Die letzten Zeugen - Das Buc

EDELTRUD POSILES


 
 

EDELTRUD
POSILES

(früher Becher)
geb. 1916-06-04


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Edeltrud Posiles wurde 1916 in Wien geboren. Sie versteckte zunächst ihren jüdischen Freund in einem Dachatelier, als später dessen zwei Brüder vor der Deportation standen, versteckte sie auch sie bis zum Kriegsende und rettete so drei Juden das Leben.

"Und so habe ich halt drei Juden viele Jahre lang versteckt..."

Der Schüler Aaron Friesz traf Edeltrud Posiles persönlich und führte mit ihr ein Interview.

Frau Posiles, erzählen Sie uns bitte,wie das war Ende der 30er-Jahre, als Sie zuerst ihren Freund Walter Posiles und dann seine beiden Brüder versteckt haben.

Schon zwei Jahre bevor Hitler gekommen ist, habe ich den Walter gekannt – und dann kam gleich die Rassenschandeanzeige und ich bin auf Walters Veranlassung hin nach Ungarn zu seiner Schwester geflüchtet. Erst nachdem die Rassenschandeanzeige gegen mich niedergeschlagen wurde, konnte ich wieder nach Österreich kommen.

Inzwischen hatte sich die Situation für Juden immer mehr zugespitzt – auch in der Tschechoslowakei, denn der Walter war ja eigentlich tschechischer Staatsbürger. Als ich wieder in Österreich war, habe ich versucht, den Walter zu verstecken – das heißt, ein Domizil für ihn zu finden. Ich habe mit ihm vereinbart, dass er zu meinen Tanten kommt – nach Döbling in die Gymnasiumstrasse 56. Ich wusste aber schon damals, dass ich ihn auch in der Wohnung von Friedrich Kunz, dem Verlobten meiner Schwester Lotte verstecken könnte, da dieser eingerückt war und die Wohnung im 7. Bezirk in der Neustiftgasse leer stand. Und der hatte eine relativ große Atelierwohnung und er war wohl ganz, ganz selten auf Urlaub.

Da habe ich auf jeden Fall gewusst, also den Walter, den kann ich einmal verstecken. Und dann sollten die beiden Brüder vom Walter, der Hans und der Ludwig, die in der Tschechoslowakei geblieben waren, ins KZ abtransportiert werden. Das wollte der Walter natürlich nicht. Und er hätte es sich sein ganzes Leben vorgehalten, hätte er nur sich gerettet. Da haben sich meine Schwester Lotte und ich beraten und sie hat von sich aus vorgeschlagen, alle drei Brüder in der Wohnung von Friedrich Kunz unterzubringen, zu verstecken. Dann haben sie alle drei an dem selben Tag für den selben Transport ins KZ die Einberufung bekommen. Aber sie sind nicht eingerückt. Sie haben Abschiedsbriefe geschrieben und sind dann schwarz über die Grenze nach Österreich und zu mir geflüchtet.

Haben Sie zu dieser Zeit schon gewusst,was auf Sie zukommen wird, was Sie zu erwarten haben?

Nein. Mit dem Walter war ich 1938 schon längst liiert, und nachdem Hitler gekommen ist, hat mir der Walter den Ehering angesteckt und gesagt: „Ich nehme dich zur Frau!“ Aber da war es schon zu spät. Zu dieser Zeit haben wir nicht gewusst, was uns erwarten wird. Der Mensch lebt von der Hoffnung. Hitler war natürlich etwas sehr Bedrohliches. Aber wie sich das auswirken wird mit den KZ und so hat man nicht gewusst.

Der Walter wollte ja zuerst ins KZ gehen und hat noch gesagt: „No, was kann denn schon sein. Ich bin ja nicht vorbestraft oder sonst was. Da werden wir halt arbeiten und nachher fangen wir wieder von vorne an.“ So hat er sich das vorgestellt. Aber es hat sich bald als wesentlich unbequemer herausgestellt. Aber mir und ihm war von Anfang an klar, dass wir beide zusammenbleiben – auf Leben und Tod. Und wenn man mit jemandem befreundet  ist, dann meint man das auch so. Selbstverständlich war mir bewusst, dass es riskant ist, den Walter zu verstecken. Auch meine Familie war sich dessen bewusst.

Was haben Sie persönlich davon wahrgenommen, wie man mit Juden in Wien nach dem Anschluss 1938 umgegangen ist?

