Die letzten Zeugen - Das Buc

FELICE MATHUR


 
 

FELICE MATHUR

(früher Spiegel)
geb. 1920-05-15
lebt heute in Indien

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Felice Mathur wurde am 15.Mai 1920 in Wien geboren. Sie konnte nach England fliehen. Ihre Eltern hat sie zum letzten Mal bei ihrer Abreise gesehen. Heute lebt Felice Mathur in Bangalore, Indien. Während des Projekts kam sie nach Österreich und wurde in Indien besucht.

Es muss Jahre her sein, dass ich so einen langen Brief schrieb...

Die Schülerin Anna Ladenstein hat die Lebensgeschichte von Felice Mathur recherchiert und konnte sie auch persönlich kennenlernen.

29.2.2004

Liebe Anna,

ich war überrascht über deinen wirklich sehr netten Brief, da ich ja überhaupt nichts über das Projekt „A Letter To The Stars“ wusste. Bekommen die Schüler eine Liste von den noch lebenden „refugees“, aus der ihr dann jemanden aussuchen könnt? Es würde mich wirklich interessieren, was über mich steht, sodass du mich gewählt hast.

Es ist schwer in wenigen Zeilen ein ganzes Leben zu berichten und zu beschreiben, wie ich es geschafft habe über diese für mich so tragische Zeit hinweg zu kommen. Meine Überlebensphilosophie: alles Traurige, das nicht in meiner Macht steht zu ändern, hört auf für mich zu existieren. Es wird weggeschoben – daran wird nicht mehr gedacht! Wenn ich jetzt versuche, dir zu erklären, was ich fühlte – bekomme ich wahnsinnige Kopfschmerzen, ein dumpfes Gefühl – irgendwo in meinem Unterbewusstsein sitzt doch noch etwas, über das ich nie hinwegkommen konnte. Aber wie gesagt, muss ich mich kümmern, was in meinem Unterbewusstsein noch vorgeht? Weg damit, dafür hatte und habe ich keine Zeit.

Also zuerst einmal: Wie kam ich aus Österreich hinaus? Die einzige Möglichkeit für mich war nach England mit einem „domestic permit“, d. h. einer Arbeitserlaubnis nur im Haushalt. Man musste 18 Jahre sein. Eine Bekannte von mir war schon in England und die verschaffte mir einen Job als Kinderfräulein. Ich selbst hatte ein „ Fräulein“ fast bis zum Tag meiner „Auswanderung“.

Ich hatte eine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester, Grete. Meine Eltern waren immer sehr beschäftigt und leider, wenn ich jetzt an sie denke, finde ich, dass ich sie ja leider gar nicht richtig kannte. Mutti war Vollarierin, Vater Volljude. Seine neun Geschwister und deren Familie waren von Vaters Frauenwahl nicht begeistert und die Familie meiner Mutter traf ich nie, da sie nach ihrer (Muttis) Ansicht nicht fein genug waren! Ich wuchs von Fräulein sehr behütet und beschützt auf, wurde noch täglich vom Realgymnasium abgeholt – für mich ein Grauen.

Also, an dem Tag, an dem ich mein britisches Visum bekam, bevor noch meine Eltern es sich überlegen konnten, fuhr ich mit dem Nachtzug los – nur mit kleinem Handgepäck und 10 Reichsmark – Wertsachen und mehr Geld waren verboten. Mein Vater kam gerade aus Dachau heraus, und so brachten mich die Eltern und Grete auf die Bahnstation. Und das war das letzte Mal in diesem Leben, dass ich sie sah – ich war noch nicht 19 Jahre alt.

Mein Job war in der Nähe von Birmingham. Ich blieb nur drei Monate, da der Papa des Kindes auch beaufsichtigt werden wollte – so nahm ich einen Posten in London an: als Haushälterin für einen 92-jährigen Herrn – dort blieb ich zwei Jahre – bis zu meiner Heirat mit einem indischen Doktor der Wissenschaften. Durch diese Heirat bekam ich einen britischen Pass und durfte daher arbeiten, was ich wollte. Es war Krieg und ich blieb in England – elf Jahre. Ich hatte gute Jobs, verdiente recht gut. Ich hatte ja nie eine Berufsausbildung, war ja mit dem Studium nicht fertig, aber scheinbar war ich gut mit „accounts“ (my hidden talent!).

