, die allein war. Dort waren alle allein, nur Frauen und Kinder. Die Männer waren alle nicht da. Aber zu Pessach, als wir zurück in den Kibbuz gegangen sind, wurde ich wieder mit dieser Situation konfrontiert, dass alle Familien sich vereint haben und ich allein in ein Zimmer gegangen bin. Das war sehr schwer für mich.
Wiederaufbau im Kibbuz
Ich hab dann wieder begonnen im Blumengarten zu arbeiten. Aber ich musste erst den ganzen Schutt von den Bomben wegräumen und das konnte ich nicht allein. Also habe ich gebeten, mir Hilfe zu bringen. Und da hat man das erste Mal bezahlte Arbeiter angestellt, weil nicht genug Members da waren um es selbst zu machen. Also hat man mir bezahlte Arbeiter gebracht. Aber nachdem ich der Boss war, hab ich gesagt: „Geh!“, „Bring!“, „Mach!“ oder „Mach nicht!“ Die sind natürlich nicht von selbst zu mir gekommen, um mir zu helfen, wenn sie gesehen haben, dass ich etwas Schweres trage oder eine schwere Arbeit mache. Und plötzlich kommt einer dieser Arbeiter und sagt, er könne es nicht mit ansehen, dass ich so schwer arbeite und er helfe mir. Den hab ich angesprochen und gefragt: „Du bist doch nicht aus Tveria, wenn du mir hilfst. Die bezahlten Arbeiter aus Tveria helfen einem doch nicht.“ Sagt er: „Nein, ich bin aus einem anderen Kibbuz.“ Er war, um seiner Mutter zu helfen, in meinen Kibbuz gekommen Geld verdienen, da seine Mutter in unserem Kibbuz als Näherin war.
Er hat mir ein Jahr geholfen mit dem Blumengarten. Und nach einem Jahr ist er zurück in seinen Kibbuz gegangen. Und erst nachdem er in seinen Kibbuz zurück gegangen ist, hat er begonnen zu mir auf Besuch zu kommen und mich zu fragen, ob wir vielleicht versuchen wollen zusammen zu wohnen und zu heiraten. Er hat auch meine Töchter sehr gerne gehabt und hat ihnen immer Schokolade gebracht... Und da ist das dann noch ein Jahr so gegangen. Und dann haben wir, nach noch einem Jahr, geheiratet. Das war 1950. Dieses Datum weiß ich genau, das war eine schöne Hochzeit.
Wieder vereint
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, und nach meiner ersten Heirat, ist meine Schwester in den Kibbuz zurück gekommen. Erst wollte man sie nicht aufnehmen aber ich hab dafür gekämpft und gesagt: „Das kommt doch nicht in Frage, wir sind Zwillingsschwestern!“ und am Ende hat man sie aufgenommen.
1951 haben wir dann beschlossen, unsere Eltern aus England zu holen. Nachdem der zweite Weltkrieg ausgebrochen ist, hatten wir absolut keinen Kontakt mehr zu den Eltern. Wir konnten nicht einmal mehr Briefe schreiben, gar nichts. Wir wussten überhaupt nichts voneinander. Dann konnten wir irgendwie über Amerika Briefe schreiben. Die sind dann irgendwie durch die Welt gegangen, ich weiß nicht wie. Aber so konnten wir dann doch Briefe schreiben. Aber nicht auf Deutsch, man durfte nicht deutsch schreiben. Also haben wir mit dem Wörterbuch Englisch geschrieben. Frag nicht, was das für ein Englisch war. Einmal, kann ich mich erinnern – jetzt lacht man darüber – haben wir geschrieben: „please, since you are only my father, I would like you to repair my letters“. Statt „you are my only father“ haben wir geschrieben: „you are only my father“. Und: „repair may letters“... Solche Sachen. Aber wir haben einander verstanden und haben dann so Briefe gewechselt.
