Die letzten Zeugen - Das Buc

ALEXANDER SCHNABEL


 
 

ALEXANDER
SCHNABEL

geb. 1926-07-05
lebt heute in Israel


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Alexander Schnabel wurde im Juni1926 in Wien geboren. Sein Vater war von Beruf Schuhmacher, ein Handwerk, das der Familie das Leben gerettet hat. Denn der bolivianische Konsul in Wien verschaffte den Schnabels für sieben Paar handgemachte Schuhe die Ausreisevisa nach Südamerika.

Er musste miterleben, wie gute Freunde ihn als Feind behandelten

Die Schülerinnen Olga Czerniawska und Hanna Huber aus dem BG Billrothstraße waren mit Alexander Schnabel in Briefkontakt und haben seine Lebensgeschichte recherchiert.

Aufgrund der Aktion „A Letter To The Stars“ wurde auch in unserer Schule das Leben eines betroffenen Juden recherchiert. Alexander Schnabel ist heute 72 Jahre alt und lebt in Israel. In seiner Jugend wohnte er in Wien und musste miterleben, wie plötzlich gute Nachbarn und Freunde ihn und seine Familie als Feinde behandelten. Er litt unter den Schrecken des 2. Weltkrieges.

„Ich bin in Wien, Austria, geboren, im Juni 1926. Meine Eltern sind Juden, aber das Einzige, was ich durch sie vom Judentum sah, war, dass sie für die verstorbenen Großeltern Jomkipur-Kerzen anzündeten. Das war aber auch alles. Meine Mutter sprach Deutsch. Der Rabbi bat mich, ich solle doch Hebräisch lesen, doch ich konnte es nicht. Er schlug mich mit dem Lineal auf die Fingernägel, aber auch das nutzte nichts. Er kapitulierte. Jedes Mal vor dem Religionsunterricht sagte er: „Schnabel, du hast Kopfweh. Geh nach Hause!“

Eines Tages sprach der Rabbi auf Deutsch von dem Progrom 1936 und den Unruhen in Palästina, von der Hagana. Ich wurde stutzig und dachte mir: „Juden können sich doch verteidigen?“ In der Staatsschule war der Religionsunterricht obligatorisch, egal welcher Religion man angehörte. Ich war ein sehr schlechter Schüler. Meine Mutter nahm eine Studentin, die mir half, die Hausaufgaben zu machen, aber auf die Dauer konnte Mutter sich das finanziell nicht leisten. Eine Freundin meiner Mutter (sie war Jüdin, ihr Mann Christ) sagte: „Schicke den Buben einfach in den katholischen Hort, da machen sie die Hausaufgaben, die Jungs sind gut geführt.“ Im Hort bekamen wir nachmittags auch immer Milch und Brot. Mein Schulfreund Heini Steinmüller und ich mussten jeden Tag zwei Kannen Milch in den 2. Stock hinaufschleppen, denn es hieß: „Der Jud und der Sozialist sollen gehen.“

Es kam Weihnachten 1936. Jedem Kind wurde Maß genommen für ein Hemd und eine kurze Hose. Vor Weihnachten sollten die Sachen verteilt werden. Vom ganzen Hort „Österreich“ kamen Kinder zusammen, so zirka 450 bis 500 Jungs. Der katholische Pfarrer verkleidete sich als St. Nikolaus. Als mein Name aufgerufen wurde, ging ein Pfeifen und Raunen durch. Einer rief: „Dem Juden geben wir nix! Der hat Jesus gekreuzigt!“ Mir kamen die Tränen in die Augen. Der Pfarrer-St. Nikolaus zog mich an sich. Die Jungs wurden ruhig. Er sprach: „Ihr sollt alle wissen, dass Jesus auch Jude war!“

Ich machte Schluss mit dem Hort und kam in die zionistische Jugendbewegung „Betar“. Wir machten einen Ausflug in den Wienerwald. Wir veranstalteten eine Parade für den großen Führer Wladimar Schabotinski. Dann sangen wir Lieder. Beim alten Wiegenlied „Schauet achin umanonim“ kamen mir die Tränen und es war, als ob alle Generationen der vergangenen Schnabels und Galuss in mir seien.

Wir kommen zum 12. März 1938: ÖSTERREICH ist nicht mehr. OSTMARK, Hitler in Wien. 10. November 1938, Kristallnacht.

