Die letzten Zeugen - Das Buc

ANNA FLIESER


 
 

ANNA FLIESER

geb. 1917-03-05


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Anna Flieser (Name auf Wunsch der Überlebenden geändert) wurde am 5.3.1917 in Wien geboren. Sie wurde 1942 zunächst in das KZ Theresienstadt deportiert, danach kam sie nach Auschwitz-Birkenau, wo sie, nur 44 Kilo wiegend, befreit wurde. Sie kehrte nach Österreich zurück und lebt heute in einem Altersheim.

"Ich habe meinen Gott in Auschwitz-Birkenau verloren ..."

Die Schülerin Lilli R. traff Anna Flieser in Wien und befragte sie zu ihrer Vergangenheit.

Ich mach das kurz, ja? Ich heiße Anna Flieser, bin am 5. 3. 1917 geboren, 5. März 17. Na, sag mir weiter, was hast du noch?

Können Sie mir etwas über Ihre Kindheit, Ihre Familie und Ihre Schulzeit erzählen?
Schulzeit auch? Ist das so wichtig? Ich habe Volks- und Bürgerschule und zwei Jahre Handelsschule. Aber ist das so wichtig, die Schulbildung? Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen, vom 6. Lebensjahr bis zum 17. Das kannst du schreiben. Meine Eltern, die sind tot, das vergiss, ja? Im Waisenhaus, in Prag. Von Beruf war ich Kontoristin, sagte man damals, Bürokraft heißt das heute.

Was war so 1934, als Sie 17 jahre alt waren?
Über die 34er Revolution kann ich dir nichts sagen, da war ich noch in Prag. Ich weiß, zwischen den Roten und den Schwarzen hat es Kämpfe gegeben. Ich bin erst 1936 gekommen. 1934 war ich noch im Waisenhaus in Prag. Hier in der Bauernfeldgasse war ich auch ein halbes Jahr, hier war damals das jüdische Waisenhaus.

War Ihre Familie aus Prag?
Nein, mein Vater war Pole und ist zehn Tage vor meiner Geburt gestorben. Meine Mutter war aus Tschechien. Aber sie musste damals
arbeiten gehen, damals hat es diese ganzen Institutionen nicht gegeben. Da musste sie mich weggeben.

Was war dann ab 1938, nach dem Einmarsch von Hitler und den Nazis?
Da kann ich dir schon einiges erzählen. Ich war am 5. März 21 und am 13. März sind sie einmarschiert. Was soll ich jetzt dazu sagen?
Ich habe 1938 in einer Buchdruckerei als Bürokraft gearbeitet und dort wurde ich Ende 1938 hinausgeschmissen, also nicht gekündigt, sondern rausgeschmissen, ohne Geld, ohne alles und meine Vermieterin – ich habe in Untermiete gewohnt – die hat mir auch die Koffer vor die Tür gestellt. Geld habe ich keins mehr bekommen, mein Sparbuch war gesperrt. Ich bin dagestanden mit gar nichts, ich war ganze 21 Jahre alt. Ich war selbstmordfällig damals.
Da bin ich durch den 9. Bezirk durch die Türkenstraße gegangen und da habe ich oben an einem Haus eine Überschrift gesehen: „Jüdische Pension sucht jüdisches Dienstmädchen.“ Und da bin ich hineingegangen und zum Glück habe ich die Stellung bekommen, aber nur gegen Kost und Quartier – ohne Geld. Also, in den Jahren von 1938 bis 1945 habe ich keinen einzigen Groschen verdient, nirgends. Dort war ich bis 1942.
1942 wurde die Wohnung ausgehoben und wir wurden deportiert. Die alte Frau Hirsch, sie war damals schon 85, die hat sich sofort das
Leben genommen, sie hat auch immer gesagt: „Mich wird man nicht deportieren.“ Wir haben es an dem Mandelgeruch gemerkt. Als die SS die Tür geöffnet hat, war sie schon tot.
Der alte Herr Pollack war auch schon über 80, der ist noch aufs Auto draufgekommen, aber oben hat er dann einen Herzschlag erlitten. Die Frau Freistadt, die Inhaberin der Wohnung, die wurde nach Theresienstadt deportiert und ist nach drei oder vier Tagen auch gestorben. Also ich war die einzige Überlebende aus dieser Wohnung.
Die Wohnung hat dann die Hausmeisterin bekommen. Sie hat uns wahrscheinlich auch deportieren lassen. Das war nämlich eine Einzelaktion. Nur zwei Familien von fünf oder sechs Familien wurden von dort deportiert. Deswegen glaube ich, das waren Einzelaktionen, weil die Hausmeisterin auf die Wohnung scharf war. Nach dem Krieg war ich dort und die ist auch dort gesessen, in der Wohnung.

