Die letzten Zeugen - Das Buc

ERNST NEUMANN


 
 

ERNST NEUMANN

geb. 1922-08-22
lebt heute in Israel


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Doch das Leben schreibt seinen eigenen Weg.

Ernst und Irmgard Neumann haben in ihrem unglaublichen Leben immer wieder alles verloren - und immer wieder neu angefangen.

Als Erstes möchte ich hier erwähnen, dass die österreichischen Nazis wesentlich ärger waren als die deutschen Nazis zu dieser Zeit und sich in ihrem Benehmen wesentlich antisemitischer und schikanierender benommen haben als die Deutschen. Doch auch hier gab es Ausnahmen und ich war überrascht über zwei Glücksfälle, welche ich miterlebte.

Als Weiteres möchte ich noch erwähnen, dass ich sozusagen „Halbjude“ bin. Meine Mutter war geborene Katholikin, als sie meinen Vater heiratete trat sie jedoch zum Judentum über und war in unserer Familie die beste Jüdin von allen. Unsere Verbindung mit ihrer katholischen Schwester hat uns auch sehr viel geholfen.

Mein Vater war Generalsekretär bei der Anker-Versicherung am Hohen Markt und hatte eine sehr hohe Position inne. Im Jänner 1939 beendete er seine Arbeit bei der Anker-Versicherung und bekam die ihm gesetzlich zustehende Abfindung, ein großer Betrag, welcher es uns ermöglichte, schnell wegzufahren, als es dringend wurde. Er sollte im März eine Position als Direktor bei der Reunione de Adriatica Versicherungsgesellschaft antreten, zu dem es aber niemals gekommen ist.

Die erste Reaktion meines Vaters zur Zeit des Nazi-Einmarsches war: „Na, die Welt muss ja auch noch etwas dazu sagen.“ Gesagt hat sie nichts. Ich erinnere mich nur an die letzte Rede von Bundeskanzler Schuschnigg, welche er bereits im Gefängnis machte und welche mit den Worten endete: „Gott schütze Österreich“.

Nach und nach begann man sich mit der neuen Situation abzufinden. Man hörte über die ersten Konzentrationslager, wie Dachau, Birkenau, Wöllersdorf und andere. Viele Bekannte und Verwandte waren bereits verschwunden und meistens wusste man nicht wohin. Wahre und unwahre Geschichten wurden erzählt und man wusste nicht mehr, was man glauben sollte. Die Hausmeister waren eine ständige Bedrohung und man musste sich sehr in Acht nehmen, kein falsches Wort zu sagen. Man lebte in ständiger Angst. Nach einiger Zeit kam man dann zu dem Entschluss wegzureisen. Aber wohin?

Dafür waren viele Dinge notwenig: Zuerst eine Ausreisebewilligung, dann eine Einreisebewilligung in ein anderes Land, dazu die nötigen Durchreisevisa. Doch das „Ausland“, besonders die USA und England, habe sich zu dieser Zeit außerordentlich schlecht benommen, viele Juden kamen deshalb ums Leben. Zunächst benötigte man einen gültigen Reisepass, was sehr kompliziert und sehr teuer war. Man musste sich einen Nazi-Anwalt nehmen – jüdische Anwälte gab es ja nicht mehr – und diese nutzten die Gelegenheit aus, viel Geld zu machen. Dann brauchte man eine Ausreisbewilligung. Dazu musste man bei einem Amt in der Prinz-Eugen-Straße vorsprechen und um Bewilligung ansuchen. Man musste sich bereits um Mitternacht anstellen, um in der Früh Einlass zu bekommen. Die Anzahl der Personen war beschränkt und wenn man nicht dran kam, so musste man sich in der nächsten Nacht wieder anstellen. Dazu kam, dass die Nächte in den Herbst- und Wintermonaten eisig kalt waren, viele zogen sich schwere Verletzungen zu und starben auch teilweise daran. Und dann kam die wahre Schikanierung: Man musste warten, wurde auf den nächsten Tag verschoben, der Beamte ist gerade nicht da, kommen Sie doch morgen wieder. Das hieß wieder nachts anstellen und weiter hoffen. Dann hatte man endlich, wenn man Glück hatte, erreicht, was man wollte und bekam die verlangte Bewilligung. Bis man aber die zusätzlich nötigen Bewilligungen erhalten hatte, war die erste schon wieder abgelaufen und man musste um eine neue ansuchen. Und wenn man diese dann bekam, so waren die anderen Bewilligungen schon wieder abgelaufen. Dazu kam noch die ständige Angst vor willkürlichen Verhaftungen. Schließlich begann der Kampf um die Einreise in ein anderes Land. Auch der war sehr kompliziert. Die meisten Konsulate hatten Anweisungen „zu verschleppen“, unter tausend verschiedenen Ausreden wurde man hin- und hergeschickt. Dazu kamen Geldforderungen, welche man sich meistens nicht leisten konnte. Man hatte auch schon keine Kraft mehr, weiter zu kämpfen. Zudem wurden zu dieser Zeit die Juden ausgeraubt. Geschäfte und Wohnungen wurden „arisiert“ und für eine Bagatelle weg genommen. Man musste sein Einverständnis geben, sonst... Dadurch gingen auch die finanziellen Mittel zum Teufel, mit welchen man sich eventuell helfen hätte können. Man traute sich nur auf die Straße zu gehen, wenn es unbedingt nötig war. Und dauernd hatte man Angst, Angst, Angst.

