Die letzten Zeugen - Das Buc

SHLOMO SHAKED


 
 

SHLOMO SHAKED

(früher Siegfried Tschmul)
geb. 1924-02-17
(verstorben2011)
lebte zuletzt in Israel


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Das BRG 18 in der Schopenhauerstraße in Wien 1 war im Mai 2008 Gastgeber für Shlomo Shaked, der hier vor 70 Jahren zur Schule ging. In den Monaten vor dem Besuch haben SchülerInnen Dutzende E-mails mit Shlomo Shaked ausgetauscht, die Professor Kurt Herlt dokumentiert hat.

Shlomo Shaked wird 1924 als Siegfried Tschmul in Wien geboren, im Schuljahr 1937/38 ist er Schüler am RG18, Schopenhauerstraße 49, im April 1939 kann er ohne Eltern nach Schweden flüchten und emigriert 1941 nach Palästina. 1945 kehrt Shlomo Shaked als Soldat der Britischen Armee zurück nach Österreich. Er lebt heute in Haifa in Israel.

Herr Shlomo beantwortet sein Leben

Shlomo Shaked hat seine Lebensgeschichte in einer berührenden, einzigartigen Korrespondenz mit SchülerInnen niedergeschrieben.

Im Schuljahr 2005/06 nahm das BRG18, Schopenhauerstraße 49, erstmals am Projekt »A Letter To The Stars« teil.
Damals hieß das Projekt »Blumen der Erinnerung«, dabei erhoben die SchülerInnen der beiden Projektklassen, eine 4. und eine 1. Klasse, die Namen und Schicksale der Opfer der Shoa, die in der näheren Umgebung gewohnt hatten. Im Rahmen einer Gedenkveranstaltung am Stephansplatz nahmen wir dann weiße Rosen und Erinnerungsschleifen in Empfang, versahen die Schleifen mit den Namen »unserer« Nachbarn und legten die Rosen vor die Türen der Opfer. Die damalige 1. Klasse war mit großem Engagement dabei und ihre Trauer im Gedenken an die Opfer, die oft auch in ihrem Alter oder jünger waren, war echt.

Als wir in diesem Jahr eingeladen wurden, am Projekt »38/08« teilzunehmen, entschied sich die jetzt 3. Klasse sofort dafür. Junge Menschen werden nicht mehr allzu lange Gelegenheit haben, mit Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen. Nach einer kurzen Einführung in die persönliche Geschichte von Siegfried Tschmul, 1924 in Wien geboren und bis 1938 Schüler am RG18, Schopenhauerstraße 49, damals wohnhaft am Währinger Gürtel 137, und nach einer kurzen Einführung in die Zeit des Anschlusses und die damit verbundene Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung lud ich die Klasse ein, mit Herrn Shlomo Shaked, heute 84-jährig und wohnhaft in Haifa, Israel, in E-mail Kontakt zu treten.

Der Kontakt war von mir wenig gesteuert. Ich ließ mir lediglich die ersten geplanten Mails auf Papier vorlegen, um sicher zu gehen, dass die SchülerInnen den richtigen Ton treffen, merkte aber bald, dass ich auf jegliche Zensur verzichten konnte. Aufgrund der sehr persönlichen Antworten von Herrn Shlomo Shaked entwickelte der Kontakt bald eine Dynamik, die mir für beide Seiten äußerst fruchtbar schien.

Zwischenzeitlich erhob ich aus den Katalogen der betreffenden Jahre die Daten des Schülers Siegfried Tschmul und seines Bruders Kurt und versuchte auch, überlebende Mitschüler von Siegfried, heute Shlomo Shaked, zu finden. Es gelang mir sogar, einen nichtjüdischen Mitschüler zu kontaktieren, aber er hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen und wollte nicht mehr daran erinnert werden. Schade, meine SchülerInnen, die nun über das Erleben der jüdischen Schüler Bescheid wussten, haben sich öfter gefragt, wie denn »die anderen« diese Zeit erlebt hatten. Im Deutschunterricht lasen wir Auszüge aus dem »Tagebuch der Anne Frank«, Stellen aus »Die Welle« und versetzten uns in die Rolle der Figuren, sahen jene Ausschnitte aus dem Film »Stealing Klimt«, die die Atmosphäre von Wien 1938 zeigten, und begannen in vielen kleinen Gesprächen zu verstehen, was für Überlebende der Shoa, aber auch für deren Nachkommen die gläserne Wand bedeutet, die sie von nichtjüdischen Menschen trennt (Robert Schindel).

Die SchülerInnen der 3 a haben am Schicksal von Herrn Shlomo Shaked Anteil genommen, ohne ihn noch persönlich zu kennen. Auch Herrn Shakeds Interesse an diesen jungen Menschen ist geweckt.

Wir erwarten nun gespannt das persönliche Zusammentreffen. Geplant sind außer der offiziellen Veranstaltung am Heldenplatz am 5. Mai 2008 informelle Treffen außerhalb der Schule, bei denen sich kleine Gruppen von SchülerInnen mit Herrn Shaked in Wien bewegen, natürlich die Einladung von Herrn Shaked an unsere (und seine alte) Schule, organisiert von der 3 a, und eine Veranstaltung im Amtshaus gemeinsam mit dem BG18, Haizingergasse, dessen SchülerInnen ebenfalls mit Herrn Shaked in Kontakt sind.

Ich danke Herrn Shlomo Shaked für die viele Zeit, die er meinen SchülerInnen geschenkt hat, und wünsche ihm einen angenehmen Aufenthalt in Wien in dem Bewusstsein, wirklich willkommen zu sein.

Ich erinnere mich an einen Satz, den Herr Shaked in unserem allerersten Telefongespräch über seine geplante Reise nach Wien gesagt hat: »Jetzt schließt sich der Kreis«.

Alles Gute, Shlomo Shaked, und vielen Dank, Kurt Herlt

17. 12.

