MARTHA BLEND(früher Immerdauer)geb. 1930-01-02 lebt heute in Großbritannien Ermordete Verwandte |
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Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.
Jana Klimke, Schülerin im Caritas-Ausbildungszentrum, ist im Projekt »Botschafter der Erinnerung« Martha Blend im November 2007 in England begegnet und hat ihre Lebensgeschichte dokumentiert. Im Mai 2008 war Martha Blend zu Gast an der Schule mit Lehrerin Doris Brunner. Die Biografie von Martha Blend ist unter dem Titel »Ich kam als Kind« im Picus-Verlag erschienen.
Martha Blend wird 1930 in Wien geboren. Im Juni 1939 kann sie alleine, ohne Eltern, auf einem Kindertransport nach England entkommen, wo das 9-jährige Mädchen von Pflegeeltern aufgenommen wird. Sie überlebt die Bombenangriffe auf London. Nach Kriegsende muss sie erfahren, dass sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater im KZ ermordet wurden. Sie beginnt ein neues Leben in England, studiert, gründet eine Familie und wird Lehrerin.
Am Bahnsteig sind Gefühlsausbrüche verboten.
Martha Blend flüchtete als neunjähriges Mädchen nach England. Dort erfuhr sie, dass ihre Eltern im KZ ermordet wurden.
Martha wird als das einzige Kind von Elias und Paula Immerdauer am 1. Februar 1930 in Wien geboren. Sie lebt mit ihren Eltern in einer Mietwohnung im 5. Bezirk und hat eine sehr schöne, behütete Kindheit. Sie geht gerne in die Schule, spielt mit den Kindern in ihrem Haus und geht oft mit ihrem Vater in Wien spazieren. Doch ihre sorglose Kindheit hat schnell ein Ende, als 1938 der »Anschluss« an Deutschland stattfindet.Sie muss in eine andere Klasse, in der nur jüdische Kinder unterrichtet werden, ihr Vater verliert seine Arbeit und später wird er auch von der Gestapo verhaftet. Währenddessen versucht ihre Mutter alles, um nur irgendwie an Lebensmittel zu kommen und ihre Familie ernähren zu können.
Nach der Herbstnacht 1938, die als »Kristallnacht« in die Geschichte einging, ist Marthas Eltern klar, dass es für ihr Kind in Österreich nicht mehr sicher ist. Durch den Hausarzt der Familie kann die Mutter einen Platz für sie in einem Kindertransportzug nach Großbritannien organisieren und auch Kontakt zu dem Ehepaar Greensztein aufnehmen, das ihre Tochter in London zu sich nehmen wird.
Am 20. Juni ist es dann so weit. Martha geht in der Nacht mit ihrer Mutter zum Bahnhof in Wien. In dem Brief, den die Familie über die Abfahrtsdaten bekommen hat, steht extra, dass man keine Gefühlsausbrüche am Bahnhof haben soll und dass es den Eltern auch verboten ist, mit auf den Bahnsteig zu kommen. Auch wenn sich viele Familien nicht daran halten, ist es Marthas Mutter sehr wichtig, diese Regeln einzuhalten, denn sie will nicht, dass ihre Tochter Schwierigkeiten bekommt. Für Martha ist es schwer, ihr Zuhause und ihre Familie zu verlassen und in ein ganz neues Land, mit einer anderen Sprache und fremden Leuten, zu gehen.
An die Reise mit dem Zug durch Deutschland und dann mit dem Schiff nach England kann sich Martha kaum noch erinnern. Sie schläft viel und wenn sie wach ist, ist ihr übel, weil sie an der Reisekrankheit leidet.
Martha ist sehr müde und fertig von der Reise, als sie am Bahnhof von London auf ihre Pflegeeltern wartet. Bald wird sie von ihnen abgeholt und sie fahren zu ihrem neuen Zuhause. Dank eines Englischkurses, den sie in Wien besucht hatte, kann sie sich ein wenig verständigen, doch es dauert einige Monate, bis sie alles versteht und flüssig Englisch reden kann.
Ihre neue Familie lebt in Bow, einem Viertel im Londoner East End. Es ist das jüdische Viertel von London, Martha findet schnell Freunde in ihrer Nachbarschaft und gewöhnt sich auch schnell an ihre neue Familie.
Mit ihrer Mutter kann Martha anfangs noch Briefkontakt halten, doch als immer mehr Länder von Hitler eingenommen werden, bricht der Kontakt ab.
Als Großbritannien in den Krieg eintritt, wollen Marthas Pflegeeltern auch sie mit einem Zug, der die meisten Kinder von London aufs Land bringt, in Sicherheit bringen. Als Martha mit ihnen am Bahnhof steht, kommen all die schrecklichen Erinnerungen von damals vom Bahnhof in Wien zurück und sie weigert sich, in den Zug einzusteigen. So kommt Martha mit ihren Pflegeeltern mit nach Paignton in der Grafschaft Devon.
Dort geht Martha auch in die Schule. Anfangs tut sie sich schwer, dem Unterricht zu folgen, doch sie lernt schnell die Sprache, und schon bald ist sie eine der Besten in ihrer Klasse. Sie schreibt Gedichte und gewinnt auch einige Preise bei Gedichtwettbewerben in ihrer Schule.