Der nächste Schritt waren die Umschulungskurse. Die meisten Juden wollten noch einen neuen Beruf erlernen und besuchten solche Kurse. Auch mein Vater und ich besuchten so einen Kurs, welcher uns später in der Emigration sehr zu Hilfe kam. Wir lernten die Erziehung von chemisch technischen Artikeln, wie Seife, Schuhpaste, Bodenpaste und Handcremes. Mit Hilfe dieser Kenntnisse konnten wir wirklich eine neue Existenz in Shanghai beginnen. Dieser ganze Bericht soll bis jetzt vor allem die Situation darlegen, welche damals herrschte. Doch glaube ich kaum, dass jemand aus der heutigen Generation wirklich verstehen kann, was damals vor sich ging. Es ist schwer sich vorzustellen, dass es damals so viele schlechte Menschen gab, noch dazu Menschen, welche auf ihre hohe mitteleuropäische Kultur hinweisen wollten.

Nun zu meinen persönlichen Erfahrungen, welche meine Familie und ich in Wien hatten und vor allem die Erlebnisse, welche ich in der Emigration hatte. Ich habe bereits zu Beginn erwähnt, dass ich Halb-Jude bin. Ich war ein blonder, gut gebauter Junge und sah aus wie das Nazi-Model „Hitlerjunge Quex“. Dadurch hatte ich im Allgemeinen keine Schwierigkeiten auf der Straße. Die einzigen Anstöße hatte ich, wenn man mich bedrohte, warum ich beim Juden einkaufen gehe, was den Leuten einfach unverständlich war. Während mein Vater sich um die Ausreise bemühte, konnte ich mehr oder weniger tun und lassen, was ich wollte. Er hatte ja keine Zeit für mich, denn die Erledigungen waren eben ein „full-time Job“. Und meine Mutter war mit dem Haushalt sehr beschäftigt. Wir versuchten sehr, nach Paraguay zu fahren und bekamen von dort von einem Bekannten eine „Llanada“, eine Einreisebewilligung. Doch mussten wir dazu ein argentinisches Durchreisevisum haben, was eigentli8ch kein Problem sein sollte. Doch man verlangte Sh. 2,000,- für etwas, das eigentlich nur wenige Schillinge kosten sollte. Eine reine Erpressung. Mein Vater weigerte sich diesen Betrag zu bezahlen, und dabei blieb es auch. Es wurde weiter an der Auswanderung gearbeitet und es wurde immer schwieriger. Ich weiß aus guter Quelle, dass die amerikanischen Konsulate den Auftrag hatten, alle Anträge zu „verschleppen“. Ebenso waren auch die anderen europäischen Länder indoktriniert. Es gab nur wenige Ausnahmen, welche sich positiv zu unseren Problemen stellten. Die Schweizer beispielsweise stellten „Illegale“, über die Grenzen geflüchtete Juden zurück an die deutsche Grenze. Die einzigen, welche damals zu den Grenzgehern wegschauten, waren die Holländer und viele meiner Freunde gingen auf diese Art nach Holland, nur mit einem Rucksack. Es hatte ihnen leider nicht geholfen, denn Hitler kam sehr bald nach Kriegsbeginn nach Holland.