Lieber Herr Shlomo Shaked,

Mein Name ist Felix Sperl und ich bin Mitglied beim Projekt »A Letter To The Stars«. Ich gehöre zu der Klasse, die Sie in der Woche im Mai besuchen möchten. Ich hätte einige Fragen zu Ihrem Leben, bevor Sie aus Wien flohen. Ich weiß, dass ihr Vater eine Schneiderei hatte und würde gerne wissen, ob sich, nachdem Wien zum »Deutschen Reich« gehörte, etwas bei den Kunden änderte? Was hat sich an der Schule geändert? Wie verhielten sich Lehrer und Schüler nun Ihnen gegenüber? Nachdem Sie aus Wien flohen, wo wollten Sie dann hin? Welche Stationen hatten Sie auf Ihrem Weg? Wollten Sie nach Palästina oder ergab es sich einfach? Auch würde ich gerne wissen, wer mit Ihnen floh, oder gingen Sie alleine? Wer musste zurück bleiben? Ich weiß, dass Sie 1942 der Armee beitraten. Was bewegte Sie dazu? Gingen Sie alleine oder waren Freunde/Bekannte dabei? Was sagte Ihre Familie zu der Entscheidung? Ich weiß, auch, dass Sie 1945 mit der britischen Armee über Italien nach Villach vorrückten. Welche Gefühle hatten Sie bei dem Vormarsch und welche Gefühle hatten Sie, als Sie wieder auf österreichischem Boden standen? Und wie erging es Ihnen, als Sie nach Kriegsende wieder in Wien waren? Was empfanden Sie? Das alles würde mich brennend interessieren. Bitte antworten sie bald.
Alles Gute wünscht Ihnen aus Wien, Felix Sperl

18.12.

Lieber Herr Shlomo Shaked!

Wir heißen Stephan Grabuschnigg und Martin Baumgartner. Wir sind 13 Jahre und Schüler bei Professor Herlt. Wir sind sehr interessiert an Geschichte, besonders am 2. Weltkrieg. Die Zeugen von damals können uns viel Wichtiges, Interessantes, aber auch Lehrreiches erzählen. Sie haben es ja geschafft zu fliehen, und schafften es auch, in die Stadt Wien zurückzukehren. Wir wissen ein bisschen etwas von dieser schlimmen Zeit von der Taufpatin von Stephans Vater, die 87 Jahre alt ist. (...) Wir haben jetzt aber genug erzählt und würden gerne ein paar Fragen stellen.
MFG und alles Gute wünschen Ihnen Stephan und Martin

18.12.

Lieber Martin und Stephan, Shalom!

Shalom ist der übliche Gruß in Israel und bedeutet Frieden. Danke für Euren lieben Brief, es wird mir Freude bereiten, Euch alle Fragen zu beantworten.

Ich bin am 17. 02. 1924 in Wien geboren und seit Ende 1929 wohnten wir am Währingergürtel 137, mein Vater hatte einen Maßschneidersalon im Nebenhaus (139). Zuerst besuchte ich die Volksschule in der Michaelerstraße und dann trat ich über ins RG XVIII, in dem mein Bruder Kurt schon vor mir lernte. Wie Ihr Euch ausrechnen könnt, war ich ungefähr in Eurem Alter, als die Nazis in Österreich einmarschierten. In aller Kürze: mein Vater wurde in der »Kristallnacht« verhaftet, im Geschäft wurde noch vorher ein Kommissar eingesetzt, unser Vater kam nach Dachau ins Konzentrationslager. Der Kommissar wurde zum Abwickler ernannt und mein Vater kam nach »Hause«, nachdem er sich in Dachau verpflichtete, das Deutsche Reich innerhalb eines Monats zu verlassen, auf sein Vermögen zu verzichten und im Ausland nicht gegen das Deutsche Reich zu hetzen und auch keine »Gräuelmärchen« zu verbreiten. Noch bevor mein Vater aus Dachau entlassen wurde, mussten wir aus unserer Wohnung ausziehen, und so hatten wir, als mein Vater zurückkam, keine eigene Wohnung mehr, das Geschäft war beschlagnahmt und wir wohnten bei einer alten Tante in der Oberen Donaustraße. Meinem Bruder, der älter als ich war, gelang es noch vorher, mit einem Kindertransport nach England zu flüchten.

Da Ihr doch ungefähr in meinem Alter seid, versucht darüber nachzudenken, wie ich mich damals als Kind gefühlt habe nach dem Anschluss, als sich alles über Nacht veränderte. Wir durften nur noch mit jüdischen Mitschülern auf einer Bank sitzen, man musste mit »Heil Hitler« grüßen, wir nicht. Plötzlich wussten wir, wer die »Nichtarier« sind. Im RG XVIII waren 88 (14%) der Schüler Juden und Nichtarier. Freundschaften wurden abgebrochen und ein Teil der Mitschüler und Lehrer waren uns von heute auf morgen feindlich gesinnt.

Aber nicht alle, manche von ihnen trauten sich, wenn unbemerkt, den Kontakt aufrecht zu halten. Nicht nur die Schule, unser ganzes Leben ist zusammengebrochen. Nach kurzer Zeit teilte man uns mit, wir müssten am Ende des Schuljahres die Schule verlassen und unsere Eltern sollten sich um eine jüdische Schule für uns sorgen. Es gab aber nur ein jüdisches Gymnasium, das Chajes-Gymnasium, das überfüllt war und keine neuen Schüler mehr aufnehmen konnte, außerdem verfügten die Eltern über kein Geld, um das Schulgeld zu bezahlen.

Aber nicht nur das, mein Bruder und ich waren bei der Pfadfinder-Bewegung, und auch dort wurden die jüdischen Pfadfinder von den übrigen getrennt. Man gründete eine jüdische Gruppe, die später auch aufgelöst wurde, und wir traten in einen jüdischen Jugendverein ein, den Makkabi Hazair, der zuerst eine Jugendbewegung des Sportklubs Makkabi war, aber dann ein zionistischer Jugendverein wurde.

Meinen Eltern gelang es mit den letzten Mitteln Schiffskarten nach Shanghai zu kaufen, aber sie beschlossen, mich nicht ins Ungewisse mitzunehmen. Es ergab sich, dass ich nach Schweden kommen konnte, und so blieb ich nach der Abfahrt meiner Eltern noch einen Monat bei Onkel und Tante, bis ich im April 1939 nach Schweden fuhr. (...) Ich war bei einer jüdischen Familie in Schweden. Als sich eine Möglichkeit bot, fuhr ich mit einer Gruppe über Finnland, Sowjetunion (Leningrad-Odessa), Istanbul und Beirut mit Eisenbahnen und Schiffen und zum Schluss mit einem Taxi nach Haifa (Palästina). (...)

In Wien blieben von den näheren Verwandten ein Onkel und zwei Tanten, viele Nichten und Großtanten, die alle während der Naziperiode umkamen. Ein Onkel, Tante und Tochter, denen es gelang, nach Belgien zu flüchten, wurden einige Zeit später von den Deutschen nach dem Osten deportiert und ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Da der Brief schon lange geworden ist, denke ich hier aufzuhören, und verspreche über die Frage, warum ich mich freiwillig zum englischen Militär meldete, das nächste Mal, wie auf alle anderen Fragen, die Ihr an mich stellen möchtet, zu antworten.
Shlomo Shaked

19.12.