Na ja, Sie müssen wissen, ich habe ja nicht weiter in jüdischen Kreisen gelebt und hatte genug mit dem Walter und seinen Brüdern zu tun. Ich war selbst nicht so in dem Wirbel drinnen. Ich muss sagen, ich hab nie gesehen, wie man den Juden die Fenster eingeworfen hat – aber die kaputten Fenster, die hab ich gesehen. Und dass dann die Rollbalken unten waren und wie dann alles ausgesehen hat auf der Strasse.

Und ich habe mitbekommen, was die Leute gesagt haben, was meine Eltern gesagt haben, je nachdem, welche politische Ausrichtung die Leute hatten. Anfangs waren überhaupt viele Leute vom Hitler begeistert, waren Mitläufer. Aus dem einfachen Grund, dass Hitler durch seine Aufrüstung die große Arbeitslosigkeit beseitigt hat. Außerdem hat das Regime sehr viel mit Angst gearbeitet. Hitler hat den Leuten Angst eingejagt, auch den Nichtjuden. Den Juden überhaupt, aber auch den Nichtjuden.

Haben Sie gewusst, dass sehr viele Juden ausgewandert sind beziehungsweise auswandern mussten?

Ja, ja. Das habe ich schon durch den Walter und seine Familie erfahren. Weil der Walter mir natürlich erzählt hat, dass dieser und jener Cousin weggegangen ist. Und der Walter wollte ja auch weggehen, nach Santa Domingo, er hat sich aber zu viel Zeit gelassen, weil er Angst gehabt hat vor dem Klima. Der Walter hat keine Hitze vertragen. Und so ist es zu spät für uns geworden, um auszuwandern.

Haben Sie gewusst, welch hohes Risiko Sie eigentlich eingehen?

Selbstverständlich war mir bewusst, dass es riskant ist, den Walter zu verstecken. Auch meine Familie war sich dessen bewusst. Aber ich habe mich von meinen Eltern sehr separiert, weil ich ja mein eigenes Domizil gehabt habe. Vorher habe ich bei meinen Eltern gewohnt, so wie meine Schwester auch. Meine Schwester Lotte hat weiter bei meinen Eltern gewohnt während der Hitlerzeit und nicht beim Friedrich Kunz in der Wohnung. Aus dem einfachen Grund, weil sie ein Kind gehabt hat und eine Anstellung im Volkstheater, und meine Mutter konnte in dieser Zeit das Kind versorgen.

Man hat sehr viel Angst gehabt, sich aber gegenseitig auch Mut gemacht. Man muss dazu sagen, die drei Brüder waren alle Alkoholiker – und haben nach Möglichkeit auch immer Wein getrunken. Bevor ich den Walter kennen gelernt habe, habe ich nur Milch getrunken. Dann habe ich auch mit dem Walter Schritt gehalten, und das war eine ganz schöne Leistung. Aber der Alkohol hat diese gute Eigenschaft gehabt, während der Hitlerzeit keine Depression aufkommen zu lassen. Also haben wir uns anfangs verschiedenen Alkohol verschafft und dann später nach einem Jahr, wie der Ludwig zum Alois Kreiner übersiedelt ist – der Alois Kreiner ist ein guter Freund vom Walter gewesen – haben wir von ihm immer Alkohol gekriegt, weil er Weinhändler war. Man glaubt gar nicht, was man zum Überleben alles braucht, es ist eben nicht nur das Essen, sondern bei Menschen, die trinken, auch der Alkohol.

Mit dem Essen war das so: es hat jeder Mensch seine Lebensmittelmarken gekriegt, die reichlich waren – vor allem anfangs. Unsere Freunde haben dann für uns auch immer Marken gesammelt. Wenn man die Brotmarken hatte, konnte man nicht mehr verhungern. Denn die konnte man von den großen Bögen abschneiden: 10 dag, 5 dag, ein Viertel Kilo und so. Auf die Brotmarken hat man Brot, Gebäck, Süßwaren, Mehl, Grieß und Reis bekommen. Man hat kein Fleisch darauf gehabt, aber vom Fleisch muss man ja auch nicht leben, wenn es ums Überleben geht. Und dann gab es noch aussertourliche Sachen, wie alle drei Wochen einmal Hendlessen im Rathauskeller – auf das sind der Hans und der Ludwig gekommen. Die sind nämlich in Wien spazieren gegangen, weil sie ja eigentlich in Wien niemand gekannt hat. Die haben sich nicht einsperren lassen.

Haben die drei Brüder irgendein Ausweispapier gehabt?