Und dann bekamen wir von meinem Onkel, dem Schwager meiner Mutter, einen Telephonanruf: Wir sollten SOFORT zu ihm kommen. Ohne weiteren Kommentar, denn er traute sich nicht zu sprechen. Er hatte eine kleine Wohnung in der Moritzgasse. Er sagte nicht mehr als „komme sofort“. Wir packten unsere Sachen zusammen, soviel wir konnten und fuhren zu ihm. Es war der Vorabend der Kristallnacht. Er fuhr sofort zu unserer Wohnung und klebte einen Zettel an die Tür, dass diese Wohnung von SA Sturmann sowieso beschlagnahmt ist. Wir erfuhren später, dass die Nazis, welche in die Wohnung kamen, sagten: „Na ja, da sind unsere Leut’ schon gewesen.“ Als wir nach drei Tagen in die Wohnung zurück gingen, kam natürlich sofort die Hausbesorgerin um uns zu erzählen, was alles war und wie sie uns beschützt hatte, und dass sie dringend eine Ottomane benötigte, welche bei uns stand und ob sie diese nicht haben könnte. Na ja, sie hat sie gekriegt. Das Leben ging weiter und die Zeiten wurden immer bedrohlicher und eines Tages bekam meine Mutter einen Telefonanruf: Hier ist die geheime Staatspolizei. Wir möchten Herrn Neumann sprechen. Ja er ist nicht da, wo ist er, er versucht eine Ausreise zu bekommen, wo, wann, wohin und wann kommt er nach Hause. Meine Mutter ist am Telefon fast in Ohnmacht gefallen. Als wir werden um 4 Uhr nochmals anrufen. Punkt 4 läutet das Telephon. Hier ist die geheime Staatspolizei, wir möchten Sie sprechen. Ja bitte, wann und wo – bei uns in der Zentrale am Morzinplatz – Ja bitte ich komme sofort. Mein Vater ging sofort hin und wurde in ein Zimmer vorgeladen. Und er hatte Glück. Es war ein mehr oder weniger anständiger Mensch. Das Verhör war: Wieso mein Vater auf der Bank Geld hatte. Mein Vater erklärte es ihm, dass es eine Abfindung von der Anker-Versicherung sei. Es wurde noch eine geraume Zeit weiter verhört, aber im Großen und Ganzen benahm man sich anständig. Wie er endlich entlassen wurde, sagte ihm der Mann noch: „Wissen’s was, paschens bald ab. Sie san auf der nächsten Liste.“ Am nächsten Tag ging mein Vater zum Lloyd Triestino und buchte 4 Fahrkarten nach Shanghai. Zuerst zwei für sich und mich auf der Viktoria und zwei für meine Mutter und meine Schwester, auf dem nächsten Schiff, die Conte Biancamano. Die einzigen Karten, welche noch zu haben waren, waren natürlich 1. Klasse und kosteten ein Vermögen. Im ganzen mehr als 10.000 Schillinge. Wir gaben ihm alles Geld, was noch übrig war und er verkaufte eine herrliche, wertvolle Bibliothek von uns um einen Pappenstiel, um die Fahrkarten zu bezahlen. Das war ca. 3 Wochen später, auf dem Schiff, welches nach Shanghai fuhr. Shanghai war eine internationale Freistadt und man benötigte keine Einreisebewilligung. Sofort nach unserer Abreise ging meine „arische“ Familie in unsere Wohnung, natürlich mit unserem Einverständnis und mein Vater bekam diese auch wieder zurück, als er nach Wien zurückkehrte.

Hierzu noch einige Anmerkungen, über meinen „arischen“ Familienteil. Sie waren uns natürlich sehr zugetan. Mein Onkel Sepp war bei Weitem mein Lieblingsonkel. Und ich habe ihn noch immer in sehr lieben Angedenken. Er war geborener Reichsdeutscher und musste natürlich in der Partei sein, was er hasste. Er hatte einen Sohn aus erster Ehe, welcher Sturmbannführer in der SS war oder so etwas ähnliches. Ein verbissener, grausamer Nazi. Er hätte auf Befehl seinen Vater oder seine Mutter ohne ein Wimpernzucken umgebracht, wäre die Hilfe meines Onkels zu Tage getreten. Er und sein Sohn, 16 Jahre alt, sind wenige Tage vor Kriegsende im „Volkssturm“ gefallen.

Der Besuch meines Vaters bei der Gestapo war am 20. Dezember 1938 und am 22. Dezember waren wir bereits nach Genua unterwegs. Und an der Grenze hatten wir wieder Glück. Der Zollbeamte an der Grenze schaute unser Gepäck, welches aus 3 Koffern bestand, kaum an. Und ein mitfahrendes Ehepaar befragte er ob sie Schmuck hätten. Diese zeigten ihm all den wertvollen Schmuck, welchen die Frau trug. Na sagte dieser, das ist eh alles unecht und ließ es durch. Ich muss immer an diese 2 Episoden denken, welche mir bewiesen, dass es dich noch anständige Menschen gab und ich habe dieses Vertrauen nie verloren. Auch Ihr Kinder solltet dieses Vertrauen nie verlieren und solltet immer daran denken, dass der „Badezimmerspiegel“ das wichtigste Möbel in Eurem Leben sein kann, denn da müsst Ihr Euch in die eigenen Augen schauen und wenn das nicht geht, so ist es nicht gut um Euch bestellt.

