GEORGE HANS
(früher Hans Georg Vulkan) |
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Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.
Im Projekt »Botschafter der Erinnerung« ist Thomas Reichel im November 2007 George Vulkan in London begegnet. Das Gymnasium Billrothstraße in Wien mit Lehrer Franz Lux sowie das BRG 7 mit Lehrerin Vera Karin Cerha waren im Projekt »38/08« Gastgeber für George Vulkan.
George Vulkan wird 1929 in Wien geboren, wohnt im 9. Bezirk, Schlickplatz 4. Aus der Schottenschule wird er im März 1938 hinausgeworfen. Als jüdisches Kind ist ihm fortan alles verboten, die Hitler-Jugend misshandelt ihn. Im September 1938 vor der Verhaftung des Vaters Flucht über Paris nach England. George Vulkan geht in London zur Schule, besucht später die Universität, absolviert zwei Jahre Militärdienst und arbeitet danach als Wissenschaftler für die Stadt London.
Deutsche Soldaten schützten uns vor HJ
George Vulkan wurde als 9-Jähriger gedemütigt und misshandelt. Die Flucht war ihm Erleichterung, Abenteuer und Beginn eines neuen Lebens.
Ich wurde im Jahr 1929 in Wien geboren, wo ich gemeinsam mit meinen Eltern und Großeltern in einer schönen, großen Wohnung am Schlickplatz im 9. Bezirk lebte. Meine Familie gehörte dem Wiener Mittelstand an und mein Vater hatte gemeinsam mit seinem Bruder ein Holzlager in der Nähe des Nordwestbahnhofs. Mein Vater war eines von zehn Kindern und seine Schwestern und Brüder lebten gemeinsam mit den Eltern ebenfalls im 9. Bezirk. Meine Mutter hatte eine Schwester, die im ersten Bezirk wohnte, ihre zwei Brüder sind im Ersten Weltkrieg gefallen.So wie in vielen Familien zu jener Zeit üblich, hatte auch ich ein Kinderfräulein, Frau Olga Grill, die wir aber immer nur Beule nannten, warum, das weiß ich nicht. Sie gehörte ganz zur Familie und blieb auch in den schwersten Zeiten treu bei uns. Ich hatte eine sehr schöne Kindheit und kann mich erinnern, dass ich oft mit Beule in den Park ging und später auch zu Kindervorführungen ins Kino oder in den Zirkus. Ich spielte gerne im Schlickpark, wohin mich mein Großvater begleitete.
Zuhause hatte ich viele Spielsachen sowie einen Hasen und einen Kanarienvogel. Jeden Mittwoch unternahmen wir eine Schifffahrt auf der Donau, das war ein spezielles Angebot für Kinder, vielleicht aber auch, weil der Kapitän der »boyfriend« von Beule war.
Wir waren Juden, aber sehr assimiliert, und ich bemerkte kaum, dass ich jüdisch war. Ich hatte viele Freunde, wurde bei anderen Kindern eingeladen, und auch sie kamen gerne zu uns nach Hause. Es machte für mich keinen Unterschied, ob jemand jüdisch oder christlich war.
Im Jahr 1936 wurde ich in die Schottenschule eingeschult, wo ich mich sehr wohl fühlte. Ich wusste nichts von der Politik, aber meine Eltern sprachen oft über einen schlechten Mann, Hitler, der viel gegen die Juden in Deutschland machte, aber natürlich hätte das nichts mit uns in Österreich zu tun. Zu Beginn des Jahres 1938 hörte ich auch über Hitler in der Schule, aber wir wussten, dass wir patriotische Österreicher waren. Wir lernten das Kruckenkreuz zu zeichnen und begannen das neue Schulheft mit rot-weiß-roten Fahnen und dem patriotischen Spruch »Sei gesegnet (unleserlich) Gott mit dir mein Österreich«. Wir trugen auch rot-weiß-rote Abzeichen.
Am 24. Februar schrieben wir ins Heft: »Gestern hielt unser Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg eine bedeutsame Rede. Die wurde von der ganzen Welt gehört. Der Sinn der Rede war: Deutscher Friede und Österreichs Unabhängigkeit.« Der Lehrer schrieb in Rot darunter: »Gelobt!«
Am Freitag, dem 11. März 1938, schrieben wir einen Absatz über unseren Bezirk, Wien-Alsergrund.
Dann änderte sich unser Leben.
Auf der selben Seite mussten wir ein paar Tage später schreiben: »Deutsch-Österreich. Deutschösterreich ist ein Teil des deutschen Reiches geworden. Der Reichskanzler, unser Führer, ist Adolf Hitler.« Dieser Absatz wurde später von mir oder meinem Vater kräftig durchgestrichen.
Ich ging weiter in die Schule, aber als Jude musste ich hinten in der Klasse sitzen. Warum, konnte ich nicht verstehen. Plötzlich durfte ich nicht mehr mit nicht-jüdischen Kindern spielen und außerhalb der Schule gab es nun überhaupt keinen Kontakt mehr. Kurz danach war es Juden verboten, in Parks zu gehen, und ich konnte auch nicht mehr auf den Spielplatz oder ins Kino. Mein Vater verlor sein Geschäft und musste zuhause bleiben. Meine Mutter sagte mir später, dass sie zu dieser Zeit am stärksten getroffen hatte, dass sie von christlichen Bekannten, mit denen sie zuvor oft ins Kaffeehaus gegangen war, einfach ignoriert wurde und diese sie nicht einmal erkennen wollten, wenn sie ihr auf der Straße begegneten.
