Die letzten Zeugen - Das Buc

GERTRUD JELLINEK


 
 

GERTRUD
JELLINEK

(früher Altar)
geb. 1925-12-19
lebt heute in Australien

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Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Die Journalistin Katharina Schmidt hat Gerty Jellinek, Leah Linton und Rosa Schatzberger in Wien begleitet und ihre Geschichte in der »Wiener Zeitung« veröffentlicht. Im Projekt »A Letter To The Stars 38/08« wurde Gerty Jellinek von der HLW Zwettl und Herta Freund-Klopf eingeladen. Leah Linton besuchte das Sacré Coeur Wien, wo Annemarie Schönberg Gastgeberin war. Rosa Schatzberger wurde an der HS Haslach von Elisabeth Reich empfangen.

Gerty Jellinek, Leah Linton, Rosa Schatzberger werden 1925 in Wien geboren, beim Anschluss sind sie 12 Jahre alt. Nach der Machtergreifung trennen sich ihre Wege. Gerty Jellinek flüchtet nach Australien, Leah Linton kann in die USA emigrieren, Rosa Schatzberger verschlägt es nach London. Erst im Mai 2008 sehen sich die drei Freundinnen wieder.

Kaddisch für eine verlorene Jugend

Rosa Schatzberger, Gerty Jellinek, Leah Linton. Drei Mädchen, auseinandergerissen von den Nazis, 70 Jahre später wieder vereint

Vergessen werde ich es nie, aber ich mache die heutige Generation nicht für die Taten ihrer Großeltern verantwortlich.« Rosl Schatzberger lehnt sich in ihrem roten Lehnsessel ein Stück vor, der blumig-herbe Duft von Chanel Nr. 5 breitet sich dezent im Raum aus, ihre grünen Augen wirken ein bisschen glasiger als noch kurz zuvor. Aber vielleicht kommt das nur vom Licht. Der Dame in dem adretten, hellgrauen Kostüm sieht man ihre 82 Jahre höchstens an den schlohweißen Haaren an. Gemeinsam mit zwei Freundinnen sitzt sie in der Lobby des Hotel Ananas im fünften Bezirk. Die Szene wirkt wie ein gemütliches Pensionistinnen-Treffen an einem sonnigen Maitag. Dass an diesen drei Damen etwas anders ist, wird spätestens dann deutlich, wenn sie anfangen zu erzählen. Und sie haben viel zu erzählen – Rosl und ihre beiden Freundinnen. Alle drei kamen 1925 in Wien als Kinder jüdischer Eltern zur Welt. Im März 1938, als Österreich an NS-Deutschland angeschlossen wurde und auch hierzulande die nationalsozialistische Judenverfolgung einsetzte,
waren sie noch nicht einmal dreizehn Jahre alt.

»Gerty und ich haben uns in der ersten Klasse Volksschule kennen gelernt. Ich war ein scheues Kind und eine schlechte Esserin«, erzählt Rosl, »deshalb hat die Gerty immer für mich gesprochen – und mein Gabelfrühstück gegessen«.

Und Gerty Jellinek, ebenfalls 82 und ebenfalls viel jünger wirkend, wirft – ebenfalls mit leicht anglikanischem Akzent – ein: »Uns hat immer eine innige Freundschaft verbunden. Bis zu dem Tag, als sich Rosl weinend von
mir verabschiedet hat.«

In der Hauptschule stieß dann mit Leah Linton das dritte Mädel aus Wien-Landstraße zum Freundeskreis. »Wir waren jeden Nachmittag im Arenbergpark, haben mit den Burschen geflirtet – aber Gertys großer Bruder hat mich immer verhauen«, erzählt Leah. Sie sitzt zwischen den beiden anderen in der gemütlichen Couchlandschaft, immer wieder blickt sie versonnen in die Ferne, gerade so, als wollte sie ihre eigene Geschichte auf einer inneren Leinwand noch einmal abspulen.

Tatsächlich befinden sich die drei auf einer Art Reise in ihre Vergangenheit: Im Rahmen des Projekts »A Letter To The Stars« wurden Gerty und Rosl nach Wien eingeladen, um hier vor Schülern zu sprechen. Leah erfuhr durch Zufall davon und wollte auch dabei sein. Allerdings war das Projektbudget bereits erschöpft, also finanzierte sie die Reise für sich und ihre Kinder selbst – »koste es, was es wolle, es musste einfach sein«, meint Leah schmunzelnd.