Ich habe in meinem weiteren Leben auch sehr viele gute Menschen kennen gelernt. Doch leider werden diese immer weniger und sind immer mehr „unsichtbar“.

Soweit meine Geschichte aus Wien bis zu meiner Abreise. Wir haben in Wien Gott sei Dank keine körperlichen Schäden erlitten, doch soll es genügen festzustellen, dass wir alles verloren haben. Eine gute Existenz, die gute Stellung meines Vaters, Geld, Wohnung, etc. Wir fuhren mit nur 10 Schilling und jeder mit einem Koffer ins Ungewisse.

Die Geschichte meiner Frau war gänzlich verschieden, für ihre Eltern war es viel schwieriger und sie konnten erst 1940 via Sibirien nach Shanghai ausreisen. Sie wird ihre Erlebnisse selber erzählen und unabhängig darüber schreiben.


Shanghai

Ich möchte diese Gelegenheit auch dazu nützen Euch einiges über meine Erlebnisse in Shanghai zu erzählen, in der Hoffnung, dass diese Euch vielleicht einmal helfen könnten.

Unsere Reise nach Genua war ereignislos, aber für mich sehr eindrucksvoll. Alles was wir hatten waren 10 Schilling und etwas Board-Geld, welches man mit dem Ankauf der Karten mitkaufen konnte. Die „Viktoria“ war ein Luxusschiff und wir hatten noch nie so etwas gesehen. Die Reise ging durch den Suez-Kanal. Unser erster Stop war in Suez und der nächste war in Mombassa, ein kleiner Hafen in Eritaea. Dort bekam ich meinen ersten Eindruck von Armut, großer Armut. Abgemagerte und verhungerte Hafenarbeiter versuchten bei der Ankunft irgendetwas zu bekommen. Alles was sie hatten war ein weißes Leintuch als Bekleidung und als Decke in der Nacht zu zudecken, wenn sie auf den Steinen des Hafens schliefen. Die Nächte waren auch sehr kalt, doch habe ich später noch viel mehr Armut in China gesehen, eine für Europäer unvorstellbare Armut.

Weiter ging unsere Reise mit Stops in Bombay, Singapur, Manila und Hongkong. Dort bekamen wir das erste Mal Chinesen zu sehen und diese sahen ganz anders aus, als wir Vorstellung hatten. Vornehme hochintelligente Menschen, gut angezogen, die Männer europäisch und die Frauen super elegant in chinesischen hoch eleganten Kleidern, welche alle an der Seite sehr hoch hinauf geschlitzt waren. Viele unserer Europäer hatten kein Verständnis dafür und beanständigten die „Unanständigkeit“ dieser Kleidung. Doch kenne ich wenige Kleider, welche der Eleganz dieser Kleidung gleichkommen. Leider ist sie heute, auch in China, fast gänzlich verschwunden. Laut verschiedenen Berichten hatten wir eine Vorstellung von Shanghai: Ein Europäisches Viertel und ein Chinesisches Viertel. Eine vollkommen falsche Vorstellung, wie sie falscher nicht sein konnte. Shanghai war und ist eine riesige internationale Großstadt, zu deren Vergleich Wien wie ein Dorf aussah. Eine Millionenstadt, damals ca. 7 Millionen Einwohner, vollkommen Chinesisch. Es gab zwar Stadtteile, wie die „French Town“, das „Internationale Settlement“ etc. Aber das waren nur Verwaltungsbegriffe. Die Stadt war und ist chinesisch. Aber es war damals schon eine Großstadt, welche sich mit New York und London messen konnte. Heute hat Shanghai glaube ich die meisten Großstädte überflügelt. Also, wie gesagt, nach ca. 30 Tagen kamen wir in Shanghai an und es begann uns langsam ein Licht aufzugehen, wohin wir gelang waren. Es gab damals in Shanghai eine sehr reiche jüdische Kolonie, meistens irakische Juden, von immensem Reichtum. Sir Viktor Sassoon konnte sich mit einem Rockefeller gleichstellen. Von all dem hatten wir natürlich keine Ahnung. Doch diese Gruppe von Menschen hat sich der Neueinwanderer angenommen und hat viel geholfen. Es wurden sofort einige Komitees gegründet, ein Aufnahmeheim wurde gebaut und später entwickelte sich eine jüdische Gemeinschaft von ca. 30,000 jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich. Die meisten bekamen eine Unterstützung vom „JOINT“ eine jüdische Organisation in den USA, welche viel Geld für den Unterhalt der Juden in Shanghai spendete.

