Die letzten Zeugen - Das Buc

SHLOMO SIEGBERT PFENNIG


 
 


SHLOMO SIEGBERT PFENNIG

geb. 1920-05-31
lebt heute in Israel


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Es gab immer Licht am Ende des Tunnels ...

Siegbert Shlomo Pfennig berichtet seine Lebensgeschichte.

Ich, Siegbert Shlomo Pfennig, bin am 31.5.1920 in Berlin, Barnimstrasse geboren als 2. Sohn von Max Pfennig, geb. 1888 in Tarnow, Galizien (damals Österreich-Ungarn) und Frau Selma Pfennig, geb. Zydower 1892 in Krotoschin, Provinz Posen.
Wir waren drei Kinder: 1. Schwester Rosa, geb 1919, 3. Bruder Ismar, geb 1921. Alle vier kamen in Auschwitz um; ich bin der einzige Überlebende. Auch weitere Verwandte (Großeltern, Onkel, Tanten mit Familien) – rund 70 Personen – kamen auf die selbe Weise um.
In meinem 10. Lebensjahr zogen meine Eltern mit uns Kindern nach Wedding, H65, Plantagenstr. 2. Dort wohnte ich bis zu meiner Verhaftung im September 1938 (s.u.). Ich besuchte die 14. Volkschule in derselben Strasse, später noch im 9. Schuljahr die jüdische Schule in der Klopstockstr. (Hansaviertel). Mein Wohnbezirk war das bekannte Arbeiterviertel „der rote Wedding“. Nicht weit von uns war die Köslinerstrasse, das „Hauptquartier“ der Kommunisten, der Brennpunkt der blutigen Zusammenstöße zwischen demonstrierenden Arbeitern und der Polizei, auch der Sozialdemokraten zur Zeit von Zörrgiebel. Am 1. Mai war die Polizei auf den Dächern unserer Häuser stationiert und hatte Schussbefehl nicht nur gegen Demonstranten, sondern auch auf alle Einwohner, die unverdunkelte Fenster zur Straßenfront hatten. Schon im Januar 1933 wurden namhafte Kommunisten dort abgeholt – und wir sahen sie nie wieder.

Mein Vater war Zuschneider, der in großen Schneiderateliers den Lebensunterhalt der Familie verdiente.
Nach dem 30. Januar 1933 wurde ich, weil ich Jude war, von meiner Schule geschmissen, und hatte keine weiteren Möglichkeit mehr, zur Schule zu gehen. Ich fand eine Lehrstelle bei einem jüdischen Klempnermeister, der einen christlichen Compagnion hatte. Ich lernte dort dreieinhalb  Jahre. Bei einem Arbeitsunfall (am Bahnhof Zoo) wurde mein Auge verletzt. Nach der ersten Hilfe wurde ich ins Virchow-Krankenhaus eingeliefert. Nachdem sie erfuhren, dass ich Jude sei, überführten sie mich zwar nicht – wie nach den Buchstaben des Gesetzes verlangt – in ein jüdisches Krankenhaus, aber das große „Judenschild“ an meinem Bett diskriminierte mich in den Augen meiner Ärzte, speziell des Oberarztes, Standartenführer in der SS. Die Rohheit der Behandlung hatte zur Folge, dass ich nach drei Monaten Liegens mit völlig verbundenen Augen das Auge ganz verlor.

Ich versuchte ein Einwanderungszertifikat für das damalige Palästina zu bekommen, wurde aber wegen meines Auges aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt. Kurz nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus, nachdem ich daran gewöhnt hatte, mich mit nur einem Auge zurechtzufinden, lernte ich noch einige Zeit bei einem jüdischen Klempnermeister.

Ich gehörte der jüdischen Jugendbewegung der „Werkleute“ an, wo wir immer bei unseren Heimabenden von Gestapobeamten überwacht wurden. Bei längeren Ausflügen durften wir nur bei Juden übernachten. Auf einer solchen Fahrt wurden wir bei Drossen auf Reppen auf einem Grundstück, das einem Juden gehörte, von Hitlerjungen am Lagerfeuer überrascht, gründlich zusammengeschlagen, unseres ganzen Inventars beraubt und mit Hilfe der jüdischen Gemeinde nach Berlin zurückgeschickt.

Am 1. September 1938 wurde ich um 5 Uhr früh von der Gestapo geweckt und ins Untersuchungsgefängnis Alexanderplatz gebracht. Das geschah im Rahmen der Aktion gegen Juden polnischer Staatsbürgerschaft. Die Polen hatten ihrerseits ein Gesetz erlassen, nach dem Menschen die Staatsbürgerschaft abgesprochen wurde, die nicht dort geboren waren und nicht die Sprache beherrschten. Das alles traf auch auf mich zu. Ich wurde verhaftet wegen inzwischen ungültiger Ausweispapiere.