Das war natürlich ein großes Problem! Wie sie hergekommen sind, hatten sie ja keine Papiere. Es haben sich alle einen Personalausweis lösen müssen und mussten sich ein „J“ für Jude hineinstempeln lassen. Der Ludwig hat das Blödeste gemacht und es gleich ausradiert, und ich hab es mit Meerschaum bearbeitet, damit man die durchscheinende Stelle nicht so sieht. Aber jeder Laie hätte das bemerkt, wenn es nur den geringsten Verdacht gegeben hätte. Aber der Ludwig hat sich über die ganze Zeit nicht ausweisen müssen.

Ausser ein einziges Mal und das war im 44er-Jahr, wie auf den Hitler das Attentat gemacht wurde. Da hat er die Fritzi nach Hause begleitet und da sind sie kontrolliert worden. Die Fritzi hat natürlich ihre Papiere in Ordnung gehabt und der Ludwig hat ganz naiv seinen Ausweis hergezeigt – und nichts ist passiert. Letzten Endes kann man noch so gescheit sein – man muss nur Glück haben.

Wie erklären Sie sich, dass von den zwölf Menschen, die davon gewusst haben, dass Sie Juden verstecken, keiner etwas verraten hat?

Ja, also ich muss sagen, auch aus Selbsterhaltung macht man es, weil es eben jedem an den Kragen gegangen ist, wenn er geplaudert hätte, das glaube ich. Unter uns war eine Frau, die berufstätig war, die hat sich bei der Hausbesorgerin beklagt, dass ich soviel Lärm mache mit meinen Gästen. Und dann sind wir in Hausschuhen leise gegangen und haben in den Zimmern Verdunkelungspapier dick aufgelegt, damit man nichts durchhört. Wenn man auf die Toilette gegangen ist, hat man auch Acht gegeben. Also es waren so verschiedene Sachen, die man lernen musste und an die man nie gedacht hätte.

So waren wir zum Beispiel, als die Front über Wien gerollt ist, nicht mehr in der Neustiftgasse, sondern da waren der Walter und ich in Perchtoldsdorf in der Villa eines Freundes vom Walter, der ein Erznazi war. Der hat nichts gewusst. Erst nachher. Aber natürlich hat er gesagt „No, ich werd doch nicht den Walter, ich war doch sein Freund ...“ Ich kann sagen, dass ich den Wienern eigentlich ein gutes Zeugnis ausstellen kann. Andere aus meinem Bekanntenkreis haben wieder gesagt, sie könnten den Wienern nur ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Also es ist ganz verschieden gewesen, wie man es getroffen hat. Es ist nur das, wenn jemand ein Antinazi war, hat er auch in seinem Kreis Antinazi als Freunde und Bekannte gehabt. Das ist irgendwie so ansteckend.

Sie sind ja während des Krieges auch in die Oper und ins Kaffeehaus gegangen.

Ja, ins Kaffeehaus sind wir ein Mal gegangen und nie wieder, denn dort sind die Leute perlustriert worden. Und da waren wir eben im 2.Bezirk in einem Kaffeehaus und der Walter sagt, da ist eine Perlustrierung. „Du kennst mich nicht, von dem Hut, der da liegt, weißt du nicht, wem der gehört“. Und der Walter hat, das hat er mir dann später erzählt, so getan, als wenn er der Kaffeehausbesitzer wäre, hat sich einen Pack Zeitungen genommen und ist bei den Gästen von einem zum anderen gegangen. Das war sehr mutig vom Walter. Dass es durchgegangen ist, das war eben Glücksache. Das war das erste Mal, das wir in ein Kaffeehaus gegangen sind und das letzte Mal. Wir sind wohl in die Oper gegangen, da war nie was. Wir sind ins Kino gegangen, wir sind ins Theater gegangen, überhaupt ins Volkstheater, aber ins Kaffeehaus sind wir nie mehr.

Haben Sie gewusst, was Ihnen blüht, wenn man Sie erwischt?

Jawohl, das habe ich schon gewusst. Ob Sie uns aufgehängt hätten, ob sie mich gefoltert hätten oder ich weiß nicht was ... Aber wir haben ja jeder Zyankali bei uns getragen. Das hatten wir von der Annemarie Ungar. Die war Chemikerin und hat aus ihrer Firma eine große Zyankali-Phiole mitgehen lassen. Die hat sie dann verteilt, auch an die, die ins KZ gegangen sind.

Erzählen Sie mir noch von der Befreiung, vom Kriegsende...