Die Ankunft in Shanghai, unser Schiff landete am „BUND“, war etwas ganz Imposantes. Es war eine der Prunkstraßen in der Welt und wir konnten unseren Augen nicht trauen. Niemand hatte so etwas je gesehen... Unser Schiff, welches ca. 2500 Menschen brachte, wurde sofort abgeladen, die Flüchtlinge wurden auf Lastautos gesetzt und wurden in das mehr oder weniger vorbereitete „Heim“ gebracht. Irgendwie lernte ich dort einen Mann kennen, ein gewisser Dr. Didner aus Graz. Er war selber ein Flüchtling und war nur 2 Wochen vor uns angekommen. Er war gerade im Begriff ein Spital aufzubauen. Er bot uns an im kommenden Spital zu wohnen, aber nur für 2 Wochen, dann benötigte er das Zimmer für Spitalszwecke. Wir akzeptierten natürlich und aus dieser Begebenheit entwickelte sich eine innige Freundschaft, welche bis zu seinem Tod erhalten blieb. Er verstarb vor ca. 10 Jahren in New York. Er war ein großer Helfer für die Juden in Shanghai. Er war ein Sportler, ein Boxer und er hat alle Sportler die ganze 10 Jahre lang kostenlos betreut. Ich selber war auch Boxer, Schwergewicht und wir haben jahrelang täglich zusammen trainiert. Aber auch alle anderen Sportler wurden von ihm umsonst behandelt und wann immer irgendjemand etwas brauchte, war er da. Er war einer von den mir vorher erwähnten „guten Menschen“, von denen es heute nicht mehr viele gibt.

Es ist fast unglaublich, wie sich diese jüdische Emigration, welche ja nichts hatte, entwickelte. Geschäfte wurden eröffnet, Betriebe wurden gegründet und vor allem wurde auch eine Menge gehandelt. Es dauerte natürlich einige Zeit, bis man die Art zu leben in Shanghai erfasst hatte, aber letzten Endes ging es aufwärts. Mein Vater und ich hatten unsere chemisch-technische Erzeugung, welche uns bis Pearl Harbor 1943 ernährte. Unwahrscheinlich war auch die kulturelle Entwicklung. Es gab Theatervorstellungen von fast allen Operetten, Konzerten für Klavier und Violine, verschiedene Sänger waren Mitglieder der Oper in Shanghai. Aber auch die Shanghaier Munizipalität hatte ein Orchester mit großen Konzerten, es gab Freiluft Konzerte (umsonst), Kinos von einer Größe und Eleganz, welche in Wien damals unvorstellbar gewesen wären. Elegant wie die Wiener Oper. Also, wie gesagt, langsam ging es aufwärts.

Ich möchte hier noch erwähnen, dass sich die Europäer sehr anständig zu uns benahmen. Da gab es beispielsweise eine Gruppe von wohlhabenden und reichen Engländern, welche jede Woche einen Nachmittag dazu benutzten uns Englisch beizubringen. Von einem Pastor in der Kirche organisiert kam man einmal in der Woche zusammen. Es gab Kaffee und Kuchen (ich war ja immer hungrig) und man sprach NUR Englisch. Meine ersten Englisch-Kenntnisse stammen aus diesen Zusammenkünften.
Dann gab es da die Reichsdeutschen. Alle waren natürlich Parteimitglieder. Sie mussten ja. Doch waren diese zu jeder Hilfe bereit.
Ich erinnere mich noch, dass ich eines Tages zu den IG Faben ging. Ich brauchte Nigrosin. Ja, natürlich können Sie das bei uns bekommen. Wie viel brauchen Sie denn? Na, ca. 1 kg. Das tut mir aber leid, wir verkaufen dies nur in Fässern von 150 kg. Aber wissen Sie was, ich schicke Ihnen einige Muster. Ich glaube, ich hätte bis heute noch Nigrosin.
Ein anderer IG Farben-Mann, welcher mit meinem Umschulungslehrer bekannt war, informierte ihn, dass eine chinesische Fabrik um 10% zu kaufen sei. Schön. Aber womit?? Na, das ist kein Problem. Hier hast Du einen Check über $ 10,000,- Gib sie mir später zurück. Alles ohne irgendein Papier. Er bekam das Geld natürlich bald zurück. Mein Lehrer, sein Name war Egon Starer, fuhr später nach Australien und verstarb dort als Millionär. Eine andere Anekdote, welche ich Euch hier erzählen möchte: Eine Zeit lang war ich Zeitungsausträger für die Shanghai Daily News. Ich hatte eine Route von ca. 20 km, alles mit dem Fahrrad und zeitig in der Früh im Winter. Meine Route begann um 4 Uhr früh. Es war Winter, eisig kalt, Glatteis, Regen etc. Einer meiner Kunden war ein Herr Ing. Töpfer und Frau. Er war ein jüdischer Flüchtling aus Wien und seine Frau war eine zum Judentum übergetretene Christin. Also wie gesagt, ich kam da eines Tages, wie immer um 7 Uhr, vollkommen nass und ausgefroren mit der Zeitung. Sie war entsetzt. „Kommen Sie bitte sofort herein und trocknen Sie sich ab und kommen Sie zu uns zum Frühstück.“ Und seit diesem Tage haben diese beiden Leute täglich mit dem Frühstück gewartet bis ich kam um mit ihnen am selben Tisch frühstückte. Dies gehört auch zu meinen „guten Menschen“.