Mein Mann fuhr nach drei Jahren Ehe (während des Krieges, mit einer Truppenschaft) zurück nach Indien und ich blieb noch sieben Jahre allein in London. Dann fuhr ich nach Indien, nach Mysore, um mich scheiden zu lassen. Ich wollte einen Engländer heiraten. Also kam ich 1950 nach Indien, und so begann mein drittes Leben.

Das erste: 18 Jahre in Wien. Das zweite: 11 Jahre England. Das dritte: jetzt 54 Jahre in Indien – und jedes ganz verschieden.

Ich bekam meine Scheidung nie. Bis heute liegen meine Papiere, sammeln Staub, im High Court. In der Zwischenzeit ist der Mann, den ich heiraten wollte (der Engländer war schon längst vergessen), auch ein Inder, ein Arzt und Direktor des Dental College in Bangalore, gestorben. Er hatte in Amerika studiert, wir lebten 40 Jahre zusammen. Er war verheiratet – seine Ehe war arrangiert, als er 18 Jahre alt war und seine Frau 13 – sie hatten vier Söhne. Man versuchte das Beste „under the circumstance“ zu machen und versuchte glücklich zu sein.

Dann begann mein Mann alzheimerkrank zu werden – und die letzten Jahre mit ihm waren eigentlich die schrecklichsten in meinem Leben – da ich ja seinen totalen Verfall vor Augen hatte und dies nicht von mir abschieben konnte. Vor neun Jahren starb er, eine Erlösung für ihn.

Jetzt sitze ich hier – alleine in meinem Appartment in Bangalore, es dauerte lange, über die traurige Zeit hinwegzukommen und sie zu vergessen. Und jetzt versuche ich mich nur an die schönen Jahre mit ihm zu erinnern und an alle schönen und interessanten Erlebnisse, die sich in meinem langen Leben ereigneten. Ich hatte ja so vieles, wofür ich dankbar sein muss: Ich war und bin noch gesund, hatte ein gutes Aussehen und war nicht allzu dumm und dazu hatte ich noch viel Glück. Also, für was soll ich mich dann beschweren? Hätte mein Leben nicht viel trauriger sein können? Ich brauche nur um mich herumschauen: Ich hätte ja in einer Hütte geboren sein können oder leprakrank, so viele Möglichkeiten.

Ich hatte eine schöne Kindheit, und später, nie musste ich hungrig zu Bett gehen – immer genug Geld, um mich schön zu kleiden. Immer eine gemütliche Wohnung, wenn es auch manchmal nur ein kleines Zimmer war. Ich traf viele nette Menschen. Vor kurzem fragte mich ein Bekannter: „Given the chance: would you want to live your life again?“ Ich sagte : Ja! Mir gefällt es in Indien sehr gut. Und allein sein ist auch nicht schlecht, habe viel Zeit zum Lesen und kann machen, was ich will. Bin fast 84 Jahre – ja wie schnell ist die Zeit vergangen.

Es muss Jahre her sein, dass ich so einen langen Brief schrieb – normalerweise bin ich so schreibfaul, dass meine Freunde und Bekannten von mir nur Weihnachtsgrüße erwarten und auch nur bekommen. Kannst du dir ein Bild über mich und mein Leben machen? Wenn man glauben kann, dass alles im Leben vorbestimmt ist, dann akzeptiert man es eben und macht das Beste daraus – ich hab ’s halt versucht.

Also liebe Anna, ich bin sehr neugierig, wie du auf meinen Brief reagieren wirst. Wird er dir helfen, über mich eine Geschichte zu schreiben? Es hat mich gefreut dich brieflich kennen zu lernen – so sei herzlichst von mir gegrüßt.

Felice Mathur


Liebe Frau Felice Mathur!

Vielen herzlichen Dank für Ihren lieben Brief... Wie fiel meine Wahl gerade auf Sie: Im Internet gibt es eine Liste mit Namen von Überlebenden. Hier stehen einige Daten und ich konnte mir jemand aussuchen. Man kann z. B. einfach ein Geburtsdatum eingeben und dann kommen alle Namen der Menschen, die an diesem Tag geboren sind. Ich habe mein Geburtsdatum eingegeben, 11.9., und es wurde niemand gefunden. Da gute Freunde meiner Mutter in Indien wohnen, gab meine Mutter zum Spaß Indien ein. Und das Ergebnis: ein einziger Name. Nämlich Ihr Name. Dann habe ich alles genau durchgelesen über Sie...

