Die letzten Zeugen - Das Buc

T. SCARLETT EPSTEIN


 
 

T. SCARLETT
EPSTEIN

(früher Grünwald)
geb. 1922-07-13
lebt heute in Großbritannien


Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.

Sonja Kuba, Schülerin, ist als Botschafterin der Erinnerung im Oktober 2007 der Überlebenden Trude Scarlett Epstein in London begegnet.

Der Faschismus zwang mich über Nacht, erwachsen zu werden ...

Trude Scarlett-Epstein wurde am 13. 7. 1922 in Wien geboren. Im Juli 1938 konnte sie mit ihrer Mutter nach Jugoslawien und später weiter nach Albanien fliehen. Die Flucht endete schließlich in England, wo Trude Scarlett Epstein heute noch lebt.

„1938 lebten wir in Wien, wo wir, wie so viele andere jüdische Familien auch, unser Bestmögliches taten, um uns zu assimilieren. Mein Vater war Handelsreisender und meine Mama widmete ihr Leben aufopferungsvoll der Familie und besonders den drei Kindern. Otto war mein ältester Bruder und Kurt war das mittlere Kind.

Als jüngstes Kind und einzige Tochter war ich seit meiner Geburt 1922 der besondere Schatz meines Vaters.

Obwohl Antisemitismus bereits in den ersten acht Jahren nach meiner Geburt ein großes Thema in Wien war, erlebte ich zu dieser Zeit nie etwas davon – was ich auf die Tatsache zurückführe, dass wir in einem Bezirk wohnten, in dem großteils andere jüdische Familien lebten. Aber schon das erste Erlebnis zu erfahren, wie es ist, wie ein Außenseiter behandelt zu werden, war sehr traumatisch für mich. Es war 1931, als wir in den Karl Marx-Hof zogen. An meinem ersten Nachmittag in unserem neuen Haus wollte ich mit den anderen Kindern, die ich im Hof entdeckt hatte, spielen, doch sie streckten mir die Zunge heraus und beschimpften mich. Sie nannten mich „Saujüdin“. Diese unerwartete Feindschaft verletzte mich sehr, zumal ich mir nicht erklären konnte, was ich ihnen angetan hatte, das so eine Behandlung gerechtfertigt hätte.

In den darauf folgenden Jahren sollte ich auch herausfinden, dass ich selbst für die nichtjüdischen Mädchen und Jungen unter meinen engen Freunden immer eine Fremde bleiben würde. Für mein Alter war ich im Lesen und Rechnen vielen meiner Klassenkollegen weit voraus, weil ich der Meinung war, ich könnte sie dadurch zu mehr Akzeptanz mir gegenüber bewegen. Ein Unterfangen, das mir nie gelingen sollte, und irgendwann hörte ich auf, mir darüber den Kopf zu zerbrechen.

1934, als der Karl-Marx-Hof das Zentrum des nur ein paar Tage dauernden Bürgerkrieges wurde, hatte sich mein Bruder zwischen seiner politischen Überzeugung und der Verantwortung seiner Familie gegenüber zu entscheiden, zumal unser Vater im Ausland war. Ich erinnere mich nur allzu genau an die Nacht des 12. Februar, als Otto seinen Posten verließ, um bei uns zu sein. Aufgrund der politischen Spannung beschloss mein Bruder zu seinem Posten zurückzukehren.Unsere Mutter flehte ihn unter Tränen an, nicht zu gehen. Doch in diesem Moment siegte Ottos politische Loyalität über seine familiären Pflichten. Nur ein paar Minuten, nachdem er gegangen war, hörten wir die ersten Schüsse.

In diesem Moment waren wir drei, Mutter, Kurt und ich, uns sicher, dass es Otto war, dem die Schüsse gegolten hatten und der nun verletzt oder tot war. Wir saßen da und waren nicht fähig ein Wort zu sprechen, bis es an unserer Tür läutete und Otto hereinplatzte, der erkannt hatte, dass sein Vorhaben zu gefährlich war. Die nächsten Tage waren für uns alle schwierig. Glücklicherweise lag unsere Wohnung aber nicht im hartumkämpften Gebiet. Doch die Milizen, die durch die Straßen fuhren, eröffneten das Feuer, sobald sie ein Gesicht am Fenster sahen. Die Leichen ließen sie in den Straßen liegen, um die Freiheitskämpfer zum Aufgeben zu bewegen.