Was haben Sie zu ihr gesagt,haben Sie nicht Lust gehabt, ihr etwas anzutun?
Nein, stell dir vor, ich habe sogar geschwiegen. Ich habe zu ihr nur gesagt: „Hören Sie, ich werde Sie nicht anzeigen, weil ich gehöre nicht zu diesen Menschen, ich heiße nicht Liegler“, sie hieß nämlich Liegler, „aber Sie werden Ihre Strafe bekommen, davon bin ich überzeugt“. Und sie hat sie auch bekommen, sie wurde schwer krebskrank und hat zwei Jahre gelitten.
Die Wohnung war tipptopp eingerichtet, so, wie sie früher war, sie hat nur die Vorzimmerkästen herausgenommen. Ein Bechstein-Flügel,
Angelika Kaufmann-Bilder, die Teppiche waren Perser, die Wohnung war wunderschön eingerichtet. Alles, alles hat sie gelassen, und auf der Kommode hatte sie meine Fotografie in einem silbernen Rahmen, mit Blumen davor. Da habe ich gesagt: „Haben Sie schon einen Altar aufgebaut, ein bisschen zu verfrüht, oder?“. Sie war sehr verlegen und da sagte ich ihr: „Ich hab’s Ihnen gesagt, Frau Liegler, wenn Sie mich nicht umbringen, komm ich zurück!“ Und deswegen bin ich auch zurückgekommen. Ich wurde zusammen mit Frau Freistadt deportiert nach Theresienstadt. Hast du noch eine Zwischenfrage?

Sind Sie von der Gestapo verhaftet worden?
Nein, ich bin nicht vorgeführt worden. Wir sind deportiert worden. Das war damals so mit Sanktionen, man hat große Geschichten gemacht,
aber das wisst ihr alles, das habt ihr doch schon gelernt, was da alles vorgekommen ist. Soll ich ’s trotzdem sagen?

Ja.
Zum Teil hat man Vorladungen bekommen, dass man sich in dem Heim, in der Großen Sperlgasse glaube ich, stellen soll, mit 15 Kilo Gepäck und den Dokumenten und Schmuck und Geld usw. Aber uns hat man direkt geholt. Meine Chefin, die Frau Freistadt, sie war auch schon hoch über 70, der hatte ich schon einen Koffer vorbereitet mit allem, was man so braucht, Bettwäsche und Tageswäsche usw., weil sie schon alt war und ich hab geschaut, dass ich nur das Neueste einpacke. Stell dir vor, sie hatte noch aus ihrer Jugendzeit ihre ganze Ausstattung, aus einem guten Material.
Sie war aber so verwirrt und so aufgeregt, dass sie nicht die Koffer genommen hat, sondern ein paar Regenschirme und Stöcke hat sie mitgenommen. Aber es hätte auch nichts geholfen, weil man in Theresienstadt eh allen alles weggenommen hat.

Hat man das in Wien gewusst, was nach dem Transport passiert?
Über Theresienstadt schon. Theresienstadt war nicht so hermetisch abgeschlossen. Wir haben aber trotzdem nichts gewusst. Wir haben Karten aus Auschwitz bekommen und haben gedacht, naja, das ist ein Arbeitslager, sie arbeiten, sie verdienen, dabei waren es schon Tote. Jedes Mal, wenn ein jüdischer Transport vergast wurde, hat man Karten geschrieben. Und wenn die Karten angekommen sind, waren sie
schon längst tot. Ich werde immer wieder abschweifen, aber das ist das Leben.