Lieber Herr Shaked!

Stephan und ich haben uns sehr über die lange E-Mail gefreut. Professor Herlt hat die E-Mail laut der Klasse vorgelesen, die Geschichte war traurig. Uns ist es natürlich recht, wenn wir uns duzen, da wir fast alle Leute mit ›du‹ ansprechen. Dein Deutsch ist sehr bewundernswert, weil du ja so lange Zeit nicht in Wien warst und du schon lange nicht mehr Deutsch gesprochen hast. Du hast gesagt, wir sollen dir was über uns erzählen! Das werden wir machen.
 MFG aus Wien und alles Gute wünschen dir
Stephan und Martin!

20.12.

Lieber Martin und Stephan, Shalom!

Danke für Euren Brief und besonders dafür, dass Ihr mir einiges über Euch selbst und Eure Familien erzählt habt. Es freute mich zu hören, dass Ihr sehr an Euren Familie hängt und das ist sehr gut, denn die Familie ist unsere beste Stütze in Notfällen und der wichtigste Grundstein unserer Gesellschaft.

Zu Eurer Frage: Nach Palästina kam ich im Mai 1941 mit einer Gruppe von jüdischen Jugendlichen, die meisten von Deutschland. Diese Gruppe war zionistisch gesinnt und kam in einen Kibbutz (»Degania A« –  der erste Kibbutz im Lande), um dort zu lernen und in der Landwirtschaft zu arbeiten (ich arbeitete im Hühnerstall und in den Bananenplantagen). Ihr denkt Euch, in den Bananenplantagen hätte ich auch gerne gearbeitet und den ganzen Tag Bananen gegessen, das ist aber nicht so. Bananen pflückt man grün und ihre Reife muss erst künstlich gefördert werden und außerdem ist es sehr heiß zwischen den Bananenpflanzen. Wir arbeiteten vormittags von 6:00 bis 12:00 und nachmittags lernten wir (nach einer Mittagspause wegen der Hitze). Aber wir waren glücklich.

Ich versuchte schnell die hebräische Sprache zu lernen, deshalb ging ich oft in den Kindergarten, setzte mich an den Sandkasten und versuchte mit den kleinen Kindern Hebräisch zu sprechen, die glaubten, dass ich mit Absicht Fehler mache, um sie zu belustigen. Sie korrigierten mich und ich musste mich nicht schämen.

Nach einem Jahr war ich schon 18 Jahre alt und die militärische Lage hatte sich verändert. (...) Über das Schicksal der Juden in Europa kamen nur selten Nachrichten heraus. Die Geschichten über das Schicksal der Juden und deren Verfolgung waren schrecklich und niemand konnte damals ahnen, dass es noch viel schlimmer werden würde. Keiner wusste von der Wannsee-Konferenz.

Ich war so schockiert von den Berichten, dass ich beschloss, ich müsste persönlich etwas unternehmen. Da gab es eine Möglichkeit, sich freiwillig zur englischen Armee zu melden und drei Jungs von uns beschlossen, sich zu melden. (...) So rückte ich ein und kam nach meiner Ausbildung zum Einsatz in Alexandrien, auf Malta, bei der Invasion Italiens und zum Schluss in Villach (in einem Wirtshaus auf der rechten Seite der Straße zum Wörthersee.)
Herzliche Grüße an Euch, Prof. Kurt Herlt und Eure Mitschüler,
Shlomo Shaked

20.12.

Lieber Herr Shaked!

Ich hoffe es interessiert dich, was mein Opa durchgemacht hat, denn ich möchte es dir erzählen. Er war ungefähr so alt wie du und hat zur gleichen Zeit gelebt. Ich muss »war« schreiben, denn er ist vor 9 Monaten verstorben ... ich hätte gerne noch etwas mehr erfahren, aber ich erzähle Ihnen, was ich weiß:
Seine Mutter hat ihn und einen Zwillingsbruder geboren, ist aber leider gleich nach der Geburt verblutet ... Der Vater, also mein Ur-Großvater, war Schuster. Als sie 5 Jahre alt waren, ist der Vater auch verstorben. Die Jungen haben ihn eines Nachts tot aufgefunden. Sie sind dann ins Waisenhaus ge-kommen. Dort wurde er nicht adoptiert. Als er 14 war, er hatte gerade die 4. Klasse hinter sich, wurde er in den Krieg berufen und stand mit 15 an der Front. Er hat einen Schuss durch die Wange bekommen, der auf der anderen Seite der Wange wieder hinausgeschossen ist. In seinem Mund ist nichts passiert... Er erlitt während des Krieges noch weitere Verletzungen, und als der Krieg aus war, hatte er nichts mehr als seine alte Kleidung.

Er verbrannte alle seine Papiere, denn er hatte Angst, dass ihn ein feindlicher Soldat erkennen könnte. Eines Nachts schwamm er über die Thaya zu seinem Heimathaus, um wenigstens noch seinen letzten Koffer mit neuer Kleidung zu holen. Hätte ihn wer erwischt, könnte ich das heute nicht schreiben ...

Ich hoffe, ich habe Sie mit der Geschichte meines Opas nicht belästigt.
MFG aus Wien: Martin

20.12.

Lieber Martin!

Ich bedaure wirklich das Schicksal Deines geliebten Opas. Krieg ist immer sehr grausam und es ist schade, dass so viele Menschen den schweren Preis bezahlen müssen. Zum Frieden braucht man immer zwei Seiten, zum Krieg genügt leider nur eine Seite. Wir müssen alles unternehmen, Kriege zu vermeiden.
Wichtig ist, dass Du Deinem Opa in Liebe gedenkst.
Gute Nacht, Shlomo Shaked

21.12.

Lieber Felix!

Habe Deinen Brief vom 19. Dezember erhalten und danke Dir für die interessanten Fragen, die Du gestellt hast. Ich werde versuchen auf alle zu antworten, wenn vielleicht heute nicht auf alle.

Im April 1938 wurde in das Geschäft ein kommissarischer Verwalter von der Partei eingesetzt, der alle Vollmachten erhielt und seinen Gehalt von den Einnahmen und dem Kapital des Geschäftes bezog. Mein Vater erhielt von nun an RM 7,50 pro Tag und nur arische Arbeiter wurden von nun an beschäftigt und die anderen entlassen. Viele arische Kunden trauten sich nicht mehr ins Geschäft und diejenigen, die Schulden hatten, wollten so schnell wie möglich aus der Kundenliste gestrichen werden.