Der Ausgang des Bürgerkrieges brachte auch eine Zunahme von Antisemitismus mit sich. Ich fühlte mich, als ob ich nirgends hingehören würde. Im Sommer 1937 traf ich Willie, meinen ersten richtigen Freund. Er war gutaussehend und ebenfalls jüdisch. In den nächsten Monaten schwebte ich wie auf Wolken und genoss dieses Gefühl in vollen Zügen.

Aber all diese Pläne fanden ein abruptes Ende am 11. März 1938, als die deutschen Truppen einmarschierten und Österreich aufhörte, ein unabhängiger Staat zu sein. Als Willie sich weigerte, in der Sturm-Truppe zu kämpfen, schickte man ihn ins Konzentrationslager. Bis heute weiß ich nicht, was dort mit ihm geschehen ist. Die faschistische Regierung in Österreich

legalisierte und institutionalisierte den Antisemitismus. Alle österreichischen Juden, ob sie sich nun dazu bekannten oder nicht, waren ab sofort der öffentlichen Verfolgung ausgesetzt.

Nur kurz nach der Annektierung Österreichs hielt auch Hitler Einzug in Wien. An diesem Tag waren alle öffentlichen Verkehrsmittel frei, um sicher zu gehen, dass so viele Leute wie möglich zum Heldenplatz pilgern würden, um die Rede zu hören. Es war an diesem Tag, als Otto mich anhielt, als faschistisches Mädchen „verkleidet“ zur jugoslawischen Botschaft zu gehen, um Visa für unsere Familie zu beantragen, um dort unseren Vater zu treffen. Auf dem Weg dorthin mischte ich mich unter die Menge, die den Einzug Hitlers mit ausgestreckten Armen zum Nazi-Gruß und „Heil Hitler“-Rufen kommentierten.

Auch ich wurde von dieser Massen-Hysterie mitgerissen und schrie und streckte meine rechte Hand in die Luft. Hätte ich das nicht gemacht, wäre ich wahrscheinlich gelyncht worden, aber das war nicht der Grund, warum ich es tat – in diesem Moment verfiel ich dieser Massenbewegung. Als ich die jugoslawische Botschaft erreichte, fand ich den Botschafter dabei vor, wie dieser dabei war, selbst sein Hab und Gut zusammenzupacken. Doch er hielt einen Mitarbeiter an, sich um meine Belange zu kümmern. Es dauerte einige Monate, bis wir die Visa bekamen.

Inzwischen lauerten in Wien an jeder Ecke Gefahren für Juden. Aber im Glauben, verkleidet mit meiner faschistischen Uniform würde keiner die Jüdin in mir erkennen, wurde ich unvorsichtig. Ich ging zu den Plätzen, an denen ich sicher war, dass keiner mich persönlich kennen würde und von denen ich gehört hatte, dass dort grausame Pläne gegen die Juden geschmiedet wurden.

Ich sah, wie Hooligans eine Gruppe von orthodoxen Juden wie Tiere im Kreis hetzten und sie zwangen, dabei Wasserkübel auf dem Kopf zu balancieren, bis sie zusammenbrachen, was ihre Peiniger vollends amüsierte. Zutiefst geschockt von dieser Unmenschlichkeit erinnere ich mich aber gleichzeitig an diese unglaubliche Würde, die sich diese Juden trotz der Peinigungen durch ihre Folterer behalten hatten. Obwohl sie am Boden lagen, erschöpft und nass, erschienen sie mir, als ob sie dennoch über die erhaben wären, die über sie lachten.

Das war der Moment, in dem ich mir vornahm, dass, falls ich das Privileg haben würde, diese Zeit zu überleben, zu heiraten und Kinder zu bekommen, ich sie in diesem Sinne erziehen würde. Ich wollte ihnen den selben Stolz vermitteln, den ich in den Augen dieser orthodoxen Juden gesehen hatte. Sie sollten sich nicht fürchten müssen, ihren Glauben frei zu leben, so wie viele österreichische Juden es getan hatten, in dem Glauben, es sei die beste Möglichkeit, diese Zeit zu überleben. Der Faschismus zwang mich über Nacht erwachsen zu werden.

Als Otto im April 1938 nach England flüchtete, wurde ich zum Oberhaupt unserer Familie und organisierte unter ständiger Lebensgefahr Kurts Flucht nach Italien im Mai 1938. Im Juli 1938 war schließlich alles bereit für die Flucht von meiner Mutter und mir. Auf dem Weg zum Zug, der uns nach Jugoslawien bringen sollte, sah keiner von uns zurück auf den Ort, den wir zurückließen. Für uns beide war Wien inzwischen zum Gefängnis geworden. In Jugoslawien angekommen trafen wir Papa und Mamas Bruder.