Im Rahmen dieses Schülerprojekts waren Linton, Schatzberger und Jellinek auch zur Gedenkveranstaltung
»War nie Kind« ins Parlament eingeladen worden. »Für uns stimmt dieses Motto nicht ganz«, meint Gerty: »Wir hatten eine harmlose Kindheit.« »Aber Jugend haben wir keine gehabt, man hat über Nacht erwachsen werden müssen«, fügt Rosl hinzu. Und sie erzählt von ihrer Kindheit, damals im Wien der dreißiger Jahre. Die Familie sei nicht religiös gewesen, erst »der Hitler hat mich zur Jüdin gemacht«. In den Tempel habe sie aber schon gehen müssen – die jüdischen Kinder mussten einen Stempel über eine Teilnahme am Jugendgottesdienst in der Synagoge vorweisen. Rosl hat den Religionsunterricht aber lieber geschwänzt: »Ich habe oft anderen Kindern Zuckerln gegeben, damit sie für mich stempeln gehen.«

Die unbeschwerte Kindheit fand mit dem Anschluss ein jähes Ende. Oder wie es Leah ausdrückt: »Der Anschluss war der Abschluss unserer Freundschaft.« Denn plötzlich habe man gewusst, dass man
in Gefahr sei, sagt Rosl. Gemeinsam mit Gerty war sie damals auf der Straße unterwegs. »Wir haben gesehen, wie sie die Menschen für die »Reibepartien« (Juden wurden von den Nationalsozialisten dazu gezwungen, die Wahlslogans der Vaterländischen Front von den Straßen zu entfernen – mit Bürsten, auf den Knien rutschend und unter dem Gejohle der Nazis, Anm.) auf die Straße geholt haben – Frauen mit Pelzmänteln oder schön lackierten Fingernägeln hatten sie besonders gerne«, berichtet Gerty. Auch die gemeinsame Zeit im Arenbergpark war vorbei: »Hunde und Juden durften ja nicht mehr in den Park«, erklärt Leah bitter.

»Reichskristallnacht«

Und dann kam die Nacht vom 9. auf 10. November 1938, die als »Reichskristallnacht« (eigentlich: Reichspogromnacht) traurige Berühmtheit erlangen sollte. Rosl: »Es war der Geburtstag meiner Mutter, wir saßen zu sechst um den Tisch und aßen. Dann hörten wir das Trampeln auf der Stiege und wie unten nach Juden gefragt wurde. Die Hausmeisterin verwies die Männer an uns, sie stürmten in die Wohnung und nahmen die Männer – mein Vater war nicht da, er war zu der Zeit dienstlich in Prag – mit. Sie kamen sofort nach Dachau. Zu meiner Mutter sagten sie: »Sie haben ein Geschäft, her mit den Schlüsseln!« Als wir am nächsten Tag in den Laden kamen, waren alle Scheiben zerschlagen, das Geschäft war komplett ausgeräumt.« Auch aus ihrer Wohnung in der Erdbergstraße musste Rosls Familie ausziehen – sie zog zu einem Onkel an den Kai.

Die Lintons hatten die Traungasse im 3. Bezirk schon bald nach dem Anschluss verlassen müssen – Richtung Judenviertel in der Leopoldstadt. »Matzeninsel (nach Matze, dem ungesäuerten Brot der jüdischen Küche, Anm.) hat das geheißen. Unter uns war ein Geschäft, wo Heringe und Gurken verkauft wurden – es hat im ganzen Haus gestunken«, erinnert sich Leah. Im Nachbarhaus war eine Bäckerei, die chassidische Juden mit langen Bärten betrieben – »denen haben sie in der Reichskristallnacht die Bärte weggebrannt, die haben sicher nicht überlebt«, sagt sie. Am 10. November war Leah am Weg von der Schule nach Hause – »überall waren Chassiden (gläubige, bärtige Juden, Anm.), die das Trottoir putzen mussten«. Ihr Bruder war mit dem Rad zum Vater in die Tischlerwerkstatt gefahren – um ihn vor den Nazis zu warnen. Der Vater kam nach Hause, der Bruder Fredl aber nicht. Er war von den Nazis nach Dachau deportiert worden. Doch er hatte Glück im Unglück, sechs Monate später durfte er heimkehren. Leah weiß heute, was Fredls »Fehler« war: »Er hatte weiße Stutzen an und einen schwarzen Regenmantel, er hat eh ausgeschaut wie ein Nazi, aber als sie ihn gefragt haben, ob er Jude ist, hat er ›ja‹ gesagt.«

