Die letzten Zeugen - Das Buc

FRITZI MIRJAM KURZ


 
 

FRITZI MIRJAM
KURZ

(früher Rosenstock)
geb. 1930-10-10
lebt heute in Israel


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Im Mai 2008 war Fritzi Mirjam Kurz im Projekt »38/08« zu Gast an der KMS Reisgasse in Wien mit Lehrerin Andrea Schreiber. Die Lebensgeschichte von Fritzi Mirjam Kurz wurde von Marie-Christine Hartig vom Team  »A Letter To The Stars« aufgezeichnet.

Fritzi Mirjam Kurz  wird 1930 in Wien geboren. Mit 9 Jahren beginnt ihre Flucht, die bis zu ihrem 15. Geburtstag dauern sollte. Gemeinsam mit ihrer Mutter kann sie zunächst nach Maribor flüchten, wird auf der Insel Rab interniert, kommt frei, verbringt die nächsten Jahre ständig auf der Flucht vor den Deutschen, versteckt in Wäldern, bei Bauern und Partisanen. Bis sie schließlich der Sohn Winston Churchills rettet und über Italien nach Palästina bringt.

Sieben Jahre auf der Flucht und im Versteck

Fritzi Mirjam Kurz war 9 Jahre alt, als ihre Flucht begann – und 15, als das Verstecken in Wäldern und Dörfern doch noch zu Ende ging.

Ich habe meinen Puppen versprochen: Seid nicht traurig! Ich komme wieder!«

Frau Kurz erzählt mit einem Lächeln von den letzten Stunden in Wien. Es war 1939, sie war damals gerade 9 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter flüchten musste. Ein Mann sollte ihnen helfen, nach Slowenien zu fliehen. Er begleitete Mirjam und ihre Mutter zum Bahnhof. Sie stiegen in einen Viehwaggon und mussten ganz leise sein. Der Mann sagte ihnen, sie müssten eine Station vor Maribor aus dem Zug springen, denn sonst würde man sie am Bahnhof vom Maribor wieder zurück nach Wien schicken. Der Mann verabschiedete sich. Kurz darauf kam er zurück, mit einem jungen Burschen – 17 oder 18 Jahre alt. Er sollte den beiden beim Absprung helfen. Doch als es so weit war, hatte er Angst. Also nahm Mirjams Mutter ihre Tochter und warf sie, ohne etwas zu sagen, aus dem Zug. Die Mutter sprang sofort nach, und wie durch Gottes Hand hatten sie beide keine gröberen Verletzungen. Sie schafften es, über die Grenze zu kommen, ohne entdeckt zu werden. Dort wartete schon jemand auf sie, so wie es geplant war. Am nächsten Tag machten sie sich mit zwei weiteren Familien auf den Weg nach Zagreb. Von weitem sahen sie den Jungen, der mit ihnen gemeinsam auf dem Zug von Wien gekommen war – er wurde von der Polizei abgeführt. Mirjam und ihre Familie gingen nun von einem Ort zum anderen – nie blieben sie an einem Ort länger, an manchen Tagen gingen sie bis zu vierzig Kilometer zu Fuß. Sie waren auf der Flucht.

Eineinhalb Jahre streiften Mirjam und ihre Mutter im ehemaligen Jugoslawien umher. Als sie 1941 an der dalmatinischen Küste ankamen, wurden sie auf die Insel Rab geschickt. Die italienischen Besatzer hatten auf der kargen Insel das Lager Kampor errichtet, wo Mirjam und ihre Mutter interniert wurden. Mirjam kann sich nur an sehr wenig aus dieser Zeit erinnern – an die furchtbare Kälte, den Hunger, die immer gleiche Suppe, in der immer Fliegen schwammen und daran, dass sie fast täglich Leichen begraben mussten. »Es gibt Dinge, die ein Mensch nicht ertragen kann, das Gedächtnis verwischt das.«

Eineinhalb Jahre waren Mirjam und ihre Mutter in Kampor interniert, als plötzlich eines Morgens alle Tore offen standen, und die Soldaten, die sie überwachten, weg waren. Zu diesem Zeitpunkt waren noch ungefähr 3.000 Menschen im Lager. Mirjam und ihre Mutter verließen das Lager innerhalb einer Gruppe und kamen nach zwei Stunden Fußmarsch in ein Fischerdorf. Die Bewohner dort erzählten ihnen, dass die Italiener kapituliert und die Insel verlassen hätten. Doch dass die Deutschen bald kommen könnten, um die Insel einzunehmen. Also hieß es, die Insel so schnell wie möglich zu verlassen. Es gab viele kleine Schiffe, mit denen die Fischer sie aufs Festland brachten. Es war Winter und eine kalte Nacht, die wenigen Kabinen auf den Schiffen füllten sich schnell, Mirjam und ihre Mutter fanden keinen Platz mehr in einer der Kabinen. Auf einmal geriet das Schiff in einen Wirbelsturm, drehte sich wie wild, und die Mannschaft verlor die Kontrolle über das Schiff. Die Kabinen unter Deck füllten sich rasch mit Wasser, alle versuchten, an Deck zu kommen. Viele Leute verloren in dieser Nacht ihr Leben, Mirjam kann sich nur erinnern, dass ihre Mutter sie fest bei sich gehalten hat. Durch den Sturm verloren sie ihre letzten Habseligkeiten.

