Die letzten Zeugen - Das Buc

MATHILDE MARGULES


 
 

MATHILDE
MARGULES

(früher Spinrad)
lebt heute in Österreich

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Mathilde Margules wurde als Tochter von Wilhelm und Klara Spinrad in Wien geboren. Mathilde und ihr Bruder kamen in einem Kindertransport nach England. Ihr Vater wurde in Theresienstadt getötet, ihre Mutter konnte in Wien versteckt überleben.

Mathildes Vater meinte, das mit Hiltler sei in einer Woche vorbei

Die Schülerin Agnes Clara Bruckner traf sich mit der Überlebenden Mathilde Margules und hat ihre Lebensgeschichte dokumentiert.

Mathilde Margules wurde in Wien geboren und hatte einen um vier Jahre älteren Bruder namens Johann. Ihr Mädchenname war Spinrad. Ihre Eltern hießen Wilhelm und Klara. Die Familie Spinrad war eine sehr reiche Unternehmerfamilie. Sie hatten ein Haus in Sauerbrunn, in der Bachgasse, in der Hetzgasse und am Wiedner Gürtel. Frau Margules ging in eine bürgerliche Volksschule und dann in ein privates Gymnasium in der Wallgasse. Diese Schule war ein modernes, gemischtes Gymnasium, das noch auf das Öffentlichkeitsrecht wartete. In ihrer Klasse waren höchstens noch zwei andere JüdInnen.
Als Hitler einmarschiete, wollte ihre Mutter mit der Familie noch am selben Abend nach England fliehen, weil an diesem Tag für alle die Grenzen offen waren. Ihr Mann jedoch lag zu der Zeit im Sanatorium, weil er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Herr Spinrad meinte in einem Telefonat mit seiner Frau, dass das mit Hitler in einer Woche vorbei sei. Er schätzte die Situation vollkommen falsch ein, weil sich besonders die Juden nicht vorstellen konnten, dass ein Mensch die Ausrottung einer "Rasse" planen und auch wirklich durchführen konnte.
Ab dem nächsten Tag waren die Grenzen geschlossen. Frau Margules meint heute, dass ihnen sehr viel erspart geblieben wäre, wenn sie am Tag des Einmarsches Hitlers sofort die Flucht ergriffen hätten. Die Bachgasse wurde gleich in der ersten Woche nach dem Einmarsch in Viktor Christ-Gasse umbenannt. Da die Spinrads eine sehr angesehene und einflussreiche Familie waren, nahmen die Nazis den Vater und seine Frau sofort mit und sperrten sie ein. Die zwei Kinder wurden am Wiedner Gürtel von SA-Leuten zwei Wochen lang bewacht. Sie durften das Haus nicht verlassen.
Mathilde Margules war ein sehr mutiges Kind und durch ihr Betteln beim Gefängnisarzt wurde ihr Vater nach relativ kurzer Zeit seiner Krankheit wegen aus dem Gefängnis entlassen. Der große Besitz wurde sofort beschlagnahmt. Egal ob Häuser, Fabriken oder wertvolles, persönliches Eigentum: alles wurde von den Nazis genommen und die Familie kam an kein Geld mehr heran. Erst 1956 konnte Frau Margules das Familienerbe in harten Prozessen (Restitution) zurückkaufen(!).
Im Dezember 1938 wurden die zwei Spinrad-Kinder mit einem Kindertransport nach England gebracht. Das konnte ein ehemaliger Angestellter der Familie organisieren, weil er Protektion hatte. Von all den vielen jüdischen Kindern wurden nur 250 in Sicherheit gebracht. Sie kamen an die Südküste Englands, von wo sie vor der drohenden Invasion der Deutschen evakuiert wurden.
Mathilde zog mit einem Koffer und 5 Mark in der Tasche los. Mehr hatten die Eltern nicht mehr. Die Kinder kamen immer wieder zu anderen Familien. Ihr Bruder war mit seinen 18 Jahren bereits zu alt für einen Kindertransport, er konnte in einem Lager in Kanada unterkommen. Mathilde ging später in eine Schule in Oxford. Sie musste öfters von Lehrern spüren, dass sie Ausländerin war, obwohl sie bis heute akzentfreies Oxford-Englisch spricht. In dieser Zeit war sie gerade erst 14 Jahre alt. Sie passte sich an und wurde eigentlich Engländerin. Deshalb war es für sie nicht schwer, sich zu unterhalten. In ihrer Klasse waren wenige JüdInnen.
Sie hatte nur die erste Zeit Kontakt mit ihren Eltern. Das aber auch nur über spärliche Briefen durch das Rote Kreuz. 1948 fuhr sie das erste Mal wieder nach Österreich. Seit 1949 lebt sie ständig in Österreich. Sie kam zurück, weil ihre Mutter versteckt in Wien überlebt hatte. Als sie ihre Mutter sah, sagte diese: " Da bist du ja, Mäderl!" Sie sagte das so, als wäre sie nur ganz kurz weg gewesen. Ihre Mutter glaubte damals, dass ihr Mann noch zurückkommen wird. Er sollte all den Besitz wieder zurückholen. Deshalb wohnten sie nur in einer Einzimmerwohnung. Sie wollten nämlich nicht, dass Leute aus ihrer Wohnung geschmissen werden, damit sie darin wohnen können. Herr Spinrad kam aber nie wieder zurück. Er wurde im KZ Theresienstadt erschlagen. Das weiß Frau Margules, weil es ihr von Überlebenden erzählt wurde.
In der Zeit nach dem Krieg wurde kaum über die Greuel und die vielen Toten gesprochen. Vor allem die Betroffenen redeten nicht darüber. Ihr Bruder kam nie nach Österreich zurück. Er war in Kanada, dann in England, Südamerika, Israel und dann blieb er in Amerika, wo er im hohen Alter starb.
Die Eltern von Frau Margules sind ihr bis heute sehr präsent. Sie selbst hat zu dieser Zeit Distanz und versucht ihr Leben heute mit ihrem Sohn und dessen Familie zu genießen. Sie sagt von sich, dass sie eine eitle Person ist, die versucht, sich  täglich Gutes zu tun.
Als ihre Mutter von ihr ging, war das für sie ein weiterer schwerer Schicksalsschlag. Ihr Leitsatz für ihr Leben ist: " Entweder man überlebt, oder man geht daran zugrunde!"
Ich war sehr erstaunt, wie offen Frau Margules über diese schreckliche Zeit sprechen kann. Am nächsten Tag nach meinem Interview jedoch erfuhr ich, dass sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte und Nervenpulver einnehmen musste. Sie kämpft und steht als Geschäftsfrau mitten im Leben. Die Zeit aber hat tiefe Spuren in ihrer Seele hinterlassen.
Frau Margules ist eine langjährige Bekannte meiner Eltern und ich durfte am 8.April 2004 mit ihr ein Interview machen.

Agnes Clara Bruckner, Musikgymnasium Wien, 2004

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