Waren Sie alleine oder ist auch Ihre Familie abtransportiert worden?
Nein nein, das war eines der positiven Ereignisse für mich, ich war allein, und das habe ich auch nach dem Krieg hier gespürt. Im Tempel habe ich gesehen, dass der ganze Tempel geweint hat. Ich hatte niemanden, um den ich zu weinen hatte. Ich wollte damit sagen, ich war seinerzeit sehr unglücklich, dass ich allein war. Das ist kein gutes Gefühl. In der Schule sind wir auch separat gesessen. Aber nach dem Krieg habe ich mir gedacht, ein einziger Vorzug, ich brauche um niemanden weinen. Ich war allein, ja.

Das Lager Theresienstadt ...?
Ja, das werde ich dir erzählen. Ich bin nach Theresienstadt gekommen, da hat man mir alles weg genommen. Es gab dort auch Zuckerkranke und Magenkranke. Zuckerkranke waren auf Insulin angewiesen, das hat man ihnen weg genommen. Da gab es furchtbare Anfälle, doch sie sind dort gesund geworden, weil sie nichts zu essen bekommen haben.
Das Essen war eine Wassersuppe mit zwei, drei Erdäpfeln in der Schale gekocht, das war das Mittagessen – und ein Viertel Brot, aber von dem Brot war schon die Hälfte weg, weil dort in Theresienstadt hat man vom Stehlen gelebt. Die Währung war nicht Geld, sondern man hat gestohlen oder man hat getauscht, Tauschware. Für die ganze Woche hat man einen Löffel Zucker bekommen oder einen Löffel Marmelade und ein Deka oder zwei Deka Margarine, von der hat aber auch schon gefehlt. Das war für die ganze Woche. Das war die Menage.
Ich war eine Zeit lang im Krankenrevier und musste dort alte Menschen pflegen. Man nannte es Pflege, aber diese alten Menschen sind leider in ihrem eigenen Kot erstickt. Und wir mussten sie putzen mit alten Fetzen, mit kaltem Wasser, ohne Seife, ohne Desinfektion, ohne alles.
Natürlich bin ich krank geworden, eine schwere Infektion, Typhus, und da habe ich innerhalb von einigen Monaten 30 Kilo abgenommen. Ich wurde mit 92 Kilo deportiert und 1945 hatte ich 44 oder 45 Kilo.

Hat man in Theresienstadt gearbeitet?
In Theresienstadt konnte man, wenn man jung war, und ich war damals jung, 23 oder 24 war ich, arbeiten. Ich habe eine Zeit lang in der Tischlerei gearbeitet, da habe ich die Bretter zur Säge hingehalten. Für mich allein habe ich zum Beispiel in Kasernen (in Theresienstadt waren drei große Kasernen) aufgewaschen und dafür habe ich eine Scheibe Brot bekommen. Die Hälfte habe ich ohnehin nicht bekommen,
weil alle zu hungrig waren – aber für das bisschen Brot, das ich hatte, habe ich wieder eingetauscht. Es war alles auf Tauschware eingestellt dort. Dann habe ich mich spezialisert auf Trench- coat-Mäntel waschen, mit einer Bürste.
Ich weiss gar nicht mehr, wie das gekommen ist – ich hatte ja nur das, was ich am Körper hatte – aber durch diese Tauschware hat man sich ein bisschen etwas verdient. Die tschechischen Juden bekamen noch Pakete, die durften sie noch haben. Wenn man da etwas erwischt hat, im Tausch, ist es einem besser gegangen. Aber im allgemeinen hat man sehr gehungert und Menschen über 60 sind
alle zugrunde gegangen. Sie sind auf dem bloßen Boden gelegen, ohne Decken, ohne alles, sie sind in ihrem eigenen
Kot zugrunde gegangen. Es war ganz schrecklich. Ich habe ja wie gesagt dort gearbeitet und bin dort selbst schwer krank geworden.
Man hat ja damals gesagt, „Hitler schenkt den Juden eine Stadt“, aber in Wahrheit war es ein Potemkinsches Dorf. Weißt du, wer Potemkin war?

