Die letzten Zeugen - Das Buc

HEINRICH EHLERS


 
 

HEINRICH
EHLERS

lebt heute in Österreich


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Florian Sommer, Schüler aus dem BG Perchtoldsdorf, erzählt die Lebensgeschichte von Heinrich Ehlers, den er mehrmals besucht und interviewt hat.

Die Hausbewohner wussten von den U-Booten im Keller ...

Heinrich Ehlers wurde 1939 in Wien geboren. Sein Familie konnte in einer Kellerwohnung in Wien untertauchen. Die Hausbewohner wussten von den U-Booten im Keller. Heinrich Ehlers lebt heute wieder in Wien.

Eine Schrebergartensiedlung in der Nähe von zwei großen Ziegelteichen im 10. Bezirk. Hier, an der "Geburtsstätte der Wiener Sozialdemokratie", wo noch in der Zwischenkriegszeit in den Ziegelfabriken "die Leute wie Sklaven gearbeitet haben", wohnt Heinrich Ehlers mit seiner Frau Sieglinde.

Der blaue VW Polo, mit dem ich abgeholt wurde, hält, Herr Ehlers zieht den Schlüssel ab und öffnet die Tür. Als ich schon mit einem Bein auf dem eisigen Parkplatz stehe, fällt mein Blick noch auf die Zeitschrift auf der Rückbank. Bevor sie Herr Ehlers herauszieht und in seiner Jackentasche unterbringt, kann ich noch die Formen eines KZ-Wachturms am Cover ausmachen.

Während Herr Ehlers sein Schrebergartenhäuschen aufschließt, betrachte ich die hebräische Aufschrift am linken oberen Rand der Eingangstür. "Heini Ehlers", heißt das, lächelt Herr Ehlers.

Ich werde gebeten, meine Schuhe auszuziehen, bekomme Hausschlapfen und werde ins Wohnzimmer geführt. Ich darf mir die Teesorte und Zuckersorte aussuchen und werde zum Krapfenessen aufgefordert. Das Loch für die Marmelade zu finden ist immer lästig, sage ich. Mir gegenüber sitzt Herr Ehlers und schlürft ebenfalls an seinem Waldbeeren-Tee. Links und rechts an den Wänden hängen verzierte Keramik-Teller mit touristisch-großer "Jerusalem"-Aufschrift. In den Regalen schlichten sich "Best of Yiddish Music" und "Yiddisch Traditional Music"-CDs. Und neben mir am Tisch liegt die Zeitschrift mit dem KZ-Wachturm. Jetzt, da ich mir das Foto näher ansehen kann, erkenne ich auch den Stacheldrahtzaun und die Überschrift in hebräischen Schriftzeichen.

Heinrich Ehlers, geboren 1939 in Wien, ist ein sogenannter Zeitzeuge; vielmehr ein "U-Boot" - einer der wenigen Juden, die im Untergrund überlebt haben. Und trotz Überlebens ist auch er ein Opfer der Nazi-Zeit. Zeitlebens.

Er hatte sich dazu bereit erklärt, mir seine Geschichte zu erzählen. Seine Blicke sind nunmehr erwartungsvoll auf mich gerichtet. Ich merke, dass jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt wäre, meine mir zurechtgelegten Einführungsworte aufzusagen. "Ich finde es bewundernswert, dass Sie sich bereit erklärt haben … um ein ganzheitliches Bild von der Zeit des Nationalsozialismus zu erhalten, sind persönliche Berichte von unschätzbarem Wert …" Nach drei derartigen Füllsätzen entsteht eine Pause; Herr Ehlers sieht hinüber zum Keramik-Teller aus Jerusalem, dann mustert er mich prüfend. Bevor ich weiterreden kann, beginnt er:

"Ja, wissen Sie, ich hab ja die damalige Zeit erst ab dem dritten Lebensjahr, also ab 1942, bewusst erlebt. Es dreht sich also vornehmlich um die Geschichte meiner Eltern …" Übergangslos steigt er in die Familiengeschichte ein. Er beginnt bei seiner Großmutter väterlicherseits, Henriette. Sie entstammt einer traditionsbewussten jüdischen Familie mit Prager Wurzeln. Sein Vater Heinrich, eher areligiös, ist Lederwarenerzeuger in Wien, außerdem erster Geiger bei den Wiener Symphonikern und sehr sportlich. Ein stattliches Photo wird gezeigt. Mutter Adele - eine Christin, Tochter deutschstämmiger polnischer Eltern, ist staatenlos. Schon früh beginnt sie als Hausmädchen zu arbeiten, meist in jüdischen Familien. So lernt sie jüdische Bräuche und Sitten.