Die Kundschaft, die aus jetzt ehemaligen Regierungsmitgliedern, Beamten, Rechtsanwälten, Ärzten und vielen in- und ausländischen Studenten bestand, wusste, dass einige der jüdischen Angestellten und auch ein »Sozi« entlassen worden sind, so nahmen sie lieber Abstand vom Geschäft, denn das war ja nicht mehr derselbe Betrieb. Mein Vater war früher auch offizieller Schneider der Studentenburschenschaften und der Hochschule für Landwirtschaft, Bodenkultur und Forstwirtschaft. Auch die kamen nicht mehr ins Geschäft. Einige jüdische Kunden kamen, die sich, bevor sie auswanderten, noch schnell etwas bestellen wollten, wie z.B. leichte tropische Anzüge für das Land, in das sie zu flüchten planten.

In meiner (unserer) Schule änderte sich viel und das von heute auf morgen. Immer wenn der Klassenvorstand oder der Direktor nach dem Anschluss plötzlich in die Klasse kam, wussten wir, dass es eine neue Verordnung gab. So wurden uns die neuen Verhaltensregeln vorgelesen, wie z.B. der Hitlergruß. Das Schlimme war, dass alle den Vorschriften sofort folgten, denn der Druck auf die Lehrer, Schüler und sogar auf den Direktor war enorm stark und wehe dem, der dagegen widerstanden hätte oder sich dagegen geäußert hätte. Es gab ja auch viele fanatische Nazi-Idealisten, die bestrebt waren die Ideen auszuführen und in jedem, der nicht folgte, einen Verräter sahen.
Wie ich schon geschrieben hatte, wurde mein Vater in der »Kristallnacht« im November 1938 verhaftet und nach Dachau ins Konzentrationslager gebracht.

Auf der ersten Karte nach einigen Wochen schrieb er unserer Mutter: »Liebe Anna, schicke die Kinder weg, jeden alleine«. Meiner Mutter gelang es meinen Bruder Kurt, der älter als ich war und an Asthma litt, mit einem Kindertransport nach Schottland zu schicken. Die einzige Möglichkeit, die sich für meine Eltern ergab, war, nach Shanghai zu flüchten. Da meine Eltern mich nicht dorthin nehmen wollten, versuchte meine Mutter für mich ein anderes Ziel zu finden. Nach England kam nicht in Frage, dann kam eine andere Möglichkeit in Betracht, denn eine Frau kam aus Schweden und diese interviewte einige Kinder für einen Aufenthalt in Schweden. Die Kinder sollten von schwedischen Familien aufgenommen werden und so kam ich zu einer jüdischen schwedischen Familie. Die Abreise verzögerte sich, so dass meine Eltern noch vor mir aus Wien nach Triest und von dort nach Shanghai fuhren. (...) Mit mir waren noch einige Jungs und Mädchen, die ich nicht von früher kannte. Ich kann mich nur an weniges von dieser Reise erinnern, wahrscheinlich war ich zu sehr beschäftigt in meinen Gedanken mit mir und meinem Schicksal und war gespannt wo, bei wem werde ich sein, und was werde ich machen und wann werden wir alle wieder zusammen sein. Es war eine traurige Fahrt ins Unbekannte, Ungewisse.

Das ist schon ein langer Brief geworden, auf die anderen Fragen antworte ich bald. Da ich nicht weiß, wann Eure Ferien beginnen, wünsche ich dir schon jetzt schöne, interessante Ferien mit gutem Wetter und vielen Geschenken und dasselbe auch Deinen Eltern und Geschwistern (wenn es sie gibt). Bis zum Neuen Jahr werde ich noch Gelegenheit haben Euch das Beste zu wünschen.
Shlomo Shaked

23.12.

Herr Shlomo Shaked, Danke für die interessanten Antworten. Es war wirklich sehr aufschlussreich. Ich hätte nur eine Frage: Was war Ihr Lieblingsfach in der Schule?
Mit den besten Wünschen FELIX SPERL
PS: Ich hoffe es ist bei Ihnen wärmer als in Wien.

24.12.

Lieber Felix, Shalom!

Danke, dass Du Zeit gefunden hast, mir trotz der Feiertage (da gibt es sicher auch viele Familientreffen) zu antworten. Meine Lieblingsfächer waren Geographie und Geschichte und Sprachen (außer Latein), dazu lernte ich noch privat Italienisch, denn die Eltern hatten uns einen längeren Besuch in Italien versprochen (vor dem Anschluss natürlich).

Nun zum 2. Teil:

In Schweden lebte ich zuerst bei einer Familie in der Nähe von Stockholm auf der Insel Kaggeholm (die Familie hatte noch 3 jüngere Kinder, die älteste war 9 Jahre alt), und im Dezember 1940 wurde mir vorgeschlagen, eine Gruppe von jüdischen deutschen Flüchtlingskindern, die in der Nähe von Falun (Selma Lagerlöf lebte dort) in einem Kinderheim wohnten, während Hannukka zu besuchen. Ich war einverstanden, denn manchmal sehnte ich mich danach, mich mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen zu treffen und zu unterhalten, vor allem da sie den selben Hintergrund wie ich hatten (zwar nicht aus Österreich, aber aus Deutschland). (...) Kurz nachdem ich nach Stockholm zurück gekommen war, sprach ich mit meiner »Pflegemutter« und sie stimmte zu, dass ich ganz dorthin übersiedeln dürfe, unter einer Bedingung, weiter in Kontakt mit ihr zu bleiben und, falls ich enttäuscht sein würde, könne ich jeder Zeit zurück kommen.

In Hälsinggarden gab es zwei Gruppen (in jeder 20-30 Jungs und Mädchen), wir arbeiteten im Wald, im Gemüsegarten und bei Bauern. Außerdem lernten wir und es gab wie in Jugendbewegungen Gespräche, Spiele, Wettbewerbe usw. Im März teilte man uns mit, dass eine Gruppe von uns die Einwanderungserlaubnis nach Palästina bekommen wird. Die Frage war nur welche? Man beschloss zwischen den Gruppen ein Los zu ziehen und die Gruppe, in der ich mich befand, gewann. Alle Entscheidungen nach der Trennung unserer Familie musste ich allein treffen, mit der Familie gab es keinen Kontakt mehr. Der Krieg machte ihn unmöglich. Natürlich gab es meistens Freunde, mit denen ich darüber sprechen konnte, aber am Ende war es meine Entscheidung. Da ich schon immer vom heiligen Land, Palästina, geträumt hatte, war der Entschluss, dorthin zu fahren, sobald es nur möglich ist, selbstverständlich.