Nein.
Potemkin war ein Minister bei der großen Zarin von Russland. Er ist mit ihr durch das Land gefahren und die Bauten hatten alle nur die Vorderseite. Sie waren nicht eingerichtet. Er hat sie getäuscht. Sie dachte, wer weiß, was ihr Bautenminister da für Häuser gebaut hat, dabei
waren sie alle leer – sie hatten nur Vorderseiten. Theresienstadt war auch so ein potemkisches Dorf.
Man hat Filme gemacht mit Menschen, die gerade angekommen sind und noch nicht gezeichnet waren vom Elend. Man hat für das Rote
Kreuz einen Film gemacht. Es gab ein Kaffeehaus, dort hat man nur schwarze Brühe bekommen, sonst gar nichts. Es gab sogar Ghetto-Geld mit Moses mit den Gesetzestafeln drauf; leider habe ich nichts nichts aufheben und durch Auschwitz bringen können.
Sie haben die ganze Welt getäuscht oder täuschen wollen. Vielleicht haben sie die Welt auch nicht getäuscht, ich weiß es nicht, ich
kann das nicht beurteilen. Es war eine absurde Situation, die Leute waren alle hungrig – du kannst dir vorstellen, wenn ich über 30 Kilo abgenommen habe – es waren 60 000 Juden auf wenigen Kilometern. Also, das war Theresienstadt – in Wahrheit nur die Einführung sozusagen für Auschwitz. Man hat das gemacht, um die Alten dort zugrunde gehen zu lassen. Man hat die Leute schon gesiebt. Laut den Statuten und laut den Matrikeln, die sie mitbekommen haben, haben sie das gemacht.
Eines schönen Tages bin ich auch deportiert worden. Nach Auschwitz. Hast du noch irgendwelche Fragen?

Wo haben die Gefangenen geschlafen?
Die Alten auf der Erde. Wenn man sich mit Brot eine Decke kaufen konnte, hat man auf der Decke geschlafen. Aber in den kleinen Bauten
hat es Holzbetten gegeben, 3-Stufen-Betten, mit Strohsäcken. Decken und Pölster haben wir auch nicht gehabt, das hat man sich allein
„organisieren“ müssen. So hat man das genannt dort – organisieren.

Wann sind Sie von Theresienstadt nach Auschwitz gebracht worden?
Ich weiß nicht, ich habe den Zeitbegriff dort verloren. Wenn Schnee war, wusste ich, es war Winter. Mich wundert, wenn die Leute so genaue
Zeiten angeben können. Ich habe das nie gewusst. Ich hatte überhaupt keinen Zeitbegriff mehr. Eines weiß ich noch, ich bin im Mai nach
Birkenau gekommen.

Das Lager Auschwitz ...
Birkenau und das Nebenlager, das Zigeunerlager, waren ausgesprochene Vernichtungslager. Dort war man maximal vier Monate. Ich war viereinhalb Monate. Dort ist nach vier Monaten vernichtet worden. Das ganze Lager. Wir waren zum Schluss das einzige Lager, das
auf Arbeit herausgekommen ist.
Zwischendurch war ich bei Mengele, zwei Mal. Er hat auch Versuche mit Zwillingen gemacht und meine Hand hat ihn auch interessiert. Das ist zuviel, um das zu schildern. Also, ich war zwei Mal dort und ich habe nie gewusst, ob ich wieder herauskomme. Man ist nur so lange wieder herausgekommen, so lange er noch Interesse hatte. Ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte nur den Kopf rühren. Ich weiß bis heute nicht, war es die Aufregung oder war es das Mittel, das er mir gespritzt hatte. Er hat mir in den Rücken Injektionen gegeben. Das war Todesangst. Ich weiß nicht, wie lang ich da gelegen bin. Von ihm ist man sehr selten lebend herausgekommen. Ein Mal ist es mir gelungen, mich zu verstecken. Aber zwei Mal war ich bei ihm. Das ist ein Kapitel für sich.
Seid ihr irgendwie orientiert worden über Auschwitz? Im Geschichtsunterricht, du hast doch Geschichte, oder?

Das ist jetzt unser Thema in Deutsch.
Hat man euch früher informiert über Auschwitz, über Theresienstadt, über Mengele? Das ist ein Thema der Geschichte.

