Die letzten Zeugen - Das Buc

LEO LUSTER


 
 

LEO LUSTER

geb. 1927-00-00
lebt heute in Israel

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Im Projekt »Botschafter der Erinnerung« ist im April 2008 eine Gruppe österreichischer Jugendlicher zu Gast bei Leo Luster in Israel. Josef Neumayr vom Team »A Letter To The Stars« hat die Lebensgeschichte von Leo Luster aufgeschrieben.

Leo Luster wird 1927 in Wien geboren. Der Hausmeister in der Schreygasse 12 »arisiert« die Wohnung der Familie. 1942 werden Leo Luster und seine Eltern nach Theresienstadt deportiert. 1944 folgt für Vater und Sohn der Transport in das KZ Auschwitz. Moses Luster wird, im Alter von 53 Jahren, sofort nach der Ankunft vergast. Leo Luster kommt in das Außenlager Gleiwitz, überlebt schließlich auch einen Todesmarsch. Nach dem Krieg findet er seine Mutter wieder und emigriert nach  Israel, wo er mit seiner Familie in Tel Aviv lebt.

»Die Österreicher sahen zu und spotteten!«

Leo Luster kam mit 17 Jahren nach Auschwitz, wo er zur Nummer wurde: B 11647. Sein Vater Moses wurde sofort vergast.

Am 1. Oktober in diesem bitteren Jahr 1942, im Jahr der Wannseekonferenz und der dort proklamierten Endlösung, trifft die arische Weltunordnung mit voller Wucht auf das Leben des 15-jährigen Leo Luster aus Wien-Leopoldstadt. An diesem Tag, einem Donnerstag, sind er, sein Vater Moses und seine Mutter Golda, im Ghetto von Theresienstadt angekommen. Einzig Schwester Helene ist es gelungen, aus Österreich zu flüchten. Leo und seine Mutter werden sie Jahre später in Israel wieder treffen.

Im Ghetto sind zu dieser Zeit 58.000 Menschen auf einem Raum interniert, der zuvor 7.000 Einwohner hatte. In Summe werden ab November 1941 über 141.000 Menschen gegen ihren Willen festgehalten. 88.202 werden von dort aus in Vernichtungslager deportiert; 33.456 sterben in Theresienstadt; 16.832 werden am 8. Mai 1945 von der Roten Armee befreit.  Dabei ist das Ghetto nur der Wartesaal zur Hölle von Auschwitz. Aber das weiß der junge Leo, das wissen seine Eltern an diesem kalten Oktobertag noch  nicht.Hinter ihnen, den Lusters, liegen viereinhalb Jahre in Hitlers Wien. »Wir waren rechtlos«, erinnert sich Leo. »Auf der Straße wurden wir verprügelt, wir sind immer in Gruppen gegangen. Es gab wenig zu essen, wir hatten kaum Geld.«

Hinter ihnen, den Lusters, liegt die Erinnerung an den Nazi-Hausmeister in der Schreygasse 12. Jenen mit einem Mal so mächtigen Mann, der die Familie aus der Wohnung geworfen und diese zu seiner gemacht hat. Die Vier müssen in ein Kellerabteil ziehen, in einen Raum ohne Strom. Mit »Toilette draußen«.

Hinter ihnen liegen die Gräuel der Deportation – zunächst der von so vielen anderen. »In der Klasse, alles Juden, sind wir immer weniger geworden. Und natürlich haben wir immer die Transporte Richtung Osten gesehen.« Nach dem Einmarsch verliert der Vater seinen Job als Textilvertreter. Er ist lange arbeitslos, wird schließlich in der Kultusgemeinde angestellt. Bis in diesen Herbst 1942 sind die Lusters durch den väterlichen Arbeitsausweis geschützt.

Und hinter ihnen liegen die Gräuel der eigenen Deportation. Von der Sammelstelle in der »Kleine Sperlgasse« – Leos ehemaliger Schule – werden die Lusters und viele weitere zum Aspangbahnhof gebracht. Auf offenen Lastautos. »Österreicher sahen zu, spotteten und beschimpften uns.« Leo erlebt diese Fahrt als ein »letztes Ausgestellt-Sein«, als Erniedrigung, als tief eingenarbte Momente, die nicht entschuldbar sind. 