Drei Jahre waren sie nun schon unterwegs. Und der Sturm warf sie zurück auf die Insel, von der sie flüchten wollten, und die jetzt jeden Tag von den Deutschen bombardiert wurde. Sie hatten kein Geld, konnten deshalb nur tauschen, zum Beispiel Kleider für ein Stückchen Brot. Aus Mitleid brachte sie eines Nachts ein Fischer aufs Festland – ohne etwas zu verlangen. Sie landeten in Senj am kroatischen Festland. Der Fischer schickte sie in ein nahegelegenes Gasthaus, zum Aufwärmen, und dort sah Mirjam das erste Mal einen Partisanen, der in seiner zerfetzten Hose mit einem Gewehr am Eingang des Gasthauses stand.

Am nächsten Morgen nahm sie ein Bauer auf seinem Heuwagen ein Stück ins Landesinnere mit. Die Flucht durch Jugoslawien ging weiter, jeden Tag waren sie an einem anderen Ort und versteckten sich, damit sie von den Deutschen nicht entdeckt werden. Unterwegs trafen sie andere Flüchtlinge aus Kampor und so zogen sie, eine Gruppe von dreißig Flüchtlingen, durch die Wälder und Dörfer der Umgebung. Sie versteckten sich in Erdlöchern, in Gruben oder bei Bauern, die sie bei sich aufnahmen und ihnen manchmal ein Stück Brot gaben. Bis sie nach Topusko kamen, wo sie eine Bäuerin bei sich aufnahm. Sie wohnten dort mit zehn Kindern und einer Kuh in einem Raum. Es gab wenig zu Essen und Geld hatte keiner, aber die Bauern kümmerten sich rührend um sie. Ihr zu jenen Zeiten ein wenig ruhigeres Leben wurde immer wieder von der Ustascha – den Faschisten – bedroht. Wenn die Partisanen in den Wald flohen, wussten sie, dass auch sie fliehen mussten und versteckten sich gemeinsam mit ihnen im riesigen Wald »Petrova Gora«. Im Sommer stellte das kein großes Problem dar, der Wald bot Früchte, Pilze und Kastanien als Nahrung an, aber als der Winter kam, wurde die Lage schwieriger, denn sie hatten kein Geld, brauchten aber
Proviant, falls sie in den Wald mussten. Das letzte Andenken an Wien, ein kleiner goldener Ring, den Mirjam von ihrer Tante bekommen hatte, wurde deshalb gegen ein frischgebackenes Brot getauscht. Doch der Winter hielt noch weiter an, und da sie nun gar nichts mehr hatten, das sie eintauschen konnten, musste Mirjam ihre Schuhe hergeben und fortan mit um die Füße gebundenen Fetzen durch den Schnee stapfen.

Da geschah eines Tages etwas ganz Unglaubliches. Der Sohn von Winston Churchill, Randolph Churchill, wollte seinen Freund Tito, den Anführer der Partisanen, aufsuchen und flog deshalb nach Jugoslawien, wo sein Flugzeug aber von den Deutschen abgeschossen wurde. Die Maschine stürzte genau bei einem der Dörfer ab, in denen sich Mirjam und ihre Familie sowie 25 weitere Flüchtlinge versteckt hielten. Randolph Churchill überlebte den Abschuss schwer verletzt, zwei Männer der Gruppe bargen ihn und berichteten ihm von ihrer Lage. Er versprach zu helfen und eines Nachts kamen tatsächlich Autos, die sie abholten und zu einem Flugplatz brachten. Über ihnen kreisten zwei Flugzeuge, aber ein furchtbarer Sturm brach aus, sodass die Flugzeuge nicht landen konnten. Die Deutschen hatten indes weitere Teile von Jugoslawien, so auch die Region, in der sich der Flugplatz befand, erobert und somit war der Ausweg, mit dem Flugzeug aus Jugoslawien heraus zu kommen, zunichte gemacht.

Ein weiteres hartes halbes Jahr des Fliehens und Versteckens stand vor ihnen, unter ständigem Beschuss durch die Deutschen. Randolph Churchill setzte sich aber weiter für sie ein und ließ Pakete mit Konservendosen und Militärkleidung an Fallschirmen vom Himmel fallen. Mirjam bekam mit ihren 13½  Jahren Militärstiefel der Größe 45 und einen Mantel, der bis zum Boden reichte, Stücke, auf die sie schrecklich stolz war. Kurze Zeit später wurden sie von Autos abgeholt und durch die deutschen Stellungen hindurch unbehelligt bis an die Küste gebracht, wo sie auf einem britischen Kriegsschiff nach Bari in Italien übersetzten. In Bari angekommen, hatten einige der Soldaten, an denen sie vorübergingen, Tränen in den Augen. »Wahrscheinlich schauen wir zum Weinen aus«, sagte Mirjams Mutter.

Die Flucht hatte endlich ein Ende gefunden, die britische Armee brachte sie von Bari mit dem Schiff nach Palästina. Mirjam Kurz schrieb nach ihrem Besuch in Österreich: »Ich hatte große Angst davor, in der Schule von meiner Vergangenheit zu sprechen. Das war das erste Mal, dass ich so offen über diese schwere Zeit erzählte. Hier in Israel hatte ich nie den Mut dazu! Darum kam ich mit schwerem Herzen nach Wien! Euer liebevoller Empfang war für mich völlig unerwartet, er zerstreute all mein Misstrauen, ich wusste nicht, ›dass ich Freunde in Wien habe!‹ Plötzlich war ich glücklich, mit meinen Kindern in Wien zu sein, ihnen meine wunderschöne Heimatstadt zu zeigen, und ihnen zu beweisen, dass es auch gute Menschen in Wien gibt! Plötzlich wusste ich, wie wichtig es ist, in die Schulen zu gehen und den österreichischen Jugendlichen zu erzählen, wie viel Leid und Unrecht dem jüdischen Volk angetan wurde! Danach hatte ich das Gefühl, als fiele mir ein Stein vom Herzen! Ich fühlte, dass ich in Wien wieder ein Stück Heimat gefunden habe!«

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