Ich schreibe die wichtigsten Daten in mein Heft. Herr Ehlers wartet immer geduldig, bis ich zu Ende geschrieben habe. Es scheint, als hätte er diese Geschichte schon sehr oft "zum Notizenmachen" erzählt.

Vater und Mutter lernen sich im Jahr 1938 kennen. Eine Heirat der Arierin mit dem Juden ist auf Grund der Rassengesetze nicht mehr möglich. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung an ein baldiges Ende des nationalsozialistischen Terrors glaubt, erwägt der Vater die Ausreise nach Amerika. Letztlich aber verzichtet Vater Heinrich auf die Flucht. Seine Mutter, eine streng gläubige Jüdin, ist körperlich bereits zu schwach für eine Flucht. Und auch seine geliebte Adele will er unter keinen Umständen zurück lassen. Aber er kann anderen helfen. Im Schnellverfahren lehrt er auswanderungswilligen Juden das Lederhandwerk, um ihnen das Aufnahmeverfahren in die Vereinigten Staaten zu erleichtern. Damals musste man, um ein Visum zu bekommen, nachweislich ein Handwerk ausüben.

1939 erfährt die Familie die Ausweglosigkeit der Situation. Die Gestapo stürmt und plündert die Werkstatt und Wohnung des Vaters und nimmt ihn gefangen. Ein Freund ermöglicht fürs erste die Flucht aus dem Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz, ein weiterer Freund, ein Arzt, rät ihm und seiner Mutter unterzutauchen und so das Ende der Nazis abzuwarten.

In größter Eile wird eine Kellerwohnung in einem ruhigen Gässchen im 5. Bezirk gefunden. In zwei Zimmern mit insgesamt 20 Quadratmetern müssen nun der kleine Heinrich Ehlers, sein Vater, seine Mutter sowie seine Großmutter leben. Mutter Adele und Sohn Heinrich sind gemeldet; ihnen droht keine Gefahr von Seiten der Behörden, da nur Vater und Groß-mutter Juden sind und Heinrich offiziell von einem verschollenen - natürlich arischen - Soldaten gezeugt wurde. Diese Kellerwohnung - eng, feucht, schimmelig - wird die Bleibe für die nächsten sechs Jahre.

Der Tee ist ausgetrunken, die Krapfen gegessen. Heinrich Ehlers führt mich in den ersten Stock, wo wir auf dem Sofa Platz nehmen. Er erzählt weiter.

Von Beginn an wagt sich der Vater immer wieder aus dem Kellerversteck, um Essen zu beschaffen und um Rohmaterial für seine Ledererzeugnisse zu besorgen. Die Familie lebt von seinen Produkten, die er im kleinen Keller auf einer Werkbank herstellt.

Als 1940 Heinrichs Bruder Erich auf die Welt kommt, wird das Zusammenleben auf engstem Raum noch schwieriger. Die Kellerfenster sind verbarrikadiert. Durch die Lichtschlitze sieht man "exerzierende Stutzen" vor dem Hauptquartier der HJ, das sich genau auf der anderen Straßenseite befindet. Die religiöse Großmutter hält sich immer noch streng an Fasten- und Gebetsvorschriften, was zu Streitereien mit der Mutter führt.

Man versucht die beiden Buben mit selbstgebasteltem Spielzeug zu beschäftigen. Nur selten dürfen die Kinder ins Freie, und wenn, nur unter Begleitung. Der Vater hat jetzt zur Not einen gefälschten Ausweis, wie durch ein Wunder kann er sich aber aller Kontrollen auf seinen Ausflügen entziehen. Auch im Wohnhaus finden keine Durchsuchungen statt. Vater Heinrich schlägt sich mitunter bis nach Nieder-österreich durch, um mit Verwandten seiner Adele in Kontakt zu treten. Oft bleibt er mehrere Tage weg, zweimal - so die Erinnerung von Sohn Heinrich - "gehen der Mutter die Nerven durch". Im festen Glauben, ihr Mann sei gefangen und möglicherweise sogar schon tot, beschließt sie sich mitsamt den Kindern und der Großmutter umzubringen. Beim ersten Ver-such kann der Vater gerade noch rechtzeitig eingreifen. Beim zweiten Mal sind die anderen Bewohner des Hauses zur Stelle.

"Die anderen Bewohner?", frage ich staunend. "Ja", sagt Heinrich Ehlers, "es gab auch anständige Menschen in dieser Zeit. In diesem Haus im 5. Bezirk wussten ausnahmslos alle von uns drunten im Keller. Alle haben dicht gehalten, einige haben uns auch geholfen. Vor allem das Hausmeisterpaar Nahodil hat uns immer wieder zu essen gegeben." Selbst die Familie eines SS-Offiziers im Haus weiß von den Juden im Keller. Die Gestapo wird trotzdem nicht informiert. Noch nicht.