Mein polnischer Pass lief am 1. September ab, mein Verlängerungsgesuch wurde vom polnischen Konsulat abgelehnt. Ich musste mich an die Polizei zur Erlangung eines Staatenlosenpasses wenden. Beim Polizeipräsidium erhielt ich den Bescheid, dass er mir zugestellt würde, aber – wie gesagt wurde ich statt dessen am nächsten Morgen verhaftet. Ich saß als Jugendlicher mit hart gesottenen Verbrechern zusammen, die dort rechtlich besser gestellt waren, als Juden wie ich. Sie betreuten mich rührend. Ziel meiner Verhaftung war, mich mit dem ersten großen Abschiebungstransport der „polnischen Juden“ im Oktober 1938 in das Niemandsland zwischen Deutschland und Polen bei Neubenschen/Sbonzyn zu verschicken. Aber nach einigen Wochen die ich im Gefängnis gesessen hatte, hatte ich das Glück, mit einem Papier der Gestapo entlassen zu werden, das von mir verlangte, ohne Pass binnen 3 Tagen Deutschland zu verlassen. Man hatte von meinen Eltern verlangt, dass ein Bürge im Ausland auf einer deutschen Bank in New York eine Kaution von 5000 $ stellte, die man wieder zurückbekommen würde, wenn ich auf einem deutschen Konsulat im Ausland erschiene. Eine Großcousine meiner Großmutter in New York stellte mir diese Kaution telegrafisch zur Verfügung. Einen Tag nach meiner Befreiung – einen Pass konnte ich so schnell nicht erhalten – fuhr ich mit meiner Mutter nach Aachen und versuchte, illegal die Grenze nach Holland zu überschreiten. In Aachen wurden alle anderen jüdischen Flüchtlinge verhaftet, nur ich mit meinem Vertreibungspapier durfte bleiben.

Drei Tage lang hatten meine Versuche, über die Grenze zu fliehen, keinen Erfolg. Ich ging zur Gestapo und erbat eine Verlängerung, die mir für einen Tag gewährt wurde, unter Androhung des KZ. Am vierten Tag bestieg ich die Straßenbahn, die in Aachen belgisches Gebiet passiert, um dort abzuspringen.

Aber noch bevor die Bahn an die entscheidende Stelle kam, wurde ich wieder von einem Gestapomann verhaftet und nach Aachen zurückgebracht. Wegen Devisenverdacht schnitt man meinen  Mantel auf, fand aber nur die erlaubte Summe von 9.90 Reichsmark. Nach einigen Stunden ließ man mich wieder frei, und ich konnte ins Niemandsland laufen, mit der Angst, angeschossen zu werden. Nach einigen Irrwegen im Niemandsland fand ich meinen Grenzführer, der mich bis zur ersten belgischen Eisenbahnstation führte. Er versprach mir, mir aus einiger Entfernung mit Lichtsignalen den sicheren Weg zu weisen.

Bevor ich die Straßenbahn bestieg, fand ich einein anderen Grenzführer, der für eine kleine Summe bereit war, mir über die Grenze zu helfen.
Trotz seiner Signale erregten Lichter von Fahrrädern bei mir den Verdacht, dass nicht alles in Ordnung sei. Ich verbarg mich im nächsten Graben und ließ eine belgische Grenzpatrouille unbemerkt vorbeiziehen. So kam ich glücklicher ins erste belgische Dorf und von dort mit einem Auto zur ersten belgischen Eisenbahnstation. Zu meinem Glück wurde unser Auto trotz Kontrollbefehls, den die belgischen Soldaten hatten, nicht angehalten. Diese zogen es an einem kalten Wintertag vor, sich an ihren Koksöfen zu wärmen und nicht nach Flüchtlingen zu fahnden. Nach Vereinbarung mit meinem Wegführer blieb ich im Auto, bis der Zug losfuhr und sprang im letzten Augenblick mit der von ihm gekauften Fahrkarte auf. So kam ich mitten in der Nacht um 2 Uhr wohlbehalten in Brüssel an.

Nach vorheriger reiflicher Überlegung mischte ich mich in meinem abgerissenen Zustand gleich unter die ersten herbeieilenden Passagiere und entging so der Polizeikontrolle, die selbst dort noch nach Flüchtlingen fahndete und deren Opfer dann – bis zum Kriegsausbruch – den Deutschen ausgeliefert wurden. Als ich in Brüssel ankam, ging ich zum deutschen Konsulat, um mich dort, wie es mit den deutschen Behörden vereinbart war, zu melden, damit meine Verwandten in Amerika die Kaution zurückerhalten könnten. Nach einiger Zeit wurde ihnen das Geld zugestellt.