Unsere Lehrerin möchte eine Fahrt nach Mauthausen machen.Voriges Jahr gab es ein Projekt über den 2.Weltkrieg,daran habe ich aber nicht teilgenommen.
Naja, in Mauthausen hatte man noch eher eine Gelegenheit zu überleben als in Auschwitz, wenn man nicht über die Stiegen hinuntergeschickt wurde. Weißt du, wer Mengele war? Hast du einmal gehört davon?

Eigentlich nicht.
Wie alt bist du?

Dreizehn.
Da musst du noch nicht die grausamsten Ereignisse hören.

Waren Männer,Frauen und Kinder zusammen?
Nein, Kinder sind ja vergast worden, die sind ja gar nicht hineingekommen – bis 13 Jahre ist alles zugrunde gegangen. Kinder hatten nur eine Chance, wenn sie sich älter machen konnten. Die kleinen Kinder wurden sofort vergast. Sie sind mit den Alten separat weggeführt worden und man hat sie alle vernichtet. So sind eineinhalb Millionen Kinder zugrunde gegangen.

Gab es nur Juden oder auch andere Gefangene?
In Auschwitz hat es alle möglichen Gefangenen gegeben, Politische, Kriminelle, Homo-sexuelle, verschiedene Gruppen. Jede Gruppe war gezeichnet mit einem Dreieck in verschiedenen Farben. Wir, die Juden, waren nur in einem Lager, in Birkenau, es war ein ausgesprochenes
Vernichtungslager. Keiner hat über vier Monate überlebt. Die Zigeuner auch.

Die anderen, die Politischen und die Kriminellen?
Die hatten den Vorteil, dass sie auf Gerichtsbeschluss im Lager waren. Sie konnten sich auf einen Freilassungstermin freuen. Sie wurden freigelassen – auch nicht alle – Kommunisten blieben. Man konnte eigentlich keine Regel aufstellen. Wir bekamen keine Gefangenenkleidung. Wir haben unsere Kleidung behalten dürfen, da man wusste, dass man nach vier Monaten vergast wird. Nach vier Monaten sind 3000 auf Arbeit gekommen, den Rest, 8000, hat man vernichtet.
Ich bin ins FKL (Frauen-Konzentrationslager Auschwitz) gekommen und dort war es sehr schlimm. Dort haben wir schon andere Kleidung
bekommen. Ich weiß nicht mehr, wie ich vom jüdischen Lager ins Frauenlager gekommen bin. Da habe ich eine richtige Amnesie. Ich habe dort eine Bekannte getroffen. Mein Bruder war verheiratet mit einer Witwe mit zwei Kindern und die Lizzi hat mich dort gefunden und mir ein paar Stück Klopapier und ein Stück Brot in die Hand gedrückt. Sie war bei der „Kanada“ – das war die Organisation, die die Kleidung, und alles, was man mitgebracht hat, sortiert haben. Gold und Schmuck ist zuerst abgeliefert worden, bei der SS und das andere weiß man ...
Man hat die Haare geschnitten und gynäkologische Untersuchungen gemacht. Es war ganz schlimm.

Hat man in Wien 1942,als Sie deportiert wurden, gewusst,was in Auschwitz passiert?
Nein, es war ein hermetisch abgeschlossenes System. Nicht einmal die Eisenbahner durften bis nach Auschwitz fahren. Nur bis Bohuschowice, eine Station vor Auschwitz. Aber trotzdem hat ganz Polen es gewusst. Und die Eisenbahner. Ich hatte eine christliche Freundin, mit der ich über 30 Jahre verbunden war, mit ihr und ihrem Mann. Er war Eisenbahner, und er hat schon etwas gewusst. Aber ich verstehe, dass man Auschwitz in seiner Form nicht allgemein gekannt hat. Das war wirklich geheim.

Was haben die Menschen hier gedacht, wohin die Juden verschwunden sind?
Naja, man hat ja gesehen, dass Menschen aus ihren Wohnungen mit einem kleinen Koffer verschleppt wurden. Da hätte man sich denken können, dass das kein gutes Ende nimmt. Offiziell hieß es aber, die Juden kommen in den Osten in Arbeitslager. Und das haben wir ja auch am Anfang geglaubt.