Ich schaue in sein Gesicht, versuche die Spuren des Schicksals zu lesen. Herr Ehlers hat den Blick auf einen Stift gerichtet. Er ist sehr ruhig, seine Rede klar, die Worte präzise gewählt, ja auch abgerungen. Ich spüre, dass es für vieles in seiner Kindheit keine Worte gibt.

Im Keller wird der Zustand der Großmutter unterdessen immer besorgniserregender. Da keine Medikamente verfügbar sind, rechnen die Eltern mit dem Schlimmsten. Wie aber ist dann vorzugehen? Ein Begräbnis ist ja nicht möglich. Kann man die verstorbene Großmutter einwickeln und irgendwo auf die Straße legen? Schließlich bessert sich Henriettes Zustand von selbst. Die drückende Atmosphäre voller Angst und Ungewissheit aber bleibt.

Im Jahr 1944 kommt Schwester Hermine zur Welt. Die Entbindung findet im Krankenhaus statt, da die schon sehr schwache Mutter dringend ärztliche Hilfe benötigt. Nach der Rückkehr ist es in der Kellerwohnung noch ein Stückchen enger. Das kleine Mädchen wird von den Hausbewohnern mitbetreut. Es gibt immer weniger zu essen. Im Dezember 1944 befällt Heinrich eine bedrohliche Lungenkrankheit, er wird vom Vater ins Spital gebracht. Der Vater gibt an, ein entfernter Verwandter des Buben zu sein. Die Ärzte schöpfen zwar Verdacht, lassen sich aber nichts anmerken. Wenige Minuten nach Heinrichs Entlassung aus dem Krankenhaus zerstört ein Bombentreffer die Kinderstation. Es sterben 130 Menschen - Kinder, Ärzte, Schwestern.

Der Krieg neigt sich dem Ende zu, die Russen stehen vor Wien und die Gestapo wird immer nachlässiger. Kurz vor Kriegsende werden die sechs U-Boote in der Kellerwohnung doch noch verraten. Es wird angenommen, dass die Frau des SS-Offiziers im Haus in einer letzten Kurzschlussaktion die Juden ausliefern wollte. Sie werden gewarnt und können entkommen. Dann sind schon die Russen da. Österreich ist befreit. Sechs lange Jahre im Keller sind überstanden.

Heinrich Ehlers lehnt sich in den Sessel zurück. Seine Augen-Blicke werden wieder persönlicher, fordernder, lebhafter. Der Zeitzeugenbericht ist abgelegt. Bis zu diesem Moment saß ich da, hörte zu und schrieb mit. Irgendwie kam ich mir wie ein Journalist vor, der Herrn Ehlers über die Kriegsjahre befragt hat, der einen Bericht mitgeschrieben hat. Er macht eine Pause und wartet.

"Bleiben Sie noch", sagt er. "Meine Geschichte geht noch weiter. Eigentlich fängt sie ja jetzt erst an." Ich versichere ihm, dass ich gerne weiter zuhören will. Er überlegt kurz, dann erzählt er. Nicht über seinen heldenhaften Vater oder seine ausdauernde Mutter, sondern über sich.

Jahrzehnte nach dem Krieg, 1981, habe er einen Opferausweis bekommen. Er hätte sich nie wieder bei der Oper an der Kassa anzustellen brauchen oder am Naschmarkt. Dafür habe er den Schein jedoch nie benützt. Nein, so etwas hatte er nie getan, so etwas wäre ihm zu blöd gewesen. Das Einzige, das er in dieser Zeit der Aufarbeitung wollte, war Anerkennung. Anerkennung der Angst, Anerkennung der Ungewissheit, die sein Dasein sechs Jahre lang beherrscht hatten. Die "Massen am Heldenplatz" und die "Parteimitgliedschaft" müsse man differenziert sehen, sie aus der Zeit heraus verstehen ... aber einen Ersatz für diese Anerkennung gäbe es nicht. Und genau diese war nie offiziell ausgesprochen worden, auch nicht von jener Nachkriegs-Regierung, deren Mitglieder zum Teil selbst "die Normalität des Nazi-Terrors" in den KZ miterlebt hatten.