Meine Mutter, die mich bis nach Aachen an die belgische Grenze begleitet hatte, kehrte nach Berlin zurück. In derselben Nach wurden alle Juden polnischer Staatsangehörigkeit nach Sbonzyn ins Niemandsland zwischen Polen und Deutschland verschickt. Die Polen und Deutschen verwehrten von beiden Seiten durch Scharfschüsse den Eintritt in ihr Territorium. Die Juden bleiben dort ein ganzes Jahr bis zum Kriegsausbruch. Meine Mutter wurde später auch dorthin verschickt. Vater und Bruder durften bei Kriegsausbruch nach Tarnow gehen, wo sie gleich für die polnische Armee ausgehoben wurden. Nach der Kapitulation der Polen kehrten sie nach Tarnow zurück und wurden von dort nach Auschwitz geschickt, wo sie mit meiner Mutter zusammen umkamen. Meine Schwester blieb noch einige Zeit in Berlin und kam später auch in Auschwitz um ...

Ich aber irrte erst einmal in den Strassen von Brüssel umher, abgerissen und schmutzig, ohne Adresse und ohne Geld. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren in Belgien alle Geschäfte auch nachts offen. Nach zwei bis drei Stunden Umherirrens in der Hauptstrasse von Brüssel, in Angst vor allzu forschenden Blicken der  Polizei, fasste ich Mut und sprach einen jüdisch aussehenden Passanten um Hilfe an. Ich gab mich ihm als obdachloser Flüchtling aus Deutschland zu erkennen. Er nahm mich mit zu sich in sein Haus, kleidete mich neu ein und gab mir zu essen. Er verwies mich an eine jüdische Flüchtlingsorganisation. Dort bekam ich eine finanzielle Unterstützung, die nicht zum Leben und nicht zum Sterben reichte. Der Zugang zu ihrem Büro war wegen der Überwachung der belgischen Polizei gefährlich. Ein belgisches Gesetz vom 1. September 1938 besagte, dass die Grenze für alle jüdischen Flüchtlinge geschlossen und jeder ergriffene jüdische Flüchtling gleich der deutschen Grenzpolizei auszuliefern sei. Trotzdem hat Belgien, das am dichtesten bevölkerte Land Europas, de facto den größten Prozentsatz jüdischer Flüchtlinge aufgenommen. Als zum Beispiel im Jahr 1939 ein deutsches Schiff mit 1500 jüdischen Flüchtlingen von Hamburg nach Kuba fuhr und dort nicht anlegen durfte, wandte sich der Kapitän an alle – auch an die großen – Länder der Welt, und keines war bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. Nur kleine westeuropäische Länder, unter ihnen vor allem Belgien, nahmen eine große Zahl von ihnen auf ...

Mein neuer Schutzpatron ging einige Wochen lang für mich in das Flüchtlingsamt,  um das Geld für mich abzuholen. Ich fand in Brüssel eine Pension, die bereit war, mir Quartier zu geben – unter der Bedingung, mich jeden Morgen zwischen 3.30 Uhr und 8.15 Uhr außer Hauses aufzuhalten. Warum? Weil diese Stunden gesetzlich für Flüchtlingsfahndung festgesetzt waren und auch Obdachgewährung mit Landesverweis bedroht wurde. Bei der Wahl eines Unterschlupfes für diese Stunden zog ich die Kirche der überwachten Synagoge vor. Jeden Tag zahlte ich 25 Centimes für einen Betstuhl und auf diese Weise lernte ich alle Kirchenlieder. Zum Schluss der Messe warf ich, weil ich kein Geld hatte, einen Knopf oder einen Stein statt einer Münze auf den Opferteller, bis eines Tages der Beichtvater mich vertraulich um eine Beichte ansprach. Von da an wechselte ich jeden Tag die Kirche.

Anderthalb Jahre lebte ich illegal in Brüssel. Ich durfte nicht arbeiten und nicht in die Hände der Polizei fallen. Ich arbeitete in der jüdischen Flüchtlingsorganisation und führte dort zwei Gruppen von Kindern jüdischer Flüchtlinge. Vom Kriegsausbruch (1. September 1939) an wurden keine Flüchtlinge mehr an Deutschland ausgeliefert.