(...) Wir fuhren mit dem Schiff nach Finnland, mit der Eisenbahn nach Helsinki (Übernachtung), weiter nach Leningrad (...) und dann in zwei abgeschlossenen Eisenbahnwaggons nach Odessa (wir durften nicht aussteigen, wenn der Zug anhielt oder mit jemanden außerhalb des Zuges sprechen). Übernachtung und Sightseeing (...), dann mit einem sowjetischen Schiff nach Varna, Konstantinopel (Übernachtung).

Mit der Eisenbahn nach Beirut, dort sollten wir auch übernachten, aber da die Gefahr bestand, dass jeden Moment Feindseligkeiten zwischen den Franzosen und den Briten ausbrechen könnten, nahmen wir einige Taxis und fuhren schnell über die Grenze nach Haifa.

Felix, ich habe alle Stationen erwähnt, dann könntest Du, wenn Du Google Earth hast, nachfolgen, aber viel schneller. Unsere Reise dauerte mehr als 14 Tage und die Ostsee überquerten wir mit einem Eisbrecher vor dem Schiff, knapp vor Odessa blühten schon die ersten Bäume und in Haifa gab es schon einen heißen Hamsin Wind (ein trockener, heißer Wind, der von der Wüste im Osten kommt).

Jetzt ist noch eine große Frage offen geblieben, über die Armee und darüber möchte ich ein anderes Mal schreiben. Schließlich soll Dir noch Zeit bleiben zum Feiern und zum Amüsieren und sogar manchmal zum Zeit Vergeuden.
Schöne Feiertage und Ferien Deiner Familie und Dir besonders,
wünscht Shlomo.

28.12.

Lieber Felix, Shalom!!! 

Warum ich zur Armee gegangen bin? (...) Der wohl entscheidende Grund war, dass es mir vielleicht gelingen würde, Verwandte oder Bekannte zu retten und vor allem meinen bescheidenen Anteil dazu beizutragen, dass der Krieg schneller und erfolgreich beendet wird.

(...) Schon in Italien, als wir vorrückten, kamen wir in Kontakt mit der Zivilbevölkerung und konnten die Folgen des Krieges auf die armen Bauern und Familien sehen. Wir versuchten ihnen zu helfen, soweit wir es mit unseren Mitteln tun konnten. Vor allem den Kindern. (...) Das wichtigste war, sie menschlich zu behandeln und zu verstehen, in welcher Notlage sie sich befanden. Hass und Rache kann man leicht aufschüren und es ist nicht schwer, eine Menge aufzuhetzen gegen den Schwächeren, Anderen.

Deshalb ist es wichtig, dass man versucht, ein Mensch zu bleiben in allen Situationen und den Mitmenschen zu helfen und sich die Frage stellt: wie hätte ich mich in seiner Lage verhalten und diese Frage sich selbst ehrlich zu beantworten.

(...) Als der Krieg endete und wir nach Österreich kamen, hatte ich keine anderen Gefühle als bisher. Vielleicht war ich zu optimistisch/naiv, denn ich dachte, hoffte, dass die Deutschen/ Österreicher /Italiener usw. in ihrem eigenen Interesse beschließen würden, wie die Anführer zu bestrafen sind.

Sofort nachdem wir die Nachricht bekommen hatten, dass die Russen, die Wien schon erobert hatten, die Alliierten nach Wien hereinlassen, sprach ich mit dem Kommandant meiner Einheit, dass ich nach Wien fahren möchte, mit dem Ziel, Verwandte oder Auskunft über deren Schicksal zu finden. Offiziell konnte er mir keine Erlaubnis für eine Einreise nach Wien geben, da nach den Vereinbarungen zwischen den Alliierten nur eine bestimmte Anzahl von Besatzungstruppen nach Wien durfte. Der Kommandant gab mir Urlaub und bat mich, auch von meinen Kameraden, die aus Wien stammten, Namen und Daten ihrer Verwandten mitzunehmen und auf eigene Faust zu versuchen, nach Wien zu kommen. Nachdem ich erfuhr, wo sich der erste britische Konvoi ver-sammelt hatte, fuhr ich hin und fand einen Chauffeur, dem ich die Wahrheit über mein Unternehmen erzählte, und er erklärte sich bereit mir zu helfen und mich mitzunehmen. (...)

In Wien habe ich mich ausgekannt und das erste Ziel war »unser« Haus. Ich hoffte, dass es noch steht und jemanden von unseren Bekannten anzutreffen. Ich hatte Glück, im Hause wohnte ein älteres Paar, das »halbarisch« war und das uns Kinder immer sehr gut behandelt hatte. Sie erkannten mich sofort, trotz der Uniform, und erklärten sich bereit, dass ich bei Ihnen übernachten kann. Ich erzählte Ihnen über meine Familie und sie mir über die Zeit während des Krieges und die Tage gleich nach der Besatzung durch die russischen Soldaten. Wir feierten die Begegnung und sie öffneten eine Champagnerflasche, dies war das erste Mal für mich, dass ich Champagner trank. Außer ihnen sprach ich mit niemandem im Haus.

Am nächsten Tag begann ich mit meiner Aufgabe. Ich fand heraus, wo sich die Kartei der vertriebenen Juden befand und konnte dort sofort hineinkommen. Leider war ich nicht erfolgreich, ich fand keinen Verwandten von mir oder meinen Freunden. Das war eine riesige Kartei auf vielen Tischen verteilt, alphabetisch eingeordnet. Auf jeder Karte stand das Datum der Deportation in den Osten und meistens eine Zeile darunter der Vermerk: abgemeldet am ... oder tot gemeldet am ...

Nach vier traurigen Tagen beschloss ich Wien zu verlassen. (...)

Das war keine leichte Aufgabe, Dir das alles zu schildern (ich hab natürlich nicht alles erzählt), aber ich habe dies vor allem gemacht, weil mich Deine Fragen über meine Gefühle sehr gerührt haben und ich mich darüber freute, dass ein junger Mensch Interesse daran hat, was ich empfand während dieser dunklen Epoche im Leben so vieler Menschen. Eines möchte ich nochmals betonen, ich hatte nie Rachegefühle, ich wollte eigentlich nur, dass die wirklich Schuldigen bestraft werden.

Zum Schluss wünsche Euch ein schönes weekend und verbleibe mit freundlichen Grüßen,
Shlomo Shaked

29.12.

Sehr geehrter Herr Shlomo Shaked!

Wir sind zwei Schülerinnen aus Ihrer ehemaligen Schule, dem BRG 18 Schopenhauerstraße. Wir würden gerne mehr Information über Ihren Aufenthalt in Wien in Erfahrung bringen. (...) Liebe Grüße von Magdalena Hampl und Konstanze Müller vom BRG 18 aus Wien
P.S.: Im Anhang sind noch mehrere Bilder von Ihrem alten Haus (Währinger Straße 137). Auf zwei Bildern sind auch wir beide zu sehen.