Es ist dann die Front langsam näher und näher gekommen und wir sind von Wien weg nach Perchtoldsdorf und waren im Haus vom Heinz. Der Heinz war ja ein Erznazi. Der wäre bestimmt heute noch Nazi, wenn er noch leben würde. Der Heinz hat sich nach Westen abgesetzt und zum Walter gesagt, er solle auf sein Haus aufpassen. Wie soll man auf ein Haus aufpassen, wenn die Front darüber rollt? Der Walter hat trotzdem gesagt, er macht es. Nun haben wir schon langsam Schießen gehört und dann sind auch Flugzeuge gekommen – es ist gebombt worden. Also, drei Treffer haben wir gekriegt. Dann sind halt die Russen gekommen und haben in der Nacht die ganzen Fenster rausgeschossen. Wir haben oben geschlafen, sind aber dann in den Keller gegangen. Bis dahin haben wir keine Russen zu Gesicht bekommen. Wir haben nur ein weißes Leintuch gehisst – so wie die anderen auch und der Walter ist in die Ortschaft gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Nach einer Stunde oder so ist er wiedergekommen und hat gemeint: „das sind ja eigentlich Räuber, das sind ja fürchterliche Leute, die Russen“ und hat fürchterlich auf die Russen geschimpft. Die Russen sind natürlich dann auch ins Haus gekommen, haben alles durchgeschaut, der Walter hat mich versteckt, weil er gewusst hat, die Vergewaltigungen, und so weiter. Das hat man, glaub ich, auch im Radio durchgesagt. Ich weiß nur, dass im Nebenhaus zwei junge Mädchen leider dieses Schicksal hatten.

Dann haben wir uns aufgemacht und sind zu Fuß nach Wien herein. Und bei der Philadelphiabrücke haben sie den Walter geschnappt und der Walter hat sich ausgewiesen: „Ich bin tschechischer Staatsbürger!“ „Das macht gar nichts – Sie sind ein Mann und deshalb werden Sie Schwellen tragen“, haben die gesagt. Also, Eisenbahnschwellen tragen, denn es war ja alles zerbombt und damit die Sachen wieder in Ordnung kommen, also damit die Bahn wieder fahren kann. Der Walter hat noch zu mir gesagt, „geh zum Kreiner“. Der Walter ist ihnen dann in der Dämmerung durchgegangen, er hat so getan, als ob er wohin gehen müsste und ist auch zum Alois Kreiner gekommen, wo der Ludwig gewohnt hat.

Haben Sie eigentlich gewusst dass Sie sich sehr aussergewöhnlich verhalten haben?

Was heißt aussergewöhnlich? Ich war immer ein aussergewöhnlicher Mensch, deshalb kann ich’s nicht sagen. Es lag auf meiner Linie. Keiner von uns war kriminell und doch haben wir kriminelle Sachen gemacht. Wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, dann macht man, was man kann. Und so hab ich halt drei Juden viele Jahre lang versteckt. Einer, der sich zu sehr gefürchtet hätte, hätte es natürlich nicht gemacht. Aber man muss natürlich auch eine Möglichkeit haben, dass man es machen kann. Man kann natürlich auch keinen Menschen in einen Kasten setzen und ihm sagen: „jetzt warte den Krieg ab!“. Das ist es, was man mir auch gesagt hat.

Hatten Sie auch Freunde, die dem Naziregime angehört haben?

Nein, ich glaube nicht. Der Walter hat da diesen einen Freund gehabt, von dem ich gesprochen habe, aber sonst – nein. Ich muss sagen, ich war ein sehr unpolitischer Mensch. Man hat aber auch Frauen zu dieser Zeit aus der Politik weitgehend ausgeklammert und mein Vater hat gesagt: „Die Politik ist ein schmutziges Geschäft und ein anständiger Mensch beschäftigt sich nicht damit.“

Haben Sie Angst, dass sich die Geschichte wiederholen könnte?

Sicher ist man gezeichnet durch diese Zeit, das ist gar kein Zweifel. Aber ich meine, man hat keine was weiß ich für welche seelische Krankheiten mitgekriegt. Es ist weder der Walter noch der Ludwig in Behandlung gewesen oder so. Schauen Sie, diese Angst, dass sich das wiederholen könnte, hab ich nicht gehabt. Ich hab mich aber auch nicht gemeldet, dass ich Juden versteckt habe, denn man weiß nicht, was die Zukunft bringt. Und dass danach die Nazis noch mal kommen, das hab ich nicht geglaubt, denn es wiederholt sich nichts. Aber andere Sachen können irgendwann einmal kommen.

Aaron Friesz, Montessorischulen Wien, 2005

Siehe auch Beitrag unter "Die Gerechten unter den Völkern"


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