Auch die Jellineks begingen einen »Fehler«, nämlich den, Untermieter aufzunehmen: »Bei uns wohnte ein junges Paar. Am 13. März kam der Mann plötzlich in NS-Uniform aus seinem Zimmer. Mein Vater hat nur verwundert gefragt ›Sie auch?‹ Darauf er: ›Natürlich gibt es auch bei uns Illegale, ich bin schon seit zehn Jahren dabei‹.« Als dann in der »Reichskristallnacht« die Schergen kamen, hat ihnen der Mieter – »wir wollten
auswandern und hatten ihm ohnehin schon die Wohnung versprochen« – bereitwillig den Weg zum Schlafzimmer von Gertys Eltern gewiesen. Der Vater wurde verhaftet und weggebracht, nach zehn Tagen aber
freigelassen, »weil nicht genug Platz in Dachau war«, sagt Gerty. Sie musste zuschauen, wie »der eigene Vater weggeführt wurde, als wäre er ein Ver-brecher – als er zurückkam, hatte er sich zehn Tage nicht gewaschen und war ein gebrochener Mann.« Der liebe Untermieter hat die Familie aus der Wohnung geschmissen, erzählt die 82-Jährige sarkastisch. Gertys Familie ist gleich um die Ecke untergekommen – die Wohnung teilte man sich mit mehr als 20 Personen.

Flucht aus Wien.

Ein vorläufig endgültiges Ende der Dreier-Freundschaft bedeutete dann die Auswanderung: »An einem Tag im
März 1939 hat meine Mutter um neun Uhr abends meine sechsjährige Schwester und mich genommen, mit einer Einkaufstasche und einem Kopftuch ist sie mit uns aus dem Haus«, erzählt Rosl.

Bei der Urania haben die drei ein Taxi an die tschechische Grenze genommen – von dort sind sie mit dem Zug
nach Prag gefahren, wo der Vater mit gefälschten Pässen auf die Familie wartete. »Eine alte bucklige Jüdin aus unserem Haus konnte in England als Pfarrersköchin anheuern, sie hat auch für meine Eltern Stellen als Koch und Diener gefunden«, sagt Rosl – denn die Briten hätten nur Flüchtlinge mit einer Arbeitserlaubnis aufgenommen. Zwei Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – und damit der Verschärfung der Repressalien gegen Juden – kam die Familie in England an. Über Stellenanzeigen hat die Pfarrersköchin übrigens an die 50 Menschen gerettet – »als sie starb, bekam sie ein katholisches Begräbnis, aber mein Mann und mein Schwager stellten sich an ihr Grab und sangen den Kaddisch (jüdisches Totengebet, Anm.) für sie«.

Fast jeden Tag war Leah Lintons Mutter auf der Gestapo und bat darum, ihren Sohn freizulassen – immerhin hätte er ja ein Visum in die USA. Als er aus Dachau kam, hatte er zwei Wochen Zeit, das Land zu verlassen, über verschlungene Wege kam er tatsächlich in die USA, obwohl das Visum nur im Kopf der verzweifelten Mutter existierte. Irgendwie habe sie es aber geschafft, für die ganze Familie Visa zu besorgen – außer für eine Schwester, die schon zuvor nach Palästina ausgewandert war, und für den Vater. Der stand als geborener Ungar auf einer kontingentierten Liste an Personen, die in die USA ausreisen durften – »aber das Kontingent war erschöpft und er wollte nicht ohne seine Familie fahren«, erzählt Leah. Als sie im Frühjahr 1939 in New York ankamen, war Leahs Vater immer noch in Wien – erst zwei Jahre danach sei das Kontingent aufgestockt worden, zwei Jahre, die »mein Vater einsam und heartbroken verbracht hat«, sagt die alte Dame. Und plötzlich
kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schnäuzt sich, stützt den dunklen Pagenkopf in die faltigen Hände und erzählt – davon, wie sie dem Vater Tickets geschickt haben, davon, wie der Vater nicht gekommen ist, und davon, wie sie später erfahren hat, dass auch sie einen Kaddisch beten musste – für den Vater, der in Auschwitz ermordet wurde.