Ende 1939 griff mich eine Polizeistreife auf, und ich kam in ein Flüchtlingslager (Eksarde) an der holländischen Grenze, in dem nur Jugendliche untergebracht waren. Dort blieben wir bis zum 10. Mai, dem Tag des Einmarschs der deutschen Armee. Wie 6 Millionen Belgier (drei Viertel der Bevölkerung) flohen auch wir zu Fuß auf die französische Grenze zu, unter dauerndem Beschuss der deutschen Sturzkampfflugzeuge. Unsere jüdischen Führer hatten uns instruiert, kein deutsches Wort verlauten zu lassen und lieber stumm zu spielen, da deutsche Fallschirmjäger in Zivil als fünfte Kolonne unterwegs waren und wir allen Grund hatten, nicht mit ihnen verwechselt werden zu wollen. Nach zweitägiger Fußwanderung kamen wir an der französischen Grenze in ein belgisches Dorf, dessen männliche Bevölkerung als Soldaten eingezogen war. Unsere Anweisung war, kein Privathaus zu betreten. Ein Übertreten dieser Anweisung brachte unsere ganze Gruppe dazu, von den ansässigen Belgierinnen ergriffen und gesteinigt zu werden, und nur mit Mühe konnten uns vorbeiziehende Franzosen befreien. Diese Franzosen brachten uns nach Nieuwkerk, ein belgisches Gefangenenlager an der französischen Grenze, nicht weit von Dünkirchen, von wo sich später die Engländer nach England einschifften und ihre festländischen Bundesgenossen im Stich ließen.

Das Lager war aufgeteilte zwischen gefangenen deutschen Soldaten und Zivil-gefangenen wie uns. In den letzten Kriegstagen ging unser Lager von Hand zu Hand. Am 28. Mai legte die belgische Armee die Waffen nieder. Bei uns dauerte der Kampf bis zum 31. Mai. An diesem Tag, an meinem Geburtstag, befreiten mich – Ironie des Schicksals – die Deutschen aus den Händen der Belgier. Wir wähnten unser Ende nahe. Fünf Tage waren wir ohne Nahrung geblieben, und  nun fragten uns die Deutschen, was wir essen wollten. Unsere Verpflegung nahm sogar auf die Besonderheiten jüdisch-rituellens (koscheren) Essens Rücksicht. Erst später verstand ich diese Behandlung. Sie brauchten alle verfügbaren Arbeitskräfte in Belgien, um den Krieg im Osten vorzubereiten. Man brachte jeden von uns an den von ihm gewünschten Ort. Ich wurde legalisiert, bekam eine Arbeitserlaubnis und war gleichberechtigt mit allen belgischen Einwohnern. Die jüdische Gemeinde in Brüssel errichtete ein Vorbereitungslager zur Auswanderung nach Palästina (Israel) mit Aufnahmegebühren und Unterhaltskosten, die zu erledigen waren. Da ich nicht Privilegien aus der Hand meiner bisherigen Verfolger annehmen wollte, und ihnen auch nicht traute, schloss ich mich diesem Lager an und wurde kostenlos aufgenommen. Die etwa 50 Lagerinsassen stammten aus Jugendbewegungen aller jüdischen Richtungen, alle „aus gutem Hause“. Die deutschen Besatzungstruppen zwangen alle Ansässigen zu arbeiten, ein Teil zur Kaninchen- und Fellzucht, andere zur Bearbeitung der Felle (schon in Hinblick auf den Feldzug im kalten Osten). In den Städten machten auch die jüdischen Bürger gute Geschäfte mit den Deutschen, bis die ersten Warnungen von der belgischen Widerstandsbewegung gegen diese Art der Kollaboration kam. Zwar hatte der Aufruf wenig Erfolg, aber die Ergreifung und Erschießung eines reichen Kollaborateurs schreckte die Zusammenarbeiter ab. Am Anfang der Besatzungszeit verstanden die belgischen Juden überhaupt nicht, was die aus Deutschland geflohenen Juden ihnen über ihre vergangenen Leiden erzählten. Die Deutschen nahmen Belgien als kulturelles Aushängeschild und brachten Opern, Orchester, Theater etc. dorthin. Die Irreführung war so vollkommen, dass Juden, die schon in das nicht besetzte Europa geflohen waren, nach Belgien zurückkamen.

Auf unserem Ausbildungslager (ca. 50 km von Brüssel entfernt) wohnten wir in einem alten Schloss; hatten aber die dunkle Ahnung bevorstehender Verschickungen. Wir bereiteten uns Bauchgürtel aus Brot vor, die uns ein Abspringen aus fahrenden Zügen oder Autos ermöglichen sollten. Diese Vorsichtsmassnahmen rettete später vielen Abspringenden das Leben.