Gab es am Shabbat heimliche Gottesdienste?
Es gab welche, aber das waren nur Einzelfälle. Es gab keinen Gottesdienst. Aber einzelne Fromme haben für sich gebetet.

Gab es einen Arzt?
Nein. Es gab zwar einen – aber den hat man gut bezahlen müssen, mit Brot und Lebensmitteln. In Theresienstadt hatte ich doch den Typhus, wochenlang, mit 40 Grad Celsius Fieber usw., da habe ich das Medikament Tannalbin gebraucht. Für zwei Stück Tannalbin musste ich zwei Portionen Brot hergeben – für zwei Tabletten! Es war alles Bestechung. Es gab kein Geld, alles nur für Lebensmittel.

Es gab aber doch auch unter den Gefangenen Ärzte.
Ja, da hatte ich einzelne Erlebnisse, die ich auch nicht sagen möchte. Ein Mensch hat dort so viel gegolten wie eine Wanze. Du weißt, was
eine Wanze ist! So viel war ein Mensch dort wert, ein Jude war so viel wert wie eine Wanze, dass man sie vernichtet. Mengele war so ein Vernichter. Leider hat man ihn nie erwischt. Man hat ihn gesucht.

Hat man im Lager gewusst, dass andere Insassen umgebracht wurden?
Das hat man allgemein gewusst. Man hat nur vom Vernichtungslager Birkenau gesprochen. Das Vergasen war kein Problem, aber mit den
Leichen sind sie nicht fertig geworden. Die Öfen wurden zu klein, da haben sie dann wie in Indien Scheiterhaufen aufgebaut und die Toten
öffentlich verbrannt. Mit der Asche haben die ihre Gärten gedüngt.

Wie sind Sie dem Tod entkommen?
Zufall!
Der letzte Transport, bei dem ich war, der wurde für den Arbeitsdienst vorgesehen, er war der einzige, der nicht vergast wurde. In den letzten Monaten haben sie schon Arbeiter gebraucht für Schanzengraben usw. Ich habe den Flugplatz betoniert, Ziegel geschleppt, Säcke mit 50 Kilo musste ich schleppen, dadurch habe ich heute eine kaputte Wirbelsäule.

Wann und wie sind Sie befreit worden?
Von Auschwitz sind wir also auf Arbeitslager gekommen, durch Ostpreußen und halb Deutschland. Gelandet bin ich letzten Endes in Polen in Neustadt an der Lublin. Dort war nur ein großer Gutshof, eine riesige Wiese, auf der waren Zelte aufgebaut, aber nicht zusammenhängend,
so dass der Regen durchkommen konnte.
Um 3 Uhr früh hat man uns hinausgeschleppt im Regen, im Schnee und um 8 Uhr am Abend hat man uns zurückgebracht. Wir mussten mit Schaufeln und Krampen Schanzen graben für die Panzerfallen – drei Meter tief und abgeschrägt. Da das dreieinhalb Meter hoch war, war zwischendurch immer eine Stufe. Da stand dann eine, die musste die restliche Erde hinaufschaufeln. Aber zum Schluss war das schon zu hoch. Da hatte ich den Einfall, unten mehr auszuheben, zwei, drei Spaten, und dann konnte man den Rest von oben hinunterwerfen. So war unsere Gruppe immer als erste fertig und dafür haben wir manchmal noch einen Teller Suppe bekommen.
Es war schon sehr schlimm. Niemand hatte mehr Schuhe. Ich will das nicht einmal erzählen, wie schlimm das alles war. 15, 16 Grad unter Null, wir hatten nichts anzuziehen und ein Mal in der Woche haben sie in den Speisekesseln Wasser heiß gemacht, damit sich die Leute
warm waschen konnten. Ich habe mich nie warm gewaschen, ich habe mich nur mit Schnee gewaschen und ich habe nicht einmal eine Frostbeule davongetragen, nicht eine einzige. Durch den kalten Schnee wird einem sehr warm dann.
Zum Schluss haben wir drei Monate lang nicht einmal mehr Brot bekommen, nur diese Suppe, und die war auch kalt. Wir waren nur Frauen, und alle aus Auschwitz. Die Zelte waren für 30 und wir waren 50 drinnen. Wenn eine ausgetreten ist, konnte sie nicht mehr zurück. Auf dem Boden lag Stroh, unten kam der Schnee durch, und da haben die Frauen ihre Notdurft verrichtet. Das hat man dann durchgeschaufelt, bis man im Dreck erstickt ist.
Befreit wurde ich am 21. Januar 1945, von den Russen. Von den Russen haben wir aber nichts bekommen.