Leo besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft, und die israelische. Als Österreicher hat er sich schon als kleiner Bub nicht gefühlt. Sondern als Jude in Österreich. »Die Österreicher haben uns immer das Gefühl gegeben, nicht dazu zu gehören.« Zur Heimat wird ihm Israel, grauenvolle Jahre später.
Bei der Ankunft in Theresienstadt wird die Familie getrennt. Leo kann die erste Zeit – bis er in den Jugendtrakt kommt – noch mit  seinem Vater wohnen. Der schon in Wien »reif und alt« gewordene 15-jährige muss schwer arbeiten. Aber er hat großes Glück, er wird zur Küchenarbeit zugeteilt. »Ab 2 Uhr früh hab ich einen riesigen Kessel geheizt und dann Essen gekocht. Ich hatte genug zu essen und konnte den Eltern meine Essenskarte geben.« – »Ich habe es gut erwischt«, sagt er in trockenem Tonfall. Die mürben Augen lassen die Qual des Gesehenen erahnen. Etwa, wenn er von den tausend Kindern spricht, die eines Tages vor das Lager gekommen sind. »Wahrscheinlich aus Litauen, genau erinnere ich mich nicht mehr.« Es geht das Gerücht durch das Ghetto, dass diese Kinder gegen gefangene Wehrmachtssoldaten eingetauscht werden sollten. Und dann? Der Deal platzt. Die Kinder sind plötzlich wieder weg. Heute weiß Leo, dass sie alle sofort nach der Ankunft in Auschwitz vergast wurden. »Kinder«. Müde schüttelt er den Kopf. »Kinder«.

Immer wieder werden Transporte Richtung Osten zusammen gestellt. »Jeder«, sagt Leo »hat versucht, aus dem Ghetto rauszukommen.« Ende September 1944 heißt es für Vater und Sohn – die Mutter bleibt im Ghetto: »Ihr fahrt zur Arbeit«. Keiner weiß wohin. Nach zweieinhalb Tagen erreicht der Transport Auschwitz-Birkenau. »Wir wussten damals aber nicht, was das bedeutet.« KZ Auschwitz. »Arbeit macht frei« steht über dem Tor. Der Vater überlebt die Selektion nicht. Er wird sofort vergast. Moses Luster wurde nur 53 Jahre alt.

»Ich wollte sofort weg von diesem Lager« sagt Leo. »Ich  musste weg.« Er meldet sich für alle ausgerufene Arbeiten. Tischler, Elektriker, Mechaniker. Endlich werden er und vier Freunde als Schlosser genommen. Sie erhalten Nummern am Unterarm. Leos Nummer lautet B11647.
Die jungen Männer werden ins Außenlager Gleiwitz in Oberschlesien gebracht. In einer großen zugigen Halle schweißt Leo Eisenteile zueinander. In dünner Sträflingskleidung, im Winter. Er repariert Eisenbahnwaggons.  Es ist Schwerstarbeit. Tagschicht, Nachtschicht. Der Lohn ist ein halbes Stück Brot und etwas Blutwurst. »Ich hatte immer Angst um mein Essen. Einer hat dem anderen das Essen gestohlen.«

Eine dreiviertel Stunde dauert der Fußmarsch von der Arbeit ins Lager. »Oft hat uns der Lagerführer, auch er ein Österreicher, noch schikaniert. Wir mussten am Appellplatz stehen, stundenlang, uns im Schnee wühlen, oder Sport machen.« Ende Jänner 1945 rückt die Rote Armee näher. Das KZ Gleiwitz wird aufgelöst, seine Insassen auf einen Todesmarsch geschickt.