Mein Vater hatte ein Schuhgeschäft und war sehr beliebt. Er war ein guter Schuhmacher. Meinen Vater haben die österreichischen Legionen der SA mit Knüppeln, die aus Stricken geflochten waren, immer wieder aufs Jochbein geschlagen. Dazwischen fragten sie immer wieder: „Sind sie Jude, österreichischer Staatsbürger?“ Nachdem er „Ja“ gesagt hatte, haben sie zugeschlagen. Ein Wehrdienst-Lkw fuhr vorbei. Die Ladefläche war offen und mein Vater versuchte zu entkommen, indem er dort hinaufklettern wollte. Doch der Soldat des Lkw sagte: „Tut mir leid, du kannst nicht auf den Lkw kommen.“ Mein Vater lag sechs Wochen im Bett ohne Arzt, denn er konnte schon nicht mehr zu unserer Wohnung. Er wurde versteckt. Nach den sechs Wochen ging er wieder ins Geschäft. Die Gestapo kam: „Schnabel, das Geschäft wird versiegelt.“ Nach vier Wochen bekam mein Vater die Aufforderung, sich als, von der Gestapo autorisierter, Umschulungsleiter zur Verfügung zu stellen. Doktoren, Ingenieure, usw. lernten Schuheflicken, um eine Auswanderungserlaubnis nach Shanghai zu erhalten.

Plötzlich kam von der Gestapo der Übersiedlungsbefehl nach Lublin in Polen. Vater ging zur Gestapo, seinem Referenten, der die Umschulung genehmigt hatte, und zeigte ihm den Übersiedlungsbefehl. So wurde die Übersiedlung auf sechs Monate verschoben. Der Vater schrieb seinem Schwager August Herzog in Amerika. Dieser schickte ihm eine Bescheinigung, dass er in Budapest, Ungarn, geboren ist. Doch nach Ungarn auszuwandern war unmöglich, da die Quote für Ungarn erreicht war, und erst wieder 1942 Auswanderer aufgenommen wurden. So fuhr Onkel August sofort nach La Habanna, Kuba. Eine Audienz bei Präsident Juan Baptista wurde abgelehnt. Doch der Onkel hörte zwei Juden zu, die Deutsch sprachen und erfuhr, dass Bolivien 250 Juden im Monat hineinließ. Der Vater ging mit dem Brief vom Onkel zum Generalkonsul von Bolivien in Wien.

Im Vorzimmer saßen die Juden und mein Vater hörte zu, wie sie erzählten: Der eine wollte 20 000 $ geben, um ausreisen zu dürfen. Der andere sagte: „Ich wollte ihm das große Rosenthal-Porzellan von meiner Familie und zwei Brillantringe geben, aber er hat sie abgelehnt.“ Mein Vater sagte sich: „Was kann ich als armer Schuhmacher ihm bieten?“ und wollte gehen. Aber eine Stimme in ihm sagte: „Warte!“ Konsul: „Ja, sie wollen auch nach Bolivien?“
Vater: „Jawohl, Herr Konsul!“
Konsul: „Sie vergessen, ich bin nur der Generalkonsul von Bolivien für Österreich, und das existiert nicht mehr seit dem 12. März 1938. Jedes Visa muss ich nach Hamburg, Germany, einreichen. Was sind Sie von Beruf?“
Vater: „Schuhmacher.“
Konsul: „Machen Sie mir Schuhe?“
Nie hatte mein Vater im Sonntagsanzug das Stichmaß mit sich, welches nötig war, Schuhe anzumessen. Aber er griff in die Tasche. Da war es. Vater machte dem Konsul Schuhe. Sie passten wie Hausschuhe.
Konsul: „Machen Sie mir sieben Paar!“
Vater: „Jawohl, Herr Konsul!“
Konsul: „Halt, was bekommen sie für das Paar Schuhe? Sie wollen nach Bolivien?“
Vater: „Jawohl, 15,50 Selbstkostenpreis.“
Der Konsul reichte ein Visum in Hamburg ein. Es wurde abgelehnt. Der Vater wurde leichenblass. Das war die letzte Hoffnung.
Der Konsul sagte: „Ich muss Sie und ihre Familie retten. Heute ist Mittwoch. Morgen ist der letzte Parteitag. Freitag fahre ich für sie speziell nach Hamburg mit meinem Mercedes.“
Damals war Treibstoff schwer zu bekommen. Der Konsul fuhr 800 km privat, um unsere Familie zu retten. Dienstag kam Vater zum Konsul. „Schnabel, Sie sind gerettet! Drei Stunden musste ich mich mit dem Embassador schlagen. Das Visum ist o.k., aber die Nummer ist falsch. Schreiben Sie ihrem Schwager, er soll die Schiffskarten via Buenos Aires senden, dort erwartet sie mein Freund. Er steht am Hafen mit einem Schild „Familie Schnabel, Schuster“. Er hat für sie einen Arbeitsplatz in der Schuhmaschinenfabrik.“

Nachdem meine Eltern gestorben waren, wanderte ich mit meiner Frau Heni nach Israel aus. Wir haben zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Mein Lebenszeugnis habe ich aufgeschrieben, weil ich allen sagen will: Ich habe vergeben, aber es darf nie vergessen werden!“

Olga Czerniawska, Hanna Huber, BG Billrothstraße, Wien, 2005


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