Was haben sie dann mit euch gemacht?
Was wir uns selbst gemacht haben. Wir sind betteln gegangen. Aber die Polen waren sehr böse. Ich habe auf dem Marsch durch Polen sehr
schlechte Erfahrungen gemacht.

Wo seid ihr dann hin?
Die Russen haben das Lager aufgelöst und haben uns nach Nowenjaster geführt. Dort haben sie uns praktisch ausgesetzt, ohne alles, ohne Brot, gar nichts haben wir bekommen, mitten in Polen. Wir sind von einem Bauern zu anderen gegangen.
An dem Tag, an dem wir befreit wurden, habe ich, obwohl ich nicht gläubig bin – ich habe Gott in Auschwitz verloren – das Bedürfnis gehabt, irgendwie in einem Tempel zu sein. Tempel gab es natürlich keinen, aber es gab eine Kirche. Da dachte ich, ach was, Gotteshaus, da geh ich hinein. Denselben Gedanken, den ich hatte, hatten alle. Der Pfarrer war sehr lieb, er ist auf uns eingegangen und hat den Leuten gesagt, man soll uns helfen. Geholfen haben sie einen Schmarrn. Ein Bauer wollte, dass ich ihm helfe, Rhabarber auszugraben – gegen ein Stück Brot. Da habe ich gedacht, ich bin doch nicht verrückt, drei Stunden Rhabarber jäten für ein Stück Brot. „Kannst mich gern haben“, dachte
ich und ging weg.
Wir waren in einer ehemaligen Schule untergebracht. Da ist mir eingefallen, dass es dort Papier geben muss. Tatsächlich habe ich im Keller haufenweise Papier und Pappe gefunden. Dann habe ich mir Karten zurechtgeschnitten und Karten gelegt, für die Polen dort. Heute lache ich darüber, aber damals war das ernst, ich habe davon gelebt, was mir die Frauen zugetragen haben. Dass da ein Kind gestorben war oder jemand vermisst war. Manchmal sagte ich zu einer Frau: „Komisch, ich sehe da zwei Uniformen“ – es waren ja die Deutschen dagewesen
und die Russen. Dafür bekamen wir ein paar Kartoffeln, oder eine Handvoll Mehl, nicht viel, aber immerhin etwas. Es gab große Kessel, da haben wir Erdäpfelsuppen gekocht. Mit meinen Spielkarten habe ich gut verdient.
Wir konnten diesen Ort erst nach Kriegsende verlassen. Ich bin mit einer Kollegin losgegangen – sie war mit einem christlichen Mann verheiratet gewesen, der sich sofort von ihr scheiden ließ und ihr die Kinder wegnahm. Wir sind zusammen nach Wien gekommen und die Kinder sind sofort zur Mutter gekommen und haben den Vater verlassen.