Am 15. Mai 1920 geboren, in Wien. Aus Österreich geflüchtet. Gelebt in 1030 Wien, Landstrasser Hauptstraße 145. Von Beruf „accomtency at shell-mex house London, Strand.“

Allerdings habe ich diesen Beruf nicht wirklich verstanden. Ich glaube es hat irgendetwas mit Buchhaltung zu tun. Ja, und dann sah ich, dass mein Vater gerade ums Eck sein Büro hat und er eigentlich jeden Tag an Ihrem ehemaligen Haus vorbeikommt. Ja, und dann stand auch noch da, dass Sie Deutsch sprechen. Und ich habe mir gedacht und auch meine Mutter, dass es leichter ist über dieses Thema in Deutsch zu sprechen. So fiel die Wahl auf Sie. Und ich glaube, ich habe eine gute Wahl getroffen!

Aber ich bin mir nicht im Klaren, inwieweit ich Sie fragen darf, kann, soll, denn ich weiß, dass ich gerne vieles wissen würde und auch meine Mutter, denn sie hilft mir bei diesem Projekt, aber ich weiß nicht, wie weit ich gehen kann, damit ich Ihnen nicht weh tue. Ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, die Eltern und Geschwister zu verlieren. Nein, das ist einfach unvorstellbar für mich. Ja, und ich kann da Ihre Lebensphilosophie nur nachvollziehen: Alles Traurige, das nicht in der eigenen Macht steht, zu ändern, hat aufgehört zu existieren. Ja, ich glaube man kann Ereignisse vergessen oder verdrängen, aber kann man Personen vergessen und verdrängen? Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten kann man nicht vergessen. Und soll man nicht vergessen. Meine Mutter meint, das Schlimmste wäre vergessen zu werden.

Viele Dinge sind noch offen, ich hätte noch viele Fragen. Aber ich weiß nicht, ob Sie sie beantworten wollen und können. Denn ich will Ihnen keine Kopfschmerzen verursachen. Was ich gerne wissen würde, welchen Beruf hatten Ihre Eltern? Wie haben Sie gewohnt? Wie war Ihr Leben damals? Vor dem Krieg! Welchen Berufswunsch hatten Sie damals? Sie wollten studieren? Ich glaube, zu dieser Zeit studierten nicht viele Mädchen! In welche Schule gingen Sie und Ihre Schwester? Waren Sie praktizierende Jüdin? Was haben Sie besonders gerne gegessen? (Kochen Sie heute noch österreichische Kost?) Was haben Sie in Ihrer Freizeit gemacht? Haben Sie ein Instrument gespielt?

Mit Kriegsbeginn: was hat sich für Sie geändert? Haben die Freunde noch zu Ihnen gehalten? Mussten Sie die Wohnung verlassen? Wie lange hatten Sie dann noch Kontakt zu Ihrer Familie? Konnte sonst gar niemand von Ihrer Familie dem schrecklichen Morden entgehen? Haben Sie gar keine Verwandten mehr? Und Freunde von damals? Das sind nur einige meiner Fragen.

Ja, und zu diesem Projekt, „A Letter To The Stars“, gehört, dass sich die Überlebenden mit den Jugendlichen hier in Mauthausen treffen. Ja, liebe Frau Felice Mathur, nun möchte ich Sie fragen, ob Sie auch kommen würden. Ich weiß, dass es eine weite Reise von Indien ist, aber ich möchte Sie gerne einladen. (Ich habe gehört, dass Sie vor zwei Jahren schon einmal Österreich besucht haben.) Ja, ich und meine Familie würden Sie sehr gerne kennen lernen, und wir würden Sponsoren für Ihre Reise suchen. Also es würde Sie nichts kosten. (Hoffentlich) Ich weiß, dass es etwas kurzfristig ist, denn das Treffen findet schon am 9. Mai statt. Das ist nicht mehr lange. Zu diesem Treffen kommen viele der Überlebenden.

Liebe Frau Mathur! Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir vielleicht ein Foto von Ihrer Kindheit und von Ihrer Familie schicken könnten, und vielleicht ein aktuelles Foto. Ja, Ihr Deutsch ist perfekt, es gibt nicht einen Fehler in Ihrem Brief. Ja wie kann man sich das so lange merken? Ihr Brief hat mich wirklich sehr bewegt (meiner Mutter kamen die Tränen!) und ich danke Ihnen wirklich dafür.