Gleich nach dem Krieg sind die Mutter und die drei Kinder zum Judentum übergetreten, was auf Grund der zahlreichen Vorschriften und Bräuche sehr schwierig gewesen sei, doch letzten Endes sei die Mutter schon immer mehr jüdisch gewesen als der atheistische Vater. Er selbst, stellt Heinrich Ehlers fest, habe mit Gott nicht sehr viel am Hut. Schließlich könne man ja auch ohne Religion anständig sein. Trotzdem: auch wenn er mit dem jüdischen Glauben nicht allzuviel anzufangen wisse, fühle er dennoch "eine tiefe Verbundenheit zum Judentum". Er sagt, er sei Teil der jüdischen Schicksalsgemeinschaft.

Ich überlege kurz, dann frage ich, ob er schon einmal in Israel gewesen sei. Er lächelt. Was für eine naive Frage. "15 Mal" sagt er ohne nachzuzählen. Er habe auch fünfeinhalb Jahre dort gelebt und es ziehe ihn seitdem immer wieder dorthin. Israel: das Leben sei dort viel härter und schwieriger als hier. Aber viel freier und schöner. Die Eltern hätten schon 1948 auswandern wollen, aber wieder wollte der Vater nicht weg von Wien, von seiner Stadt. Heinrich selbst ist 1957, gleich nach seiner Abschlussprüfung zum Automechaniker, auf und davon. Einige Zeit ist er mit einem Freund noch durch Europa gereist, als Abschluss sozusagen, dann endlich in Israel angekommen. Damals war er 18 Jahre alt. In einer Kibuzz-Siedlung, einer landwirtschaftlichen Gemeinde, lebte er die ersten zwei Jahre: "Hart, aber frei", wiederholt er. Auch Nicht-Juden seien dort gewesen, ein entfernter Verwandter von Udo Jürgens zum Beispiel. Er reicht mir ein Foto, das ihn, den jungen Heinrich, umringt von strahlenden Menschen mit sonnengebräunten Gesichtern, vor einem Bagger zeigt. Hart, aber frei.

Langsam entwickelt sich das Gespräch zu einem Dialog. Nichts Monotones, nichts Mechanisches mehr liegt in seiner Stimme. Ich schreibe nun nicht mehr mit, sondern höre zu und stelle Fragen. Zum Beispiel, ob seine Ausreise eher ein weg von Österreich oder ein hin zu Israel gewesen sei. Natürlich ein Hin zu Israel, meint Herr Ehlers - und bietet mir noch Schokolade an. Er sei, schließt er an, auch drei Jahre in Israel beim Militär gewesen. Zimperlich wäre man dort nicht mit ihm umgegangen. Ob ich auch zum Militär gehen werde, fragt er. Nur wenn der Präsenzdienst verkürzt wird, sage ich. Naja, dort unten brauche man das Militär, meint er. Wahrscheinlich, antworte ich.

Warum er jetzt doch wieder in Österreich lebe, frage ich. Wegen seiner Frau, sagt er. Sie sei nicht sehr begeistert vom Leben in Israel, also bleibe er da.

Während eines Besuchs am Semmering habe er sie kennengelernt. Er sei zwar immer wieder zurück nach Israel, aber nur um seine Schwester zu besuchen, die dort lebe. Hier in Österreich sei er "picken" geblieben. Ob er zwei Heimaten habe, frage ich. Ja, er sei Österreicher, aber tief drinnen gäbe es schon sehr viel Israel in ihm. In Israel, sagt er, werde auch geraubt, gehasst und getötet, aber nie könne man dort als Jude beschimpft werden. Überall sonst könne das passieren, nur dort nicht. Das sei das Wichtigste.

Ab 1980 haben sich bei ihm psychische Probleme bemerkbar gemacht. Wegen der Angst, die sich im Keller von den Eltern auf die Kinder übertragen habe. Wegen der Ungewissheit. Man habe als Kind ja nicht gewusst, warum man nie laut sein hatte dürfen. Nie weinen, lachen oder herumtollen durfte. Er hat sich so viele Jahre später, wegen Klaustrophobie, behandeln lassen. "Das haben sie nun aber überwunden", sage ich. "Ja", sagt er.

Kurze Stille. Gut, sagt er. Gut, sage ich. Das Gespräch geht zu Ende. Interessant sei es gewesen, meint er noch. Dann gehen wir die Treppe hinunter, um Schuhe und Jacken anzuziehen. Zur U6 möchte mich Herr Ehlers noch bringen. Als mir der kalte Wind ins Gesicht schlägt, blicke ich noch einmal zurück ins Auto. Sehr nett sei es gewesen, meint er. Nichts mehr Notizgerechtes liegt in seiner Stimme. Nur mehr ein bisschen Wehmut und Müdigkeit. Ja, sehr, sage ich.

Ein Glück, dass ich nie stenographieren lernen wollte. Mich fröstelt.

Florian Sommer, BG Perchtoldsdorf, 2005


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