Wie seid Ihr von dort nach Wien gekommen?
Zu Fuß – manchmal ein Stück mit dem Zug, das ist ein Kapitel für sich. Dort in Polen ist alle paar Monate einmal ein Zug gekommen. Da hat man alles stehengelassen und ist auf den Zug gesprungen. Wir sind gute 300 Kilometer zu Fuß gegangen. Was uns beiden sehr geschadet hat, war eine Propuska (ein Ausweis) von den Polen, auf der einen Seite auf polnisch, auf der anderen Seite auf russisch stand, dass wir Häftlinge auf dem Weg nach Hause sind, und überall stand Jude drauf. Das hat uns sehr geschadet. Wenn wir das nicht gehabt hätten, wären wir schneller heimgekommen.
Es war eine sehr lange Reise, viele Wochen. Aber ab der tschechischen Grenze ist es uns gut gegangen, ich spreche tschechisch und da konnte ich mich schon verständigen. In Tschechien habe ich ein Bad bekommen, das erste Mal bin ich in einem Bett gelegen – ich war so schmutzig, dass ich mir Schichten von der Haut herunterziehen konnte. Das erste Bad nach dem Krieg, das war echt schlimm. In Auschwitz hat man uns zwei Mal gestutzt auf Billard, das dritte Mal habe ich mir das selbst gemacht, weil mich die Läuse so gequält haben. Ich bin mit 3 cm langen Haaren in Wien angekommen. Und die waren rot!
Meine Freunde waren nicht da und da sagten die Mutter und die Großmutter: „Was will denn der Mann da?“ Sie haben mich nicht einmal erkannt. Ich war in Stoffstücke von den Russen eingewickelt, Fetzen um die Füße, weil wir natürlich keine Schuhe hatten ... einfach schlimm.

Sind Sie gleich nach Österreich zurückgekommen?
Ja, leider. Das muss ich sagen.

Wieso leider?
Ich habe keine guten Erfahrungen gemacht. Es war nicht das heutige Wien, es war ein ausgesprochen antijüdisches Klima. Sie wollten keine Juden haben. Schon beim Ankommen am Bahnhof, am Südbahnhof glaube ich, hat ein Wiener hinter uns hergesagt, da ist es ja wieder, das Judenpack! Ich hatte eine sogenannte Amtsbescheinigung als Jüdin, als Häftling. Die habe ich nicht einmal, wenn ich sie gebraucht hätte, hergezeigt, weil das hätte mir geschadet.
Die Anfänge waren sehr schwer. Anfang 1946 hat man im Rathaus Erdäpfel an Häftlinge verteilt – „jüdische Häftlinge kriegen nichts“. Wir haben damals noch drei Jahre gebraucht, bis man uns als politische Häftlinge überhaupt anerkannt hat. Die Stimmung damals war ausgesprochen antijüdisch.

Haben Sie in Wien Freunde gehabt?
Ich habe keine Freunde gehabt. Wir sind in die Kultusgemeinde in die Tempelgasse gegangen. Im Tempel war ein Büro, und dort sind wir untergekommen. Wie wir angekommen sind, hat man mich Rotkopferl gerufen, weil ich rote Haare hatte. Wir haben Erbsensuppe bekommen. Ganz Wien hat keine Erbsen mehr gegessen, weil die Erbsen voller Würmer waren. Drei Teller habe ich gegessen, so verhungert war ich.
Nach dem Krieg habe ich im Kaffeehaus beim Volkstheater, im kleinen, beim Bühneneingang, Fußboden gerieben für eine Portion Suppe, für ein Stückerl Brot. Ich habe bei Kindern aufgepasst, Dreck geputzt, alles habe ich gemacht, um in Wien zu überleben. Wir hatten gar keine Hilfe. Ich habe 1955 erst die Wohnung bekommen.
Zwischendurch war ich zwei Jahre in Israel. Das waren meine schönsten Jahre. Da habe ich mich frei gefühlt. Ich habe auch dort hart arbeiten müssen. Leider war ich blöd und habe nicht die Sprache gelernt, bevor ich hingefahren bin. Man ist zwar mit Deutsch und Englisch
ganz gut durchgekommen, aber ich hätte doch besser die Sprache lernen sollen. Ich habe in Israel am Bau gearbeitet. Aber ich konnte mich sechs Mal am Tag duschen, es war sehr heiß und feucht. Meine glücklichsten zwei Jahre waren das. Leider konnte ich nicht
bleiben, weil ich erkrankt bin.

Dann sind Sie wieder nach Wien gekommen?
Ja, leider. 1955 habe ich dann eine Gemeindewohnung zugeteilt bekommen auf dem Amt, in der Bartensteingasse damals. Was habe ich bekommen? Einen 23-Quadratmeter-Raum in einem furchtbaren Zustand, Klo kaputt, alles war kaputt ...

Vielen Dank für das Gespräch.

Lilli R., SchülerInnenschule WUK,Wien

Home > Die Letzten Zeugen > Anna Flieser