12.1.

Liebe Konstanze und Magdalena, Shalom!

Ich wollte schon einige Male antworten auf eure Fragen, aber immer kamen mir neue Gedanken, welche Weise ich wählen solle, um es euch am besten zu erklären.

Danke für die Fotos von dem Haus, in dem wir gewohnt haben. Das letzte Mal, dass ich im Haus 137 war, war während meines »illegalen« Aufenthaltes als englischer Soldat in Wien nach Kriegsende. (...) Damals machte ich keinen Versuch, die Wohnung, in der wir gewohnt hatten, nochmals zu sehen. Wer darin wohnte, wusste ich, und da sie viele Möbel von uns hatten und einen Teil der Einrichtung, wollte ich nicht meine Erinnerungen an unsere Wohnung und unser Leben dort zerstören, sondern so im Gedächtnis behalten, wie es in den Tagen vor dem Anschluss war.

(...) Das nächste Mal besuchte ich Wien im Jahre 1991, auf Wunsch meiner Gattin, die einmal Wien sehen wollte, nachdem sie schon so viel über Wien von ihrem Vater und von uns gehört hatte. Wir stiegen im Hotel ab und wollten uns ausruhen nach der Reise, aber ich fühlte mich angezogen, wie von einem Magnet. Wir kamen hin, blieben aber gegenüber dem Haus stehen und schauten uns alles von außen an, gingen hinüber zum Geschäft, das gerade in ein Cafe umgewandelt wurde, die jetzigen Eigentümer fragten uns, was wir wollen, und da erzählte ich ihnen kurz, dass da mein Vater einmal einen Schneidersalon hatte. Sie waren höflich und haben uns eingeladen zu einem Kaffee, wenn wir nochmals zu Besuch kommen und der Umbau schon fertig sein wird. Das war das letzte Mal, dass wir dort waren, obwohl wir seither noch drei Mal in Wien waren. (...)

Jeder Mensch beschließt irgendwo seine Grenzen zu ziehen, und das ist manchmal nicht erklärbar ...
Einen schönen Sonntag und eine interessante Woche in der Schule wünscht,  Shlomo Shaked

15.1.

Liebe Konstanze und Magdalene, Shalom!

Meine Eltern waren von Mai 1939 an in Shanghai und überlebten dort alle Kriege und Feindseligkeiten und Schwierigkeiten, die sich dort abspielten. Im Februar 1949 kamen sie über Cape Town mit einem Schiff nach Israel, denn der Suez Kanal war für jüdische Passagiere geschlossen. Danach lebten sie in Haifa und mein Vater konnte seinen Beruf noch bis zu seinem Tode im Jahr 1978 ausüben. Was aber noch wichtiger war, unsere Eltern erlebten noch einige Jahre mit ihren Kindern und unseren Kindern und meine Mutter sogar mit ihren ersten Urenkeln, sie starb im Jahre 1986. Ich bin verheiratet und wir haben zwei Kinder, Sohn und Tochter und fünf Enkel.

Der älteste Bruder meines Vaters, Abraham, und seine Frau wurden nach dem Osten deportiert und kamen nicht zurück. Ihre Tochter konnte knapp nach Kriegsbeginn nach Palästina flüchten, sie feierte vor einem Jahr ihren 80. Geburtstag mit ihrer kinderreichen Familie. Der jüngere Bruder Jakob konnte nach Palästina flüchten, aber seine Frau, sein Schwager und seine Schwiegermutter konnten zuerst in Wien bleiben, bis sie nach dem Osten transportiert wurden und dort ihr Ende fanden. Die jüngste Schwester, Mirjam, Mann und Kind (6 Jahre alt) flüchteten zuerst über die Grenze nach Belgien, nach der Besetzung von Belgien wurden sie in ein Konzentrationslager nach Frankreich gebracht und von dort mit einem der Züge in den Osten gebracht und dort vernichtet.

Einer Schwester meiner Mutter, Sali, gelang es mit ihrem Mann und zwei Töchtern nach Polen zu  flüchten. Nach der Besetzung durch die deutsche Armee flüchteten sie in den russischen Teil Polens und nach 1941 immer weiter bis nach Sibirien. Die Eltern starben während des Krieges, aber die zwei Töchter kamen einige Jahre nach Kriegsende nach Israel, eine von ihnen lebt noch heute. Einer anderen Schwester meiner Mutter, Golda, gelang es, ihre zwei Kinder mit einem der Kindertransporte nach England zu schicken und später bekamen ihr Mann und sie ein Affidavit (Einreiseerlaubnis in die USA) und konnten in die USA einwandern. Ihre Kinder, die gleich alt wie wir sind, leben noch – der Sohn in England mit seiner Familie und die Tochter mit ihrer Familie in den USA.

Das ist das traurige Schicksal einer jüdischen Familie aus Wien, von der ein Teil zerstreut wurde, ein Teil vernichtet wurde und von der es einem Teil gelang sich zu retten, sich in Israel wieder zu vereinigen und Familien zu gründen und von Neuem anzufangen.
Mit freundlichen Grüßen, Shlomo Shaked

17.1.

Liebe Magdalena und Konstanze, Shalom!

Nicht der Krieg hat mein/unser Leben verändert, der Krieg hat alles nur schlimmer gemacht; sondern der Anschluss mit seinen Folgen und vielleicht schon knapp vorher ... (...) Bis dahin habe ich persönlich von Antisemitismus nichts mitbekommen. Es gab zwar manchmal einige Schüler, die sich über Juden lustig machten und sie verspotteten, aber welche Minderheit wurde nicht durch den »Dreck« gezogen. Den ersten schweren antisemitischen Angriff auf uns persönlich erlebten mein Bruder und ich, als wir die Sommerferien 1934 in Zakopane in Polen verbrachten. Wir spielten in der Nähe der Pension, in der wir wohnten, und ein Besoffener beschimpfte uns mit »Saujud« usw., griff uns mit einem Messer an und versuchte uns zu erstechen. Es gelang uns zur Pension zurückzulaufen, leider war der Haupteingang geschlossen, so versuchten wir durch die Küchentür hineinzukommen, was uns auch im letzten Augenblick gelang. Dieser Vorfall machte auf uns einen sehr schweren Eindruck, aber das war in Polen.

In Österreich fühlten wir uns als Österreicher jüdischen Glaubens, die nie fromm, aber immer bewusste Juden waren und glaubten, gute treue Bürger zu sein. Nach dem Anschluss fingen die Verfolgungen an und die Schikanen und die neuen Verordnungen, die unser Leben von Tag zu Tag schlimmer und zum Schluss unmöglich machten.
Mit freundlichen Grüßen an Euch und Eure Familien, Shlomo Shaked

18.1.