Eine Amerikanerin vom JOINT vermittelte mir dann einen Job bei einer amerikanischen Firma „York Shipley“ als Lehrjunge. Ich war relativ sehr gut bezahlt (nach Emigranten Begriffen). Mein Chef war ein russischer Ingenieur, welcher die Fabrik mit ca. 100 Arbeitern, 95% Chinesen, leitete. Eines Tages gab er mir einen Job, in eine Eisenplatte mit einem Meissel eine Rille zu schneiden.
Also, ich nahm mich zu der Arbeit. Ich kopierte das Gehaben der chinesischen Arbeiter. Große Meissel, kleine Meissel, Ölwanne, großer und kleiner Hammer, Feilen etc. Das alles kugelte bei mir am Tisch herum. Also, er kam und schaute mir bei der Arbeit zu. Nach ca. einer Minute ließ er mir einen Hammer auf die Füße fallen. Ein wenig später schüttete er eine Ölwanne auf mich aus. Was soll das? Seine Antwort war kurz und bündig: No good workplace, no good work. (Kein guter Arbeitsplatz. Keine gute Arbeit.) Es wurde mir ein Leitspruch in meinem späteren Leben als Besitzer und Leiter der größten Fiberglas Fabrik in Israel.
Sie verschaffte mir auch einen Studienplatz in einer Abendschule für Elektro-Engineering, wo ich mir ein Wissen angeeignet habe, welches mir später sehr zu Gute kam.
Ich kann Euch nur raten NIE zu lernen aufzuhören. Ein großes Wissen ist das größte Gut welches ihr erarbeiten könnt.

Und dann kam die Proklamation.


Das Ghetto

Nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor wurde Shanghai von den Japanern besetzt. Europäische und amerikanische Staatsbürger, welche es schon fast gar nicht mehr gab, wurden in Lager geschickt. Die Deutschen, welche damals gerade vor Stalingrad standen, forderten die Japaner auf, die Juden auf einer Insel zu vergasen. Die Japaner weigerten sich und gründeten das Shanghai Ghetto. Wieder musste man alles stehen lassen und laufen. Für das was man hatte, bekam man nichts, denn man musste ja sowieso weggehen. Und für ein Loch im Ghetto musste man alles, was man hatte, bezahlen. Die Gelegenheit wurde natürlich von den Chinesen ausgenützt für nichts alles zu bekommen. Meine Frau, welche ich damals noch nicht kannte, musste alles liegen und stehen lassen und mit ihren Eltern ins Ghetto übersiedeln. Für ihre Wohnung bekam sie nichts und für ein Loch von 3x4 Meter musste sie alles hergeben, was sie noch besaß.

Für mich war es ein Glückstag. Ich lernte sie im Ghetto kennen und heute sind wir 63 Jahre verheiratet, haben 2 Kinder, 6 Enkeln und 7 Urenkeln.