Im Sommer 1941 bekam der Dorfgendarm den Befehl von der Gestapo, uns im Schloss bis zum Abend einzusperren, damit man uns festnehmen könne. Er gehörte der belgischen Widerstandsbewegung an und war genügend geistesgegenwärtig, um zu antworten, dass wir abgezogen seien.

Unter den 50 Lagerinsassen waren vier Flüchtlinge aus Deutschland, zwei Mädchen und zwei Jungen (auch ich), die keine Familie in Belgien hatten. Wir fragten den Gendarm, ob er uns für einige Tage in der Umgebung Obdach verschaffen könne, da wir unter keinen Umständen gefasst und verschickt werden wollten. Alle übrigen Lagerinsassen wurden in der selben Nacht, als sie zu ihren Familien kamen, mit denen zusammen in das KZ Malin und von dort aus im Rahmen der „Endlösung“ in den Osten verschickt.

Ein Freund aus dem Ausbildungslager, der schon vorher untergetaucht war und dessen Eltern noch in Antwerpen lebten, bat mich, für seine Eltern zu sorgen. Einen Tag vor dem großen Abtransport besuchte ich sie, um sie an einen sicheren Unterschlupf zu bringen. Sie weigerten sich, diesen „außergewöhnlichen Schritt“ zu tun, wenn nicht ein besonderer, göttlicher Fingerzeig sie dazu veranlassen würde ... und dieser kam! Denn in derselben Nacht holte die Gestapo alle belgischen Juden ab und übersprang dabei unerklärlicherweise die Wohnung dieser Eltern, während alle übrigen Bewohner dieses Hauses der Razzia zum Opfer fielen. Als ich sie am nächsten Tag aufsuchte, fand ich sie, wie gesagt, als einzig Übriggebliebene – jetzt bereit, den „Fingerzeig“ anzunehmen. Ich verstaute sie in einem Möbelwagen in einem vollen Kleiderschrank und überführte sie so zu einem neuen Schutzpatron, die sie zwei Jahre lang in einem geschlossenen Zimmer versteckt heilten ...

Wir bekamen einen Platz bei Bauern, die bereit waren, mich für drei Tage aufzunehmen. Am nächsten Tag hörten wir, dass ungefähr 500 deutsche Soldaten in derselben Nacht, in der wir es veranlasst hatten, in unser früheres Lager Laframee („Beaumal“) gekommen waren, um uns zu verhaften. Sie kamen mit langen Messern, da sie glaubten, wir hätten uns in Stroh- und Heuhaufen versteckt. Als sie uns nicht fanden, suchten sie auch die Kleiderschränke der Dorfhäuser ab. Wir berieten uns und fassten den Plan, in die Schweiz zu entkommen, da wir annahmen, dass man dort jüdische Flüchtlinge aufnehme. Wir hörten, dass die Schweiz Leute aufnehme, die eine Kenkarte mit dem Judenzeichen vorzeigen könnten. Der erste Schritt dazu war die Verbindung mit einem Schuhmacher in diesem Dorf, der dem belgischen Widerstand angehörte. Wir ließen uns diese Karte zwischen zwei Doppelsohlen in unsere Schuhe einnähen, so dass wir im Erfolgsfall die Karte zur Hand hätten. Dann fuhr ich nach Brüssel um mir mit Geld ein gefälschtes belgisches Legitimationsdokument zu verschaffen. Ich trug ein belgisch-faschistisches Abzeichen (Degrell) auf meinem Rockaufschlag und eine faschistische Zeitung in der Hand, in der ich nachher die Karten für meine 3 Gefährten verbergen würde, sie aber weit weg legen konnte, um einer Kontrolle gegenüber ihren Besitz zu verleugnen. Ich fuhr von Brüssel nach Antwerpen, weil ich in Brüssel keine sicheren Vertrauensleute fand. In Antwerpen traf ich durch Zufall einen jüdischen Freund vom Ausbildungslager, der iranischer Staatsangehöriger war. Alle Juden, deren Heimatländer Verbündete der Deutschen waren, durften sich – mit Judenstern – frei bewegen. Ich winkte ihm, sich im nächsten Hauseingang mit mir zu treffen, da ich ohne Judenstern mich mit ihm, der einen trug, nicht öffentlich treffen konnte. Alle Juden waren unter Androhung schwerer Strafen gezwungen, mit weit sichtbarem Judenstern umherzugehen.