1951 sind sie dann nach Israel gekommen. Aber der Papa war so deprimiert. In England konnte er mit seinen Grinzinger Liedern, die er komponiert hat, noch etwas anfangen, aber in Israel: wer interessiert sich in Israel für Grinzinger Lieder? In England hatte er umgelernt und ist Uhrmacher geworden, aber in Israel hatte er kein Zimmer dafür. Er hat in seinem Zimmer Uhren gerichtet (die Instrumente hatte er aus England mitgebracht) und da ist man während dem Mittagessen oder Nachtmahl zu ihm gekommen: „Herr Mittler, ist meine Uhr fertig? Herr Mittler, was ist mit meiner Uhr?“ Mein Papa war ein typischer Wiener und alles musste nach der Regel gehen, und beim Essen stört man nicht. Ihn hat das wahnsinnig gemacht. Er war die ganze Zeit schlechter Laune, er konnte sich einfach nicht erfangen von Dachau. Der Papa wollte auch das Wort Österreich nicht hören, er wäre nie zurück gegangen nach Österreich.
Also für meinen Papa war es wirklich das Schlimmste. Meine Mutti hat sich besser eingefügt, sie hat dann in der Nähstube genäht, war sehr sehr beliebt, sehr gutmütig.
Isi, mein Mann, wurde dann auch Member von unserem Kibbuz. Aber er hätte als Nachfolger von Lipa, meinem ersten Mann, akzeptiert werden und seinen Status bekommen müssen, ansatt als Junger, Neuer angesehen zu werden, dem nichts gebührt. Aber sie haben sich so schlecht benommen und ihm gesagt: „Dir gebührt es zwar nicht, aber in Nomis Gunsten geben wir es dir.“ Und eines Tages hat er gesagt: „Nomi, ich kann mit dir auf der ganzen Welt leben, aber nicht in deiner Gunst.“
... und wieder getrennt
Und so hat Isi beschlossen den Kibbuz zu verlassen. Er hat einen Job bei der Shell Oil Company bekommen und ist nach Haifa gezogen. Ich bin mit den Kindern im Kibbuz geblieben. Man konnte mich nicht hinausschmeißen, weil der Vater von den Kindern in Massada gefallen ist.
Und ein Jahr lang hab ich versucht Isi zurückzubringen, und er hat versucht mich herauszuholen.
Einmal ist er mich besuchen gekommen und da hab ich ihm aus der Küche Essen gebracht. Als ich mit dem Tablett Essen aus der Küche gegangen bin, hat eine Frau, ein Member, mir das umgeschüttet und gesagt, ich darf ihm kein Essen bringen.
Ein anderer Mann hat gesagt: „Wenn er zu Besuch kommt, steh ich mit dem Messer draußen und lass ihn nicht hinein.“
Da hab ich gesehen, dass Isi Recht hat und dieser Kibbuz untauglich ist. Und so Leid es mir getan hat, habe ich den Kibbuz verlassen. Jetzt, wo die Familie doch endlich wieder vereint war: die Eltern waren jetzt im Kibbuz, meine Schwester war im Kibbuz, mein erster Mann war dort begraben... Irgendwie war ich sehr an den Kibbuz gebunden. Ich hab den ganzen Blumengarten aufgepäppelt, es war ein blühender Garten, es war unbeschreiblich schön, die Bäume sind schon über mich gewachsen. Und jetzt wieder alles verlassen, alles verlassen.
Heutzutage verlassen viele die Kibbuzim, aber damals war man ein Verräter, wenn man das gemacht hat.
Isi hatte in diesem Jahr, in dem er in Haifa gewesen war, eine Wohnung gemietet, für ein Jahr im voraus bezahlt, so viel Geld hat er verdient! Und er hatte alles vorbereitet, dass ich zu ihm ziehe. Aber man wollte uns nicht einmal helfen die Möbel, die wir im Kibbuz hatten, auf das Lastauto aufzuladen. Wir waren doch Verräter. Wir mussten alles alleine machen. Und wir konnten nur mitnehmen, was wir im Zimmer hatten. Man hat uns keine Kleider für die Kinder gegeben. Die waren ja in Kinderhäusern. Man hätte uns wenigstens ein paar Kleider für die Kinder geben sollen, und Leintücher... Nichts. Wir sind nach Haifa gekommen und haben wieder von Anfang an alles neu begonnen.