Gerty lebt heute in Australien, über verschlungene Wege ist sie dorthin geraten. Als der Vater aus dem Gefängnis heimkam, war klar, dass die Auswanderung unvermeidlich war. Also zog die Familie von einem Konsulat zum nächsten – »aber zur Schande der ganzen Welt wollte uns niemand haben«, sagt Gerty trocken. Nur für Shanghai brauchte man kein Visum, daher waren auch die Schiffe dorthin voll. Von Februar bis Ende Juli 1939 wartete die Familie von Gerty Jellinek in Wien auf Plätze für die Reise – sechs Monate, »in denen man nicht gewusst hat, ob man es schaffen wird«. Am 31. Juli war es dann so weit – »mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich fuhren nach Italien, wo wir noch einmal 14 Tage auf das Schiff warten mussten«. Als man dann schließlich auf hoher See war, brach der Krieg aus – englische Häfen konnten nicht mehr angefahren werden. »Also steuerten wir nur holländische Häfen wie Sumatra und Batavia an, bis wir endlich, zwölf Tage nach Kriegsbeginn, in Shanghai ankamen«, erzählt Gerty. Neuneinhalb Jahre lebte sie mit ihrer Familie in der chinesischen Metropole, bevor sie 1949 nach Australien kam und dort eine eigene Familie gründete.

Ein Anruf mit Folgen

Mehr als 50 Jahre später, Anfang der 1990er, klingelte bei Leah Linton in Connecticut um drei Uhr morgens das Telefon. »Mein Mann sprang aus dem Bett und wetterte “Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?”« – »Das ist mir egal, ich will Leah sprechen«, sagte die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Es war Gerty Jellinek, die aus Australien anrief und nicht daran gedacht hatte, dass sie die Nachtruhe ihrer verschollenen Freundin störte. Schon ein Jahr zuvor hatte Gerty über eine Anzeige in einer britischen Vertriebenenzeitung Rosl Schatzberger im britischen York aufgetrieben – seither sind die drei in ständigem Kontakt.

Bei ihrem Besuch in Wien haben auch Kinder und Enkel einander kennen gelernt – »es ist wie ein Roman«, meint Rosl verträumt lächelnd. Und berichtet von einem Erlebnis in der Schule, in der sie für »A Letter To The Stars« ihre Geschichte erzählt hat: »Der 89-jährige Vater einer Lehrerin war in der Wehrmacht. Als wir mit ihm essen waren, hat er darauf bestanden, zu bezahlen, als kleine Wiedergutmachung – obwohl er gar nichts gemacht hat, damals.«

Während Gerty bereits zum vierten Mal »zurück in Wien« ist, wie sie sagt, ist es für Leah erst das zweite Mal. »Vor zehn oder zwölf Jahren war ich schon einmal hier, mit meinem Mann. Damals war mir die Stadt noch ganz
unsympathisch«.

Doch die Mischung aus Trauer und Wut sei nun vergangen – weil sich endlich so viele Menschen für ihr Schicksal interessieren.
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Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

"Am 13.März 1938 war unser früheres Leben zu Ende"

Gertrud Jellinek fasst ihre Lebensgeschichte für uns kurz zusammen.

Ich bin am 20. Dezember 1925 in Wien geboren. Mein Vater war Friedrich Altar, geboren am 2. April 1885 in Wien, verstorben am 17. Januar 1943 in Shanghai. Meine Mutter war Helene Altar, geboren am 23. Juni 1890 in Wien und gestorben am 24. September 1973 in Sydney, Australien. Mein Bruder Robert Altar wurde am 22. September 1924 in Wien geboren und ist am 4. Oktober 2000 in Sydney verstorben. Mein Vater war Frontsoldat im 1. Weltkrieg, ein bewusster Österreicher jüdischer Religion, ein hochanständiger, intelligenter Mann, ein Familienmensch. Meine Mutter war eine tatkräftige, liebevolle Person. Mein Bruder Robert und ich hatten eine unbeschwerte, glückliche Kindheit.

Am 13. März 1938 war unser früheres Leben zu Ende. Wir wurden ausgeschult, verloren unsere Wohnung, mein Vater wurde am 10. November verhaftet und kehrte zu uns als gebrochener Mensch nach Hause. Es gelang uns, nach Shanghai zu emigrieren. Das geschah knapp zwei Wochen vor Kriegsausbruch. Unter japanischer Besetzung lebten wir dort 9 1/2 Jahre. Am 7. März 1948 heiratete ich meinen Mann Willy Jellinek in Shanghai. Mein Mann war ein bekannter Sportler von der Wiener Hakoah. Als Hockeyspieler nahm er in der österreichischen Mannschaft an der Makkabiade in Israel teil, und dort schoss er auch das Siegestor für Österreich. 1949 gelang es uns, nach Australien einzuwandern, wo meine einzige Tochter Irene geboren wurde. Nach vielen glücklichen Ehejahren ist mein lieber Mann 1996 gestorben.

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