Meine Freund ging für mich in das von der Gestapo bewachte Büro des Judenrates, um für mich Geld und Adressen zu beschaffen. Ich erhielt das erwünschte Geld und fuhr zu der genannten Adresse, um mir eine christliche Identitätskarte zu kaufen. Nach sehr vielen Vorsichtsmaßnahmen (Losungsworte) erhielt ich Karten für mich und meine drei Gefährten. Meine Karte legte ich in meine Brieftasche, in der sich auch meine Judenkarte befand. In der Zeitung lagen die drei anderen Karten. Auf dem Rückweg zum Antwerpener Bahnhof begegnete mir ein als Jude gekennzeichneter anderer Freund, dem ich ein Zeichen gab, sich mir nicht zu nähern. Als er sich trotzdem näherte, hielt schon ein motorisierter belgischer Polizist neben uns an und verlangte Ausweispapiere.

Mein Freund, der mit seinem Judenstern legalisiert war, lief davon. Ich beschloss stehen zu bleiben und meine belgisch-christlichen Dokumente vorzuzeigen. Mit Anspannung aller meiner Instinkte gelang es mir, die richtige Karte hervorzuholen, ohne dass er der gefährlichen Judenkarte gewahr wurde. Die Karte, deren Alter angeblich fünf Jahre war, sah zu neu aus. Trotzdem überzeugte ich ihn, dass ich als ordentlicher Student meine Dokumente fein säuberlich aufbewahre. Später lernte ich, Karten ein gebrauchtes Aussehen zu verleihen.

Die Karte war auf Gent ausgestellt, so fragte er mich über Gent aus, worüber man mich vorher eingehend instruiert hatte. So kam ich heil von diesem Verhör davon. Ich fuhr nach Brüssel. In Malin, dem Verschickungsumschlagplatz, kam wieder eine Gestapo-Kontrolle, aber dieses Mal konnte ich die Karte mühelos vorzeigen und durfte als „legaler Belgier“ weiterfahren. In Brüssel kaufte ich für uns alle vier Scoutausrüstungen und fuhr wieder zu unserem Obdach (für drei Tage).

Wir wussten durch die belgische Resistance, wo Kontrollen stehen sollten. Die Übertrittswege führten alle durch Wälder. In Frankreich fuhren wir mit der Bahn bis Besancon. Dort übernachteten wir in einem Hotel. Unser Zimmer war i der obersten Etage. Nachts suchte die Gestapo nach jüdischen Flüchtlingen und fasste in demselben Hotel eine jüdische Kindergruppe, die illegal entkommen wollte. Aber sie suchten nicht weiter, und so kamen wir unbehelligt bis zur Grenze. Ich versuchte, einen Führer zu finden. Nach langem, vorsichtigem Suchen, fand ich einen , der uns den Weg über den Grenzfluss Doubs und die Alpen hinweg führte, und uns dann allein in die Schweiz gehen ließ. Beim Abstieg hielt uns die Schweizer Gendarmerie an und wir glaubten, sie würden uns weiterziehen lassen, aber sie verhafteten uns und führten uns an die französische Grenze zurück, jedoch ohne uns in die Hände der Deutschen auszuliefern. Wir versuchten noch drei weitere Male ohne Führung, da wir den Weg jetzt kannten, zu verschiedenen Tages – und Nachtzeiten die Grenze zu überschreiten, aber wurden alle drei Male wieder prompt zurückgeschickt. Wir beschlossen, jeder auf einem eigenen Weg von der Grenze zurückzugehen. In dem Autobus, in dem ich fuhr, saß mir gegenüber ein gefesselter jüdischer Jugendlicher in den Händen der Gestapo, der von Schweizern direkt den Deutschen  ausgeliefert worden war.

