Die letzten Zeugen - Das Buc

OTTO DEUTSCH


 
 

OTTO DEUTSCH

(früher Deutsch)
geb. 1928-07-12
lebt heute in Großbritannien

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.

Marietta Trendl, Schülerin am BORG 3 in Wien, ist Otto Deutsch im November 2007 im Projekt »Botschafter der Erinnerung« in England begegnet. Im Mai 2008 war Otto Deutsch im Projekt 38/08 zu Gast an der Volksschule Perchtoldsdorf mit Lehrerin Christine Zechmeister und Direktorin Martina Mandl. Die Lebensgeschichte wurde von Katja Seidel vom Projektteam anhand von Interviews verfasst.

Otto Deutsch wird 1928 in Wien geboren und wächst im 2. Bezirk auf. 1939 wird sein Vater nach der Denunziation der Nachbarn in ein Arbeitslager verschleppt. Otto Deutsch kann mit 11 Jahren auf einem Kindertransport nach England entkommen. Die Eltern und seine ältere Schwester werden in einem Tötungslager in der Nähe von Minsk ermordet. Otto Deutsch lebt heute in Southend-on-Sea in der Nähe Londons.

»Ein Stückerl Herz liegt immer noch in Wien«

Otto Deutsch konnte mit 11 Jahren nach England flüchten, seine Familie wurde ermordet – von den Freunden nebenan denunziert.

Otto Deutsch kommt am 12. Juli 1928 als Sohn von Victor und Wilma Deutsch in Wien zur Welt und wächst gemeinsam mit seiner älteren Schwester Adele im 10. Bezirk in Wien auf. Er erlebt eine glückliche Kindheit im Kreis der Familie, die für den kleinen Otto im Jahre 1939 jedoch abrupt endet, als das Haus durchsucht und sein Vater verschleppt und in ein Arbeitslager in Sachsen gebracht wird. Otto ist zu diesem Zeitpunkt 11 Jahre alt. Was er bis heute nicht verstehen kann, ist, wie sich Menschen nach dem Anschluss über Nacht verändert haben, wie es möglich war, dass sogar enge Freunde zu Feinden wurde – wie jene Familie Philipp, die damals Tür an Tür mit den Deutschs lebte.

»Die Familie Philipp, die waren unsere Nachbarn. Dass sie Katholiken waren und wir Juden, das hat uns gar nichts ausgemacht. Wir waren die besten Freunde. Ich habe den Herrn Philipp Onkel genannt und die zwei Frauen haben zusammen gekocht, weil das billiger war. Und die zwei Männer sind in der Früh immer gemeinsam weggegangen, um Arbeit zu suchen. Wir waren wie eine Familie! Nun ja, dass die Philipps Katholiken waren, das war für uns Kinder eine schöne Sache – zu Weihnachten bin ich immer zum Kurt in seine Wohnung, und da war immer eine Süßigkeit für mich. Und fast zur gleichen Zeit feiern wir Juden Chanukka, wo wir unsere Lichter anzünden. Da ist der kleine Kurt dann immer zu uns gekommen. Das war für uns Kinder also ganz gut, Weihnachten und Chanukka, ja mein Gott, wie könnte es denn besser sein? Aber ich komme jetzt auf den Punkt, auf den Moment, den ich nie vergessen werde. In der Kristallnacht kommen zwei Burschen von der Hitlerjugend zu uns ins Haus, die schreien durch das Stiegenhaus, ich kann noch den Wiener Dialekt: ›San Judn bei eich obn?‹ Und keiner hat was gesagt, wir waren ganz beliebte Leute, keiner ... aber der, der uns dann verraten hat, das war dieser Herr Philipp, der mit meinem Vater im Schützengraben gelegen ist. Wie kann das möglich sein? Er schrie: ›Ja freilich, die Deutsch!‹

Und da haben sie meinen Vater mitgenommen und ich habe ihn nie wieder gesehen. Nie, nie wieder. Meine Mutter und Schwester haben ihn
schon noch einmal wieder gesehen, er ist noch mal zurückgekommen. Und die ganze Familie ist dann zusammen in den Tod gegangen, Hand in Hand, das weiß ich auch ...«

Otto Deutsch entkommt den Nazis. Im Juni 1939 wird ihm ein Platz in einem Kindertransport nach England zugesichert und so verlässt er Wien – alleine – in Richtung England. Seine Schwester Adele, damals 17 Jahre alt, darf ihn nicht begleiten, denn für die Kindertransporte sind nur Kinder unter 14 Jahren zugelassen.