Jetzt wurde das Leben natürlich ganz anders.
Als erstes verlor ich meinen Job. Mein Vater musste den Betrieb zusperren. Glücklicherweise war unsere Wohnung im Ghetto Viertel und so mussten wir nicht übersiedeln.
Und jetzt musste man sich nach einer neuen Existenz umsehen. Ich war technisch begabt. Ich nahm mein Fahrrad, zerlegte es komplett und baute es wieder zusammen. Es fuhr tadellos und jetzt war ich Fahrradschlosser. Es gab in Shanghai Millionen Fahrräder und Tausende Fahrradwerkstätten. Aber etwas fiel eben auch für mich ab und war dies der Grundstock unseres Lebens. Dazu kamen natürlich noch viele andere Erwerbsmöglichkeiten. Wir erzeugten Klosettpapier nach Wiener Art, aus dem Kasterl gezogen. Wir knüpften Gürtel und Handtaschen aus Seidenschnüren, die Mütter strickten für verschiedene Organisationen etc. Ich z.B. baute Generatoren mit Fahrradantrieb. 6 oder 8 Fahrräder auf eine Gleichstrom Generatorwelle gesetzt für Chrombäder, Tropf-Öfen zum Heizen, Garnumspulungsmaschinen, regenfeste Handschuhe für die Fahrräder und vieles mehr. Alles, was irgendwie Geld einbringen könnte.
Bei dieser Gelegenheit bekam ich von meinem Vater eine Lektion, welche ich niemals vergessen habe. Ich musste für ein Fahrrad eine neue Felge einspeichen und auszentrieren. Das ist eine Spezialarbeit, sagte ich, ich gebe das morgen zu dem Chinesen, und ging zum Fußballmatch.
Mein Vater hatte zwei linke Hände, aber als ich zurückkam war die Felge eingespeicht und zentriert. In meinem Leben habe ich nicht mehr gesagt „Ich kann das nicht“. Es war dies ein Grundsatz, welcher mir eine führende Stellung in der Fiberglas Industrie verschaffte.
Mein Schwiegervater ging in die Gemeinschaftsküche Essen holen: Kascha und rote Linsen. Bis heute würde ich dies nie wieder essen. Ein großes Problem war das Wasser. Man durfte NUR gekochtes Wasser trinken. Und dies konnte man in Wasser Geschäften kaufen. Kochgeräte waren „Blumentöpfe“, ausgehöhlte Blechgeschirre mit Schamott bezogen und mit Kohlenbriketts beheizt. Es ist nur ein Wunder, wie es unsere Mütter zusammenbrachten, jeden Tag ein Essen auf den Tisch zu stellen.
Doch das Leben im Ghetto wurde immer schwieriger und gefährlicher. Je mehr die Japaner am Pazifik verloren, desto unangenehmer wurden sie. Die Verdienstmöglichkeiten wurden kleiner und kleiner. Die Amerikaner bombardierten und wir wussten nicht mehr, ob wir uns darüber freuen sollten oder nicht. Jede Bombe brachte doch das Kriegsende näher. Aber wir saßen natürlich darunter??
Und dann kam ein neues Gerücht auf: Die Japaner werden uns zum Straßenbau ins Innere Chinas senden. Das war im Juli 1945. Und da beschlossen wir zu heiraten, in der Hoffnung, dass wir dadurch zusammen bleiben werden. Wir beschlossen das Datum zwischen unseren Geburtstagen festzulegen, dem 12.August 1945. Knapp vor dem erwähnten Datum kam das Gerücht über die Atombombe auf Hiroshima auf. Wir wussten natürlich nicht, ob es wahr oder nur ein Wunsch sei. Jedenfalls, am 12.August fuhren wir in die Synagoge um zu heiraten und da sagte uns der Rabbiner, dass es die ERSTE HOCHZEIT nach Kriegsende sei. Ein schöneres Hochzeitsgeschenk konnten wir uns nicht wünschen!

Wenige Tage später kamen die Amerikaner und Shanghai war wieder eine Freistadt. Das Leben ging wieder aufwärts. Ich bekam einen guten Job bei der Shell Co. Unsere Tochter wurde geboren und wir dachten gar nicht daran von Shanghai wegzufahren. Doch das Leben schrieb seinen eigenen Weg. Die Kommunisten kamen immer näher. Es gab schon gar keine Europäer mehr und wieder bekamen wir Angst. Es wurden schnell drei Schiffe angesagt, welche nach Israel gingen. Die Abreise war in nur 3 tagen. Und wieder ließen wir alles liegen und stehen und fuhren mit zwei Kisten und einem Koffer nach Israel. Es war eine schwierige und anstrengende Reise. Zwei Monate lang, um Afrika herum dauerte die Reise unter sehr schlechten Bedingungen. Wenig zu essen, sehr eng einquartiert in großen Sälen. Und so kamen wir schließlich am 15.Februar 1949 in Haifa an.


Israel

Bevor ich beginne über meinen Weg in Israel zu schreiben, möchte ich Euch noch einiges über das Land Israel erzählen. Dies sind Informationen, welche ihr meistens nicht in der Zeitung in der im Fernsehen zu hören bekommt.

Vorerst: In meinen Augen ist die Weiderbelebung der Hebräischen Sprache eine der größten kulturellen Leistungen des Jahrhunderts. Eine tote Sprache, die nur in Gebeten benutzt wurde, ist plötzlich eine Landessprache geworden. Man schreibt damit Geschichte, Literatur, wissenschaftliche Abhandlungen, kurz alles, was jede andere Sprache kann. Es ist unwahrscheinlich und imponierend, dass so etwas zu Stande kam. Es ist dies wahrscheinlich auch einer der Gründe, dass man Juden aus aller Welt, alle mit verschiedenen Manieren und Sprachen zu einer Nation verbinden konnte.