Ich fuhr mit Hilfe meines belgischen Passes legal über alle Grenzen, da er keinen Verdacht bei den Gestapokontrollen erregte. Ich kam mittags in Brüssel an, ohne Geld und ohne Unterkunft. Zum Glück fand ich einen untergetauchten Freund, der sich bereit erklärte, mich bei der Resistance unterzubringen. Er bestellte mich in ein Cafe im Brüssler Wald. Dort fand ich einen belgischen Offizier mit Hilfe des vereinbarten Losungswortes. Er nahm mich mit allen konspirativen Regeln in die Widerstandsbewegung auf und ich wurde meinem Verantwortlichen Vorgesetzten („Brigardier“) vorgeführt. Dieser brachte mich für drei Tage zu einer Bauernfamilie, 60 Kilomenter von Brüssel entfernt, ins Dorf Lathuy, Grenzort zwischen Flandern und Wallonien, wo man nur französisch und wallonisch sprach. Für dies Bauern war ich ein polnischer Kriegsgefangener, der aus einem deutschen Gefangenenlager geflohen war. Mein Deckname blieb den ganzen Krieg über Francois. Für die übrigen Dorfbewohner war ich ein Neffe der Bauersfrau, der aus dem flämischen Teil Belgiens kam. So erklärte sich mein nicht akzentfreies Französisch. Nach Ablauf der drei Tage wollte mich mein Brigardier wieder mitnehmen, aber die Bauern schlugen mir vor, bei ihnen bis Kriegsende zu bleiben, wozu ich gerne bereit war. Wir wohnten nahe an einem belgischen Militärflughafen, der in deutschen Händen war. Eines Tages zerstörten die Engländer bei einem Bombardement den ganzen Flughafen. Daraufhin quartierten sich deutsche Soldaten in belgischen Bauernhäusern ein, um vor weiteren Bombardements der Alliierten sicher zu gehen. So kam eines Tages plötzlich ein Jeep mit deutschen Soldaten in unseren Hof und ich sah sie auf unser Haus zulaufen. Ich floh durch die Hinterfenster in ein naheliegendes Wäldchen. Nach ein paar Minuten holte mich der Bauer zurück und erklärte mir, dass der Besuch nicht mir gelte, wie ich angenommen hatte. Von den zwölf Zimmern des Hauses belegten die Deutschen zehn und ließen uns nur zwei, jeweils eins für die Bauern und eins für mich. Mein Brigardier, dem ich meine Zweifel äußerte, so eng mit Deutschen zusammenzuleben, befahl mir, dort zu bleiben und Informationen zu sammeln. Ich blieb mit ihnen fast eineinhalb Jahre zusammen (bis zum 2. September 1944).

Die Deutschen gehörten zu einer Radargruppe aus dem Rommelcorps, die nach der Afrika-Niederlage nach Belgien versetzt worden war. Ich beschloss, kein deutsches Wort über meine Lippen kommen zu lassen, um mich nicht zu verraten. Als die Deutschen z.B. Essen verlangten, ließ ich sie mit Händen und Füßen ihr Begehr erklären, bis ich bereit war, ihre Wünsche zu verstehen. Der deutsche Offizier schlug mir vor, mit Hilfe eines Lexikons Deutsch zu lernen, um die Verständigung zu erleichtern, und nur mit Mühe konnte ich mich mit Hilfe meines Bauern diesem „Unterricht“ entziehen. Meine „Unbegabtheit“ auf diesem Gebiet blieb ihnen unerklärlich, aber sie schöpften keinen Verdacht. Bei einer bis zum Betrinken  gehenden Geburtstagsfeier dieser Soldaten war das ganze Haus eingeladen und ich hörte wieder dies abscheuerregenden Nazilieder. Nur mit Mühe konnte ich mich unter vorgeschützter Müdigkeit nach einer halben Stunde verdrücken. Nach Abschluss der Judenverschickung (Belgien war nun „judenrein“) begann die Aushebung belgischer Jugendlicher zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Als 22-jähriger „Belgier“ wäre auch ich jetzt mit ausgehoben worden. Auf den Rat meines Brigardiers hin begann eine Reihe von Namens-, Berufs- und Altersänderungen, in deren Verlauf ich nach der achten Änderung innerhalb eines Jahres zum Hilfsbauern im Alter von 40 Jahren aufstieg. In meinem Dorf wohnten zwei belgische Faschisten (Rexisten), durch deren Nachspüren schon untergetauchte Belgier entdeckt worden waren, die sich von der Zwangsarbeit absetzen wollten, um von ihrem Eltern besucht zu werden. Ich beschloss daher, alle 14 Tage „eine Reise zu meinen Eltern nach Antwerpen zwecks Verproviantierung“ vorzutäuschen. Das Manöver gelang und das ganze Dorf, inklusive Deutsche und Faschisten, war von meiner Legalität überzeugt, da eine solche Reise für einen illegalen höchst unratsam war. Bei einer meiner fingierten reisen übernachtete ich bei einer Resistance-Familie, die im Obergeschoss Juden versteckt hatte. Im Zwischengeschoss wohnten zwei deutsche Offiziere. Trotzdem gaben sie eines Nachts im Untergeschoss einem abgeschossenen deutschen Piloten Obdach, der dann am frühen Morgen durch Untergrundverbindungen wieder sicher nach England zurückgeschmuggelt wurde. Dieser „englische“ Pilot war ein Jude, der aus Polen geflohen war.