Im April 1938 wurde ich plötzlich aus der Schule hinausgeworfen und musste in eine Schule wechseln, die nur für Juden war. Wir hatten dort auch jüdische Lehrer. Jeden Tag nach der Schule wurden wir von der HJ, der Hitler-Jugend »begrüßt«, die uns mit Steinen und altem Obst bewarfen und anschrieen: Saujuden, zurück nach Palästina! usw. Zwei Polizisten waren immer dabei und lachten. Wir waren kleiner als die HJ-ler, hatten Angst, konnten nur so rasch wie möglich wegrennen. Nach ein paar Tagen hatten wir einen neuen Schreck, da eine Patrouille von deutschen Soldaten um die Ecke kam. Zu unserer Überraschung trieben sie die HJ weg, fragten die Polizei, warum die nichts machten um uns zu helfen und kamen dann sehr freundlich zu uns, um uns zu beruhigen. Sie sagten, das werde nicht mehr geschehen, und so war es auch.
Nach ein paar Wochen wurde die Schule gesperrt und für mich begannen sehr lange, aber keine schönen Ferien. Ich konnte fast nirgendwo hingehen, hatte keine Freunde und wusste, dass meine Eltern sehr unglücklich waren. Manchmal riskierte Beule, mit mir in einen Park zu gehen, aber meine Eltern hatten dabei immer Angst. Beide Großeltern, die bei uns wohnten, starben in dieser Zeit.
Meine nächste klare Erinnerung habe ich an den September 1938. Ich war alleine mit Beule zuhause, da meine Eltern die Schwester und den Schwager meiner Mutter besuchten. Es kam ein Telefonanruf, und Beule war sehr aufgeregt, sagte mir, ich müsse gleich ins Bett gehen, sie müsse meine Eltern abholen. Am nächsten Morgen wurde ich früh aufgeweckt, und mein Vater sagte mir, wir würden auf Ferien nach Frankreich fahren. Zwei kleine Koffer waren schon gepackt. Ich fragte, was ich mitnehmen kann, aber mein Vater sagte: »Nichts, nur einen Teddybär – wir kommen ja bald wieder zurück.«
Meinen Eltern blieb nicht einmal mehr die Zeit, von ihrer Familie Abschied zu nehmen. Die meisten Verwandten sahen wir nie wieder. Der Telefonanruf war eine anonyme Warnung, dass mein Vater am kommenden Tag, dem 20. September 1938, verhaftet werden würde.
Wir fuhren mit dem Zug nach Paris, wo wir frei waren.
Und doch war es eine schwere Zeit, da wir fast kein Geld hatten, und viele Sorgen über die Familie in Wien. Für mich aber war es ein Abenteuer und ich hatte weiter Ferien. Im Februar 1939 reisten wir nach England, wo wir zuerst nur eine Aufenthalts-Erlaubnis für zwei Wochen erhielten, diese wurde später aber mehrere Male verlängert. Zuerst wohnten wir in London bei fernen Verwandten. Da mein Vater nicht arbeiten durfte, erhielten wir Unterstützung durch die jüdische Gemeinde. Ich ging für zwei Wochen in eine Volksschule, aber ich konnte kein Wort Englisch und niemand in der Schule sprach auch nur ein Wort Deutsch. Nach zwei Monaten übersiedelten wir nach Hove bei Brighton, wo das Leben billiger war, und dort war auch eine jüdische Schule, die Klassen für »Refugees« hatte.
Wir blieben bis August 1940 in Hove und gingen dann zurück nach London. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt schon Englisch sprechen, und mein Vater arbeitete in einer Fabrik. Wir waren während des »Blitz« – der verheerenden deutschen Bombenangriffe 1940/41 – in London, durchlitten die Flugangriffe, aber wenigstens mit Menschen auf der selben Seite.
Ich ging auf eine nette englische Schule, hatte viele Freunde, besuchte danach eine Secondary School und nach dem Krieg die »London-University«. So wie alle in meinem Alter war auch ich zwei Jahre auf »National Service« in der Armee und arbeitete dann als »Environmental Scientist«.
Das Leben für meine Eltern war aber weiterhin sehr schwer – erst seitdem mein Vater gestorben ist, weiß ich von seiner verzweifelten Korrespondenz, den Briefen aus Wien und Kopien seiner Briefe, wie viel er probiert hat, die Familie zu retten. Drei seiner Schwestern kamen als Dienstmädchen nach England (in Wien arbeiteten zwei Schwestern als Schneiderinnen, eine war Sekretärin), zwei Onkel flüchteten illegal.
Von all denen, die zu Kriegsbeginn noch in Wien waren, hat niemand überlebt. Die Eltern meines Vaters, ein Bruder, drei Schwestern sowie eine Schwester und ein Schwager meiner Mutter wurden ermordet.
Obwohl ich das Verbrechen der Nazizeit nie vergessen oder vergeben kann, habe ich nichts gegen die jetzige Generation in Österreich oder Deutschland und fühle mich durch die jüngsten Erfahrungen mit vielen netten Menschen darin bestärkt.