Direkt nach dem Krieg, als Folge der Judenverfolgung, wurde Israel gegründet. Es gab damals in „Palästina“ ca. 600.000 Juden und ebenso viele Araber. Damals gab es noch keine Palästiner. Die UNO beschloss das Land zu teilen und dies wurde von uns akzeptiert. Doch nicht von den Arabern. Sämtliche arabische Staaten, unterstützt von den Engländern, stürzten sich auf das kleine unvorbereitete „Israel“, wie das Land genannt wurde. Und seit diesm Krieg gab es mehr oder weniger intensive, große Kriege oder keleine Angriffe von allen Seiten.

Es würde zu weit führen, alles was sich ereignet hat, zu erzählen und zu diskutieren. Doch will ich nur eines feststellen:
Niemand wünscht sich mehr Frieden als die Israelis.
Und trotz dieser riesigen militärischen Belastung, 60 Jahre Krieg, gelang es uns ein fantastisches land aufzubauen. Israel hat seine Einwohnerzahl mehr als verzehnfacht. Welches andere Land in der Welt ist im Stande so eine Leistung durchzuführen. Stellt Euch vor Österreich müsste heute 60,000.000 Neueinwanderer betreuen!? Ansiedeln, verpflegen, Arbeit beschaffen, medizinische Betreuung etc. Mit der geringen Einwandererzahl aus den Ost-Ländern gibt es schon große Probleme.
Israel ist heute ein wissenschaftlich führendes Land anerkannt in der ganzen Welt. Führendes medizinisches Wissen und Errungenschaften, musikalisches Können: Perlmann, Mehta, Barenbaum, Isak Stern, Rubinstein...
Hochentwickelte Technik, vor allem in der elektronischen Industrie und ständiger Aufbau. Trotz der dauernden Schießereien gibt es kein Stehenbleiben.

UNSER Anfang in Israel war sehr schwer. Es keine Wohnungen und nur wenig zu essen und nur sehr wenig Arbeit.
Nach meiner Ankunft hier hatte ich verschiedene Jobs. In den ersten 17 Jahren lebten wir in Jerusalem, welches eine der schönsten Städte ist, welche ich kenne. Zuerst war ich Lastwagenfahrer und später war ich Garagemeister in der größten Garage in Jerusalem. Dann arbeit ich in einer Autofabrik welche Autos mit Fiberglas Karosserien erzeugte. Das Material imponierte mir sehr und ich beschloss einen Fiberglas Betrieb aufzubauen. Es war dies ein fast technisches Gebiet welches viele Möglichkeiten hatte. Wissen musste man sich allein schaffen, denn es gab nur wenige Betriebe dieser Art in der Welt. Mit viel initiative, Mut und Arbeit baute ich den größten Betrieb dieser Art hier in Israel auf.
Unsere Firma war weltbekannt und wurde von sehr vielen Fachmännern, auch Österreichern, anerkannt. Ein Hauptlieferant unserer Maschinen war Graf Coudenhove, welcher einen Betrieb dieser Art in Wien hatte. Wenn man heute durch Israel fährt, kann man immer wieder meine Erzeugnisse sehen, vor allem Wassertanks, manche mit mehr als 1.000.000 Liter Fassungsvermögen, Wassertürme, 40 Meter hoch, Equipment für die chemische Industrie, Rohrleitungen mit 2 Meter Durchmesser und vieles mehr. Ich machte Erfindungen, entwickelte neue Maschinen und neue Arbeitsmethoden, welche noch heute in der Fiberglas-Industrie benützt werden. Ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich meinen Teil zum Aufbau des Landes geleistet habe.

Doch alles hat einmal ein Ende. Das Alter machte sich bemerkbar und ich musste den Betrieb liquidieren. Mein Sohn setzt den Fiberglas-Geist dort und ist heute einer der besten Experten in dieser Branche, anerkannt in der ganzen Welt.

Wir leben heute in Netanya, einer Gartenstadt am Mittelmeer. Wir haben eine Douplex Wohnung mit Ausblick zum Meer und einen Dachgarten, welcher fast das ganze Jahr blüht. Wir sind zufrieden und glücklich.

Ich wünsche Euch Kindern ein erfolgreiches, friedliches und zufriedenes Leben. Doch sollt Ihr wissen, es kommt nicht von allein. Man muss Seines dazu tun. Ich möchte Euch hier nur noch einen Leitspruch mitgeben, welcher bereits in der Bibel geschrieben ist:

"Wer ist wirklich glücklich? Wer mit seinem Anteil zufrieden ist."

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