Mein jüdisches Gewissen wurde auf eine harte Probe gestellt, als meine Bauern mich aus Sicherheitsgründen zur Ostermesse – trotz meiner erklärten „Ungläubigkeit“ – mitnehmen wollten. Das Abendmahl wollte ich unter keinen Umständen annehmen. Ich nahm die Gefahr auf mich, dem Pfarrer meine Identität zu erklären. Ich hatte Glück: auch der Pfarrer gehörte der Resistance an und wusste de facto über mich Bescheid. Wir fanden einen Weg, wie er mich unbemerkt beim Abendmahl überspringen konnte.

Meine Verstellung als polnischer Flüchtling brachte mich auch in der mir so wohlgesinnten Umgebung immer mehr in Schwierigkeiten. Meine vom Trainingslager erworbenen landwirtschaftlichen Fertigkeiten erklärte ich durch meine Jugend auf der großen Farm meiner Eltern in Polen, über die meine Bauern gar nicht genug Einzelheiten hören konnten. Schließlich wurde mir das Lügengewebe zu viel und ich erklärte ihnen eines Tages meine wirkliche jüdische Identität. Das Widerspruch zwischen ihrem angeborene antisemitischen Bild von einem Juden und der Sympathie, die sie zu mir gefasst hatten, war für sie unüberbrückbar. Sie glaubten meine Erklärung einfach nicht! Ihre Liebe zu mir wuchs nur noch mehr. Zum Schluss wollten sie mich als Sohn adoptieren. Keine Ausgabe für mich war ihnen zu viel. Wagen und Pferde und andere Geschenke sollten mich bei ihnen halten.

Mitten im Krieg beteiligte ich mich an Einsätzen der Widerstandbewegung. Einmal befreiten wir jüdische Deportierte, die von einem Zug absprangen, und konnten viele retten. Gegen Ende der deutschen Besatzung verstärkte die Resistance ihre Aktivitäten. Am 6. September 1944 kam für uns der Tag der Befreiung. Die abziehenden Deutschen erklärten uns, dass sie zu Weihnachten zurückkehren würden, und fast wäre ihre Vorhersage eingetroffen (Ardennen-Schlacht).

Meine Bauern versuchten mit allen Mitteln, mich bei ihnen zu halten. Ich hörte, dass die jüdische Brigarde im Rahmen der alliierten Armee nach Belgien kam. Dort fand ich drei Mitglieder meiner ehemaligen Jugendbewegung – und heute meines Kibbuzes – mit deren Hilfe ich illegal nach Frankreich kam. Ich schloss mich einem Vorbereitungslager für Palästina (Israel) und für illegale Einwanderung an. Dort wurden wir trainiert. Nach einigen Monaten fuhr ich mit dem ersten illegalen Schiff („Tel-Chai“), von Marseille nach Haifa. In einem 800t-Schiff waren 1200 Passagiere untergebracht. Wir lagen auf mehrstöckigen Holzpritschen. Nach 14 Tagen Fahrt von einem kleinen Hafenplatz bei Marseille, einem stürmischen Übergang durch die Strasse von Messina, wurden wir 15 Meilen vor Haifa von einem englischen Flugzeug entdeckt. Zwei englische Kreuzer kamen uns entgegen, um uns abzufangen. Wir setzten unsere Fahrt weiter fort, bis die Engländer uns mit Kanonen bedrohten. Wir hielten an und wurden nach Haifa abgeschleppt. Man internierte uns in einem Gefangenenlager in Athlith und wir wurden nach einiger Zeit auf Konto der Zertifikatsquote befreit. Spätere illegale Einwanderer wurden schon nach Zypern abgeschoben.

Nach der Befreiung schloss ich mich sogleich dem Kibbuz Hasorea an, in dem ich mein Haus und meine Familie und jetzt schon vier Generationen aufbaute und wo wir vereint leben.

Abschließend möchte ich noch eine freudige Geschichte erzählen:
Als ich vor ungefähr fünf Jahren in London eine Reise unternahm, geschah folgendes: Während meiner Zeit in der Resistance gab es einen Pfarrer, der nicht weit von uns in Namür 50 jüdische Kinder versteckt hatte und insgesamt vier Mal es geschafft hatte, die Kinder vor deutschen Kontrollen zu bewahren. Meine Aufgabe war es, mit einem Kollegen aus der Resistance einmal pro Monat während des Krieges Lebensmittel dorthin zu bringen. Ich hatte einen belgischen Autofahrer und selbst eine deutsche Wehrmachtsuniform an. So gelang es uns, die Lebensmittel zu den Kindern zu bringen. Als ich nun in London diese Geschichte erzählte, brach eine meiner Zuhörerinnen in Tränen aus, umarmte und küsste mich stürmisch. Sie war eines dieser Kinder gewesen, denen ich Essen gebracht habe.

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