Otto Deutsch überkommen die Emotionen, wenn er berichtet, wie ihm seine Mutter von England erzählt hat: »Ja, Ihr müsst mich entschuldigen, weil ich seh’ das jetzt alles, es ist mir jetzt im Bild. Auf einmal kommt die Mama zu mir, das war schon im Juli, nein im Juni war das, Ende Juni 39. Und da sagt sie: ›Otto, Otto, ich hab jetzt eine sehr gute Nachricht.‹ ›Ja?‹ ›Du gehst nach England!‹ Ich habe gewusst, England ist eine Insel, das habe ich gewusst, aber ich war ja noch nie weit weg von meiner Heimat. ›England?‹ Ich war ganz aufgeregt. ›Ja? Wann gehen wir?‹ ›Nein Otto, nicht wir, aber du.‹ ›Ich?‹

In zwei Tagen musste ich wegfahren. Und da hat die Dele, meine Schwester, gesagt, wir müssen noch ein Foto machen, ein Abschiedsfoto.
Und das habe ich noch. Am nächsten Tag sind wir zum Westbahnhof gegangen. Aber nicht zum Westbahnhof, wie er heute ist, sondern zum ganz alten Westbahnhof ...«

In England angekommen, kommt Otto zuerst in Claydon in der Nähe von Ipswich in einer Herberge für jüdische Flüchtlingskinder unter. Mit Ausbruch des Krieges werden die Kinder von dort evakuiert und Otto Deutsch wird von der Familie Ferguson in Morpeth aufgenommen. Bei ihnen lebt Otto Deutsch die kommenden vier Jahre. »Ich nannte sie Onkel und Tante – die waren sehr lieb zu mir. Außerdem waren sie begeistert, dass mein Englisch sich so schnell verbesserte. Es dauerte nicht lange, bis ich mich in der neuen Kultur zurechtfand und neue Freunde gefunden hatte. Manchmal konnte ich richtig vergessen, was in meiner Heimat geschah.« Der härteste Schlag kommt für Otto, als er gerade 14 alt geworden ist. »Ich wurde in den Empfangsraum gerufen. Schon da war mir klar, dass irgendetwas nicht stimmte, denn dieser Raum wurde nur zu besonderen Gelegenheiten genutzt. Wir setzten uns, und die Fergusons erzählten mir die schreckliche Nachricht, die sie gerade erfahren hatten. Meine Mutter, mein Vater und meine Schwester Adele waren in einem Tötungslager in Osteuropa ermordet worden.«

»Ich glaube sie erwarteten von mir, dass ich weinen würde. Aber das habe ich nicht getan. Zumindest nicht gleich. Erst als sie den Raum verlassen hatten, habe ich geweint und geweint und geweint. Ich wollte es einfach nicht glauben, ich konnte es nicht akzeptieren, was mir erzählt worden ist.«

Im Alter von 17 Jahren hat Otto Deutsch angefangen zu arbeiten, zuerst als Stadtführer in London, später als Touristguide auch in anderen Ländern Europas. Seine Arbeit hat Otto Deutsch viele Male nach Österreich zurückgeführt, wo er eine Reihe glücklicher Urlauber durch seine ehemalige Heimatstadt Wien geführt hat. Jedes Mal, wenn er sich mit einer Gruppe auf den Weg zum Wahrzeichen der Stadt, dem Wiener Riesenrad gemacht hat, führte ihn dieser Weg durch den zweiten Bezirk, und somit vorbei an der letzten Wohnadresse der Familie.

»Ich wäre kein Mensch, wenn meine Gedanken nicht abschweifen würden, in die Vergangenheit, zu meinen geliebten Eltern und meiner
Schwester. Zeit heilt keine Wunden. Wie die Jahre vergehen, werden die Bilder nur deutlicher und deutlicher«, sagt Otto Deutsch.

Heute lebt er in Southend-on-Sea in England, ist seiner neuen Heimat sehr verbunden und möchte nicht mehr in Österreich leben. Doch die Gedanken an die Familie, an Wien und daran, was hätte sein können, begleiten ihn täglich.

»Wenn ich zurückblicke, kommt es mir manchmal so unfair vor. Meine Schwester war so stark, so gesund, als sie starb.« Otto Deutsch denkt nach: »Wie gut es ihr heute gehen könnte. Ich hätte meiner Familie so viel geben können. Wir waren damals arm und wir hatten nicht einmal fließendes Wasser zuhause. Was ich ihnen heute hätte bieten können.«

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