Als Isi zehn Jahre später Supervisor der Shell Oil Company wurde, übersiedelten die beiden ein letztes Mal: nach Jerusalem.
Nachwort
Während unserer Gespräche und der vielen Zeit, die wir zusammen verbracht haben, sind mir Nomi und Isi richtig ans Herz gewachsen. Von Anfang an war mir klar, dass ich zwei außergewöhnlichen Menschen gegenüberstehe. Sie haben mich mit ihrer Weisheit beeindruckt, mit ihrer unglaublichen Lebensfreude (die ihnen ihre schlimmsten und schwersten Erlebnisse nicht rauben konnten), ihrem großen Herzen und ihrem differenzierten Blick, den sie sich sowohl in Bezug auf Deutschland im 2. Weltkrieg als auch in Bezug auf die fortlaufenden Konflikte zwischen Israel und Palästina bewahrt haben. Sie sind nie in ein schwarz-weiß-Denken gerutscht: Sie haben z.B. nie die Meinung vertreten, alle Österreicher seien Verbrecher gewesen, und die Allierten Helden, was bei ihren Geschichten nicht weiter verwunderlich gewesen wäre. Sie haben wiederholt betont, dass die meisten Österreicher doch gar nicht verstanden hätten, was vor sich ging. Diese Einstellung wird auch deutlich, wenn Nomi auf die Frage, wo ihre Heimat sei, ganz entschieden sagt: Österreich! Das ist eine Frage, bei der ich ziemlich viele Meinungsverschiedenheiten mit vielen Leuten hab. Aber ich sag: Meine Heimat ist Österreich, mein Wien. Meine Sprache ist Deutsch: meine Muttersprache. Und Israel ist meine zweite Heimat, ich fühl mich sehr wohl, ich bin sehr glücklich hier. Aber meine Heimat ist und bleibt Österreich und man kann mir nichts vormachen. Die Leute, die aus Idealismus oder ich weiß nicht was, nie wieder von Österreich wissen wollen, das ist Quatsch. Der durchschnittliche Österreicher hat sehr wenig verstanden von dem, was vorgegangen ist. Die sind massensuggestiert mitgegangen. Das ist meine große Entschuldigung für viele. Nicht für die Regierung, nicht für die Antisemiten, die das gemacht haben, aber für das durchschnittliche Volk ist das meine Entschuldigung. Die haben überhaupt nicht gewusst, worum es ging.
Wir haben Freunde, die nie zurück nach Österreich fahren. Aber wir fahren gerne. Das erste Mal bin ich erst 1976 nach Österreich gefahren. Da wurde ich eingeladen (da war ich schon Musiklehrerin) am Orff-Institut im Mozarteum in Salzburg Orff-Instrumente zu unterrichten. Die hatten wirklich gute Unterrichtsstunden in Deutsch, aber niemanden der in Englisch unterrichten konnte, also hab ich die englischen Sommerkurse geleitet...
Auch den Konflikt zwischen Israel und Palästina beurteilten die beiden immer sehr differenziert: Sie beklagten die Tatsache, dass es auf Grund der politisch angespannten Lage so schwierig sei, Freundschaften mit Palästinensern zu knüpfen. Der Grenzwall, der Palästiner und Israelis trennt, sei ein großes Unglück und keine eigentliche Lösung. Sie wünschten sich, dass endlich Ruhe und Frieden einkehre, in dieses von Krieg gezeichnete Land. Doch für die beiden blieb es nicht nur bei stillen Wünschen und inneren Einstellungen, sie setzten sich auch aktiv für eine „vernünftige Zukunft“ ein, anstatt „an der Vergangenheit und Feindschaft zu haften“. Sie setzen sich ein für einen Dialog zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen verschiedenen Religionen, und vermittelten Kontakte zwischen Israel und Österreich.
Sophie Menasse, März 2008