Barfuss, im Schnee, rund 50 Kilometer pro Tag. »In der Nacht hat man uns irgendwo in Lagern untergestellt, tatsächlich untergestellt. Wir konnten nur nebeneinander stehen.« Links und rechts bleiben die Menschen liegen. Wer niederfällt, wird erschossen. Nach drei Tagen landet die Gruppe im Lager Blechammer. Leo und seine Freunde werden in einem Magazin untergebracht, ein Magazin vollgestopft mit Sodaflaschen. Am nächsten Morgen entschließen sich viele, zu Tode erschöpft, nicht mehr zum Appell anzutreten. Man könne schließlich auch hier sterben, nicht irgendwo am Wegesrand. Die SS-ler schießen in die Baracken, legen Feuer. Wer vor den Flammen flüchtet, wird von MG-Salven umgemäht. Leos Rettung sind die Sodaflaschen, er kann das Feuer löschen.

Nach zwei, drei Tagen wagen sich die Freunde aus dem Magazin. Der Hunger treibt sie. Auch andere sind noch im Lager, aber scheinbar keine Nazis mehr. Sie brechen ein weiteres Magazin auf und finden Brot. Plötzlich steht ein SS-Mann vor ihnen und schießt um sich. »Ich weiß nicht, wie ich das überlebt habe. Ich habe mich einfach nur auf einen großen Menschenhaufen geworfen.« Nach der letzten Patrone rennt der Mann davon. Leo nimmt das Brot. Und wird von zwei Häftlingen überfallen. »Es war ein Kampf ums nackte Überleben. Sie oder ich.« – »Ich habe Menschen gesehen, die das Fleisch ihrer eigenen Toten gegessen haben.«

Mit seinem Freund Walter Fantl-Brumlick stiehlt er sich aus dem Lager. Ohne Ziel. Nur weg. Sie wissen nicht, wo sie sind. Rings um sie tiefer Wald. Dann ein Motorengeräusch. Es kommt näher. Kommen die Nazis zurück? Aber es sind keine Opel-Autos, keine Mercedes-LKW. An den Vorderseiten prangt ein roter Stern. Es sind GMC, die der Roten Armee von den Amerikanern zur Verfügung gestellt wurden. Die Russen sind da. Die Befreier sind da. Der Kommandant der Truppe nimmt die beiden in den Arm. Er spricht jiddisch. »Auch ich bin Jude.«

Nach der Rettung vor den Nazi-Schergen, nach dem Überlebenskampf in Auschwitz und Gleiwitz, nach dem Todesmarsch, dem Feuer, den Kugeln, dem Hunger ... nach dem wundersamen Wiederfinden der Mutter in Theresienstadt, nach diesem so undenkbaren Entkommen aus der Shoa, zieht es Leo »fast magisch« nach Wien. Er trifft Grisha, einen russischen Offizier, erzählt diesem von der Wohnung in der Schreygasse, in der die Eltern zwanzig Jahre gelebt haben, und vom Hausmeister – und Grisha sagt: »Lass mich das nur machen.« Leo: »Grisha hat die Sache schön erledigt. Der Hausmeister wurde nach Sibirien geschickt.«

März 2008: Leo hat zwei Kinder, zwei Enkerl, seine liebende und geliebte Frau Shoshana. Mutter Golda starb im Alter von 88 Jahren. Leo, der Bub aus Leopoldstadt, hat Frieden mit seiner Lebensgeschichte gefunden. Ein großes Geschenk, wie er sagt. In Israel hat er 14 Jahre lang in der Verwaltung eines Spitals gearbeitet, schließlich 29 Jahre in der österreichischen Botschaft als Mädchen für alles.

Er begrüßt uns – eine Gruppe von Schülern, Studenten und dem Team von »A Letter To The Stars« – in seinem gemütlichen Wohnzimmer in Tel Aviv. »Ihr habt doch schon so viel von den schlechten Sachen gehört. Lasst uns zuerst essen und trinken.« Wir plaudern über Wien, Österreich, Israel, die Politik, Gemeinsames und Trennendes. Nach dem Kaffee beginnt er zu erzählen: »Ich war elf Jahre alt, als Hitler in Wien einmarschiert ist ...«

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