Ich habe noch eine Frage: Ich werde über Ihr Leben schreiben. Ja, ein interessantes, spannendes und teilweise sehr trauriges Leben. Ja, und vielleicht wird dieser Artikel dann in einem Buch veröffentlicht. Gibt es Dinge, die Sie da nicht veröffentlicht haben möchten? Gibt es Dinge, die Sie vielleicht mir sagen, aber nicht wollen, dass es viele Leute lesen. Aber ich werde auf jeden Fall meinen Lebenslauf von Ihnen zuerst an Sie schicken, so können Sie kontrollieren und mir sagen, ob es so in Ordnung geht. Ja, ich glaube, so ist es wahrscheinlich am einfachsten.

Ich danke Ihnen recht herzlich für die viele Arbeit, die Sie sich gemacht haben, aber ich glaube, wir dürfen diese Zeit nicht vergessen, denn wenn wir von Überlebenden darüber hören, dann hoffe ich, dass so etwas nie wieder vorkommt. NIE WIEDER. Das wäre mein Wunsch.

So liebe Frau Felice Mathur, liebe Grüße von mir und meiner Mutter, vielen Dank für all die Bemühungen. Und in großer Spannung erwarten wir immer Ihre Briefe! Würde Sie es stören, wenn wir Sie einmal anrufen würden? Ihre Telefonnummer haben wir ja.

Anna Ladenstein


Liebe Anna,

ich war wirklich berührt! Vielen Dank für deinen Brief und für das Foto – gefällt mir gut! Nur siehst du etwas traurig und ernst aus! Heute schreib ich nur einen kurzen Brief, es ist wahnsinnig heiß – meine Wohnung ist im zweiten Stock, Temperatur im Zimmer 32 Grad.

Also zuerst einmal: ich würde mich freuen, wenn du oder deine Mutter mich anrufen würden. Dann: du darfst mich fragen, was dich halt interessiert zu wissen. Ich bin vollkommen deiner Meinung, dass man Menschen, besonders die Eltern oder Geschwister nie vergessen kann, für mich sind sie immer bei mir – nur sehen kann ich sie nicht, aber fühlen, ja. An traurige Ereignisse denke ich nicht, jedenfalls versuche ich’ s.

Mein Vater hatte neun Geschwister, der älteste Sohn war Arzt, der zweite Ingenieur (fiel im ersten Weltkrieg am Isonzo). Vater fing an Jura zu studieren, musste aber damit aufhören, da sein Vater sehr krank wurde und er als einziger etwas Geschäftssinn hatte, dessen Geschäfte übernehmen und führen; er und sein jüngster Bruder (Fleisch und Wurstwaren). Ich weiß nicht, ob es vier oder fünf Geschäfte waren und dann noch ein Großhandel. Es ging alles recht gut – Vater setzte gute Manager ein, alles lief ok.

Ich ging ins humanistische Gymnasium (Kundmanngasse, 3. Bezirk), aber wechselte (wollte nicht noch Griechisch lernen, Latein genügte mir) zu einem Realgymnasium in der Herrengasse, scheußliche, alte Professorinnen (Schwarzwaldschule – existiert schon lange nicht mehr) und endete in der Realschule in der Rahlgasse. Dort blieb ich bis zum Anschluss – nächsten Tag – alle Schülerinnen in Uniformen – nur vier von uns nicht – uns wurde gesagt, wir sollten nicht mehr wieder kommen. Freundinnen hatte ich keine – ich kann mich auch an niemanden besonders erinnern. Fotos von meiner Kindheit: leider hab ich nur ganz wenige.

Also jetzt aber dasAllerallerwichtigste: Vor einem Monat buchte ich schon einen Flug nach Europa (auch schon dafür bezahlt, mit meinen letzten Ersparnissen), so liebe Anna, diesmal ist es nicht nötig für mich sammeln zu gehen. Aber ich war wirklich darüber gerührt! Ich habe eine sehr gute Freundin in Wien (die traf ich in Bangalore) und bei ihr werde ich auch wohnen – vom 7.5.–24.5. So werden wir uns treffen können und ich bringe die wenigen Fotos dann mit.

Die Idee, Schülertreffen mit Überlebenden des Holocaust im KZ Mauthausen zu veranstalten, finde ich ganz schrecklich! Die Schüler können doch alleine ein KZ besuchen, für die Überlebenden ist es doch entsetzlich, das alles wieder zu sehen. Also ich gehe auf keinen Fall hin!

Also ich freue mich auf einen Anruf von Euch, von hier aus kommt es recht teuer, deshalb habe ich mich noch nicht gemeldet!

Herzliche Grüße an dich und deine Familie

Felice Mathur


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