Als es ruhiger wird um London und die Bombenangriffe zurückgehen, gehen Martha und ihre Pflegeeltern wieder zurück nach London. Viele Häuser wurden zerstört, doch ihr Haus in Bow steht noch. Martha besucht jetzt eine Schule in London und ist wieder eine der besten ihrer Klasse. Leider ist es nicht lange sicher in London, da die Deutschen wieder mit Bomben angreifen. Wenn die Sirenen zu heulen beginnen, müssen Martha und ihre Pflegeeltern zum Bunker am Ende der Straße laufen. Es ist schrecklich für Martha, in diesem Bunker zu sitzen, die Bomben zu hören und zu hoffen, dass ihnen und ihrem Haus nichts passiert. Weil Marthas Pflegeeltern London wieder zu gefährlich wird, ziehen sie erneut aufs Land. Da Martha aber nicht wieder in eine andere Schule wechseln will, pendelt sie jetzt jeden Tag.
1944 setzt Hitler seine letzte Waffe im Kampf gegen die britischen Zivilisten, die V1-Raketenbombe, ein. Dies überraschte Martha und die anderen Bewohner von London sehr, unterschieden sich diese Bombardements doch grundlegend von den bisherigen Luftangriffen. »Wenn man auf die Straße ging, hörte man die Sirene. Dann nahmen wir den Lärm eines im Anflug befindlichen Flugzeugs wahr. Wenn sein Motor über unseren Köpfen ratterte, hielten wir den Atem an und beteten, dass es sich entfernen würde. Plötzlich kuppelte es ab, und wir machten uns auf den Angriff gefasst. Wenn der Flugkörper und die Bombe auf dem Boden aufschlugen, gab es einige Sekunden später eine höllische Explosion. Mit etwas Glück spielte sich das Horrorszenario so weit weg ab, dass man nicht verletzt wurde.«
Diese Flugzeuge sind unbemannt, und so müssen die Deutschen nicht mehr im Schutz der Dunkelheit angreifen. Jetzt finden tagsüber genauso viele Attacken statt wie in der Nacht. Das erschwerte Marthas Schulweg, und ihre Pflegemutter hatte jedes Mal Angst, wenn Martha zur Schule ging und ihr Mann zur Arbeit.
Später gesellten sich zu den V1-Raketen die noch schlimmeren V2-Raketen dazu. Sie fallen ohne Warnung vom Himmel und kosten viele Menschen das Leben. Martha und ihre Pflegeeltern haben Glück, sie werden nie ernsthaft verletzt. 1945 machen die Russen einen Vorstoß nach Westen, die Streitkräfte der Briten, Amerikaner und ihrer Verbündeten rücken weiter in Deutschland vor. Es ist nun klar, dass die Nazis dieser Übermacht nicht mehr viel länger standhalten können.
So ziehen Martha und ihre Pflegeeltern zurück nach London. Bald darauf ist der Krieg zu Ende. Martha und ihre Pflegeeltern sind überglücklich, alles heil überstanden zu haben, doch Marthas Freude hält leider nicht lange an.
Martha bekommt einen Brief vom Roten Kreuz zugeschickt, in dem steht, dass ihr Vater in einem Konzentrationslager umgekommen ist. Und später erfährt sie durch Nachforschungen ihrer Pflegemutter beim Roten Kreuz, dass auch ihre Mutter in einem KZ von den Nazis umgebracht wurde.
Martha ist am Boden zerstört und weint sehr viel, doch schon bald beginnt sie nach vorne zu schauen, in eine, wie sie hofft, schönere Zukunft. Weil es niemanden mehr in Österreich gibt, zu dem sie zurückkehren könnte, bleibt sie in England. Sie studiert, wird Lehrerin und gründet eine Familie.
Ihrer Familie erzählt sie erst nichts von ihren Erlebnissen. Dazu findet sie erst 30 Jahre später die Kraft und durch ihre Unterstützung hat sie es auch geschafft, 35 Jahre, nachdem sie Österreich verlassen hatte, die schicksalhafte Reise retour anzutreten.
»Diesmal befand ich mich in einem Auto. Als wir die Grenze von Belgien nach Deutschland überquerten, stieg in mir das Grauen auf. Was würde ich auf der anderen Seite vorfinden? Ich war überrascht, dass die Sonne genauso hell wie in Belgien schien und dass Menschen auf den Straßen ganz normal ihren Geschäften nachgingen. Als ich Passanten in meinem nicht allzu flüssigen Deutsch nach dem Weg fragte, erwiesen sie sich als freundlich und hilfsbereit. Die Vergangenheit erschien mir unerklärlicher als je zuvor. Als wir uns Wien näherten, befiel mich eine Panik, und ich war dafür, die Reise abzubrechen. Mein Mann ermutigte mich jedoch weiterzufahren, bis wir auf einem überfüllten Campingplatz im Westen von Wien Halt machen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich mein altes Haus so leicht wieder finden würde. Es erstaunte mich sehr, dass ich meinen Weg in den Bezirk Margareten, wo ich einst gewohnt hatte, leicht fand. Wir nahmen eine Straßenbahn zur Ringstraße, von der aus ich den Stephansdom erkannte, dessen Kriegsschäden nicht mehr zu sehen waren. Wir gingen an der Oper und dem Parlament vorbei.«
Martha besuchte Österreich danach öfters und dank der Unterstützung und Ermutigung ihrer Familie schaffte sie es auch, ein Buch („Ich kam als Kind“) über ihre Flucht aus Österreich und ihr Leben in einem fremden Land zu schreiben.