Liebe Konstanze und liebe Magdalena, Shalom!

Natürlich erinnere ich mich in den letzten Jahren viel an Wien, aber meistens ziehe ich es vor, über die guten Tage zu sprechen und weniger über die schwierigen und traurigen Ereignisse. Aber wie ich bereits geschrieben habe, der Anfang des Versöhnungsprozesse hat begonnen und wir begegnen immer mehr jungen Menschen, die offenherzig sind und versuchen, uns auf persönlicher Ebene zu verstehen. Da ich die Ereignisse in Österreich verfolge, konnte ich feststellen, dass sich in Österreich die Atmosphäre sehr verändert hat und dass es eine junge Generation gibt, die interessiert ist, sich mit den Fragen der österreichischen Geschichte nach dem Anschluss zu befassen und nicht bereit ist, den Anteil Österreichs zu vertuschen, sondern sich damit auseinandersetzt. Das hat mich gefreut und hat meine Einstellung gegenüber Wien/ Österreich verändert ... (...)
Shlomo Shaked

21.1.

Sehr geehrter Herr Shlomo Shaked!

Ich möchte mich sehr bedanken, dass Sie unsere Fragen so ausführlich beantwortet haben. Sie haben sich sicher sehr viel Zeit dafür genommen, damit wir uns das alles besser vorstellen können. Das, was geschehen ist, finde ich sehr traurig, aber es ist schön, dass Sie jetzt fünf Enkelkinder haben.
Liebe Grüße Konstanze

27.1.

Lieber Herr Shlomo Shaked,

wir haben von unserem Deutsch-Professor erfahren, dass Sie uns nächstes Jahr besuchen kommen. Wir haben schon viel über sie gehört, aber sicherlich werden wir noch viel Interessantes von Ihnen erfahren. Es freut uns, dass wir so die Möglichkeit bekommen, über diesen Teil der jüngeren Geschichte mit einem Zeitzeugen zu sprechen. Vielleicht gelingt es uns dadurch, diesen unbegreifbaren Teil unserer Vergangenheit besser zu verstehen. Jedenfalls wird uns dies behilflich sein, die Grausamkeiten der Zeit nicht zu vergessen, um auch in Zukunft so einen Fehler nicht zu wiederholen. Wir haben auch einige Fragen vorbereitet, über deren Beantwortung wir uns freuen würden. (...)
Wir freuen uns schon auf Ihren Besuch
Liebe Grüße aus Wien
Max Ritter, Matthias Altmutter

29.1.

Herr Shlomo Shaked.

Unser Herr Professor Herlt hat uns ein Video gezeigt, wo das “Pflasterschrubben“ vorkam. Nun würde ich gerne wissen, ob Sie auch einmal die Straße schrubben mussten. Auch würde ich gerne wissen, wie Sie damals die “Kristallnacht“ erlebt haben. Was haben Sie in der Nacht mitbekommen?
FELIX

31.1.

Lieber Felix, Shalom!

Es freute mich zu lesen, dass Du Dich außer dem Kontakt mit mir mit dem Thema beschäftigst und versuchst, mehr darüber zu erfahren.

Nun zu deiner Frage: Erst am Abend des 10. November hörten wir im Radio, dass man alle Aktionen gegen Juden sofort einzustellen hat, wir wussten von nichts, denn am Währingergürtel wohnten fast keine Juden und es gab auch keine jüdischen Institutionen außer dem Rotschildspital und das war weit von uns entfernt. Mein Vater kam gerade nach Hause, als es an der Tür klopfte und einige SA-Leute in Begleitung des Hausmeisters P. und des Kommissars Ignaz G. erschienen (später sollte sich herausstellen, dass P. vor dem Haustor stand und sich, als er die SA-Männer sah, beeilte, bekannt zu geben, »in meinem Haus wohnt auch a Jud«).

Die SA-Männer machten eine Hausdurchsuchung, nahmen allen Schmuck, Teppiche, Pelzmäntel und Wertgegenstände (darunter auch unsere goldenen Taschenuhren und Zeisskameras, die mein Bruder und ich zu unserer Bar Mitzwa als Geschenke bekommen hatten) und Bargeld von RM 3000 (über diese habe ich noch heute einige Dokumente) mit. Man kann klar daraus sehen, dass nicht alles unter den Nazi-Behörden reibungslos ablief und die einzelnen SA-Männer nicht immer alles, was sie konfiszierten, angegeben haben und die Behörden sich unter sich stritten, welcher Behörde das geraubte Gut gehören soll.

Das Schlimmste von allem war, sie nahmen unseren Vater mit und wir wussten auch nicht wohin. Eigentlich geschah all dies schon, nachdem der Befehl erlassen worden war, alle Aktionen einzustellen, aber wen interessierte das, und bei wem hätte man sich beschweren können?

Am nächsten Tag erfuhr meine Mutter in der Kultusgemeinde, dass unser Vater wahrscheinlich in der Pramergasse mit vielen anderen Häftlingen ist. Ich nahm mein Fahrrad und fuhr dorthin, konnte jedoch nichts sehen, weil die Häftlinge sich im Innenhof befanden, aber ich kam immer wieder zurück, bis es mir zufällig gelang zu sehen, dass die Häftlinge in geschlossenen Lastwagen überführt werden. Ich versuchte diesen Lastautos zu folgen und es gelang mir, da die Lastwagen alle gleich waren und in Abständen auf der selben Route fuhren. So fand ich heraus, dass alle Häftlinge in die Kenyongasse gebracht wurden, ich konnte nicht wissen, ob unser Vater unter ihnen war, denn ich habe ihn nicht gesehen.

Von dort wurde er nach Dachau transportiert. Ende November erhielten wir das erste Lebenszeichen von unserem Vater, eine Postkarte, in der er schrieb: »Liebe Anna und Kinder, mir geht es gut, ich bin gesund und hoffe Euch bald zu sehen. Liebe Anna, schick jedes Kind einzeln. Benno«.

(...) Als mein Vater zurückkam, befand er sich in einem erbärmlichen Zustand, seelisch zerbrochen, seine Hände und Füße waren gefroren, er hatte Kopfwunden, Spuren von Schlägen am ganzen Körper und ein Auge war verletzt. Er hatte kurz geschorene Haare, einen starren Blick und war unfähig etwas zu tun.

Er musste sich täglich bis zum 30. März 1939 am Gestapo-Hauptquartier melden. Das Komische daran war, dass man keinen Vermerk machte, dass er erschienen ist. Man gab ihm nur die Anweisung, er soll sich als letzter eingliedern im Korridor und mit dem Kopf zur Wand stellen. Wenn ein SS-Mann vorbeiging, konnte dieser seinen Zorn an den Juden auslassen oder bei gutem Gemüt nach Hause schicken. Trotzdem ging er täglich hin, weil man ja nie sicher sein konnte, ob vielleicht heute doch die Liste überprüft wird. Oft begleitete ich meinen Vater und er sagte immer zu mir: warte nicht auf mich, Sigi, geh nach Hause, ich weiß ja nicht, wann ich entlassen werde. Alles kommt ja auf die Laune eines SS-Mannes an.

Wenn ich so nachdenke, bin ich mir sicher, dass meine Eltern bestimmt Wien verlassen hätten, auch ohne die Kristallnacht und Dachau, denn die Demütigungen, unter denen wir nach dem Anschluss leiden mussten, waren schwer zu ertragen. Niemand möchte in einer Gesellschaft leben, von der er erniedrigt, verfolgt und ausgeschlossen wird und in der seine Kinder wie Aussätzige behandelt werden. Was für einen Sinn gäbe es dafür, dort weiter zu bleiben? Was für eine Zukunft erwartet die nächste Generation? Ich glaube, dass für meine Eltern entscheidend war, dass ihre Kinder nicht mehr gleichberechtigt waren, nicht weiter studieren durften und diskriminiert wurden. Das traf sie schwerer als ihr eigenes Schicksal, ihre ganze Welt war zusammengebrochen.

Über das Pflasterschrubben: Dies war bestimmt eine Aktion, welche die Juden in den Augen der restlichen Bevölkerung demütigen sollte. Ja, auch meine Familie hatte darunter gelitten. Mein Vater erhielt an einem Vormittag einen Telefonanruf, in dem er gebeten wurde, in ein Ministerium zu kommen und sich bei der Information zu melden und dort würde er Bescheid bekommen, an wen er sich zu wenden hatte. Mein Vater war im Glauben, dass jemand eine Bestellung machen wollte, so machte er sich auf den Weg, wie üblich. Als er dort erschien, forderte man ihn wie auch andere Juden auf, den Fußboden zu schrubben. Die Atmosphäre und seine Gefühle, glaube ich, sind unnötig zu beschreiben.

31.1.

Lieber Max und Matthias, Shalom!

Danke für Euren Brief und die Fragen, die ihr mir gestellt habt. Mein Name in Österreich war Siegfried Tschmul, aber ich hatte schon immer einen hebräischen Vornamen: Shlomo. Shlomo ist Salomon (wie der König) und dieser Namen ist abgeleitet von Shalom, das Frieden bedeutet. Den Familiennamen änderte ich nach der Gründung des Staates Israel, der Grund dafür war, dass man in Hebräisch den Familiennamen schwer aussprechen konnte und nie wusste, wie man ihn schreiben soll. So beschlossen mein Bruder und ich den Familiennamen zu ändern. Eigentlich wählten wir Shoked, was eifrig, fleißig bedeutet. Aber da man im hebräischen keinerlei Vokale schreibt (also Shkd), und jeder das Wort aussprechen kann, wie er es versteht und es ein bekanntes Wort Shaked (Mandel) gibt, neigten die meisten Leute dazu, mich Shaked zu nennen und ich beließ es dabei.

13.2.

Lieber Shlomo, Shalom!

Ich habe ein E-Mail vom „A Letter To The Stars“-Team bekommen, in dem angeregt wird, dass die Kontaktpersonen, in diesem Fall Sie, lieber Shlomo, die Information über Verwandte, Bekannte, Nachbarn oder Freunde, die der Shoa zum Opfer gefallen sind, an uns weitergeben, damit wir möglicherweise diese Opfer vor dem Vergessen bewahren. Darf ich Sie darum bitten? Ich habe gestern die Kataloge der Jahre 37/38 und 38/39 ausgehoben und Sie und Ihren Bruder Kurt gefunden. Ich habe Fotokopien angelegt und manches herausgeschrieben. Ich lege die Lehrerliste der damaligen 4 b und die Schülerliste bei. Verzeihen Sie bitte, dass ich auch Ihre Noten erhoben habe, ich finde sie den Umständen entsprechend nicht so schlecht. Mir fiel auch auf, dass der Turnlehrer ursprünglich eine 1 eingetragen hatte, die dann korrigiert und schließlich auf 4 heruntergestuft hat. Ich habe auch versucht herauszufinden, ob manche Ihrer Mitschüler noch am Leben und erreichbar sind. Dabei habe ich mit der Witwe von Herbert P. gesprochen, sowie mit Johann R. persönlich, der sich aber nicht mit der Vergangenheit auseinander setzen wollte. Ich habe das respektiert, auch wenn ich es für Sie und für meine SchülerInnen ganz toll gefunden hätte, wenn jemand bereit gewesen wäre, sich dieser Vergangenheit zu stellen. Viele meiner Lehrer in den 50er-Jahren waren Mitläufer, manche auch noch immer Nazis, aber keiner war bereit, mit uns darüber zu sprechen.
Vorerst überlasse ich Ihnen die beiliegenden Unterlagen zur Begutachtung,
alles Liebe Kurt Herlt

15.2.

Lieber Herr Herlt, Shalom!

(...) Vielen Dank für den Auszug aus dem Schulkatalog Jahre 37/38. Es freute mich die Namen meiner Lehrer wieder zu lesen und die der Mitschüler, wie immer kommen mir plötzlich verschiedene Namen bekannt vor und ich beginne mich dann an verschiedene Episoden und Personen zu erinnern. Irgendwo ist alles aufgespeichert, es muss nur eine Gelegenheit und einen Trigger geben, und schon wird die Vergangenheit wach. (...)

Ich glaube es ist besser, dass Sie keinen Mitschüler von damals gefunden haben, denn es wäre ja nicht fair, sich jetzt mit ihm auseinander zu setzen, was könnte man sich erhoffen von so einem Gespräch.

Er war doch damals so jung und es gab nur wenige, die stark genug waren, um gegen den Strom zu »schwimmen«. Ich selber habe, mir allein, die Frage gestellt, wie hätte ich gehandelt, wenn ich ein geborener »Arier« gewesen wäre? Ich bin mir nicht sicher, was ich unternommen hätte, aber ich hoffe, dass ich unter allen Umständen ein Mensch geblieben wäre und demnach gehandelt hätte.
Ihr/Euer Shlomo

Home > Die Letzten Zeugen > Shlomo Shaked