Die Wiedervereinigung bedeutete für alle einen Höhepunkt, obwohl ich sie mir persönlich nach all der Anstrengung, welche die Organisation der Flucht mit sich gebracht hatte, zugegeben etwas spektakulärer vorgestellt hatte. In meiner kindlichen Naivität erwartete ich wohl einen Empfang, wie ich ihn beim Einmarsch Hitlers erlebt hatte. Und obwohl ich wusste, dass ich hätte glücklich sein sollen, weinte ich mich in dieser Nacht in den Schlaf.

Die Hochzeit unserer Wiedervereinigung sollte aber ohnehin nicht lange andauern. Papas Aufenthaltsgenehmigung in Jugoslawien sah vor, dass sein Aufenthalt immer wieder unterbrochen war von Reisen zurück nach Österreich. An ein Zurückkehren war nicht zu denken, und so forderten korrupte jugoslawische Beamte immer höhere Bestechungssummen, um zu gewährleisten, dass über unseren Aufenthalt Stillschweigen behalten wurde. Papa wurde schließlich aufgegriffen und unter Arrest gestellt. Mama und ich verblieben einstweilen illegal bei Mamas Schwester in Zagreb.

Ständig lebten wir in der Angst von der Polizei aufgegriffen zu werden. Wir engagierten einen Privatdetektiv, der Papas Transfer nach Zagreb organisieren sollte, nachdem wir ihn auf Kaution frei bekommen hatten. Die Polizei gewährte uns eine Gnadenfrist von einer Woche, bevor wir nach Österreich deportiert werden sollten, was der Überstellung in das nächste Konzentrationslager gleich gekommen wäre. So flüchteten wir nach Albanien, wo sich bereits ein paar jüdische Flüchtlinge zusammengefunden hatten. Mit ungefähr fünfzig anderen Juden lebten wir in einer Kommune.

Das Essen war knapp, aber ich konnte mich glücklich schätzen, da ich die Möglichkeit bekam,  albanischen Kindern Unterricht in Deutsch und Englisch zu geben. Das Leben in der Kommune verflog, jedoch nicht ohne ein paar lichte Momente. Doch wir alle wussten, dass unsere Tage in Albanien gezählt waren. Verzweifelt versuchte jeder, Visum und Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Im Januar 1939 schaffte es Otto, der nun seit über einem Jahr in England lebte, für Mama und mich ein englisches Visum zu bekommen. Eine Tatsache, die unseren Vater in eine tiefe Depression stürzen ließ. Und so zögerten wir unsere Abreise nach England so lange wie nur möglich hinaus, obwohl wir dadurch riskierten, alles zu verlieren. Im Februar 1939 bekam ich die Möglichkeit, einem italienischen Botschafter Deutsch beizubringen – eine Begebenheit, die uns das Leben retten sollte.

Kurz vor Ostern 1939 war Mussolini bereit, Albanien zu überrollen. Zusammengekauert in einem Keller warteten wir, bis das Feuergefecht, das sich die italienischen mit den albanischen Truppen lieferten, abflachte und mussten erkennen, dass die Italiener den Sieg davon getragen hatten. Es beschäftigte uns die Frage, was die Italiener wohl mit österreichischen Juden machen würden. Wir beschlossen, dem Feind ins Auge zu sehen und stellten uns unter weißer Flagge den Italienern. Da ich die Einzige unter uns war, die Italienisch sprach, fungierte ich als Dolmetscherin und übersetzte die italienischen Befehle. Gefragt nach unserer Herkunft erklärte ich, wir seien Flüchtlinge aus Deutschland, aber alles, was den Italienern zu ihrer Beruhigung genügte, war das Wort „deutsch“ – also hielt ich es für klüger, sie in diesem Glauben zu belassen. Was uns immerhin das Privileg einbrachte, in unser Haus zurückkehren zu dürfen. Wie sich herausstellte, war der italienische Botschafter, dem ich Deutsch-Unterricht gegeben hatte, nun zum italienischen Staatschef über Albanien avanciert.

Unter seinem Schutz war es uns möglich, weiterhin ungestört in der Kommune zu leben, bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir letztendlich unseren Weg nach London antraten. Die Trennung von Papa war hart – vielmehr belastete uns jedoch die Tatsache, dass unser Weg nach England durch Deutschland führte. Während der Stop in Frankfurt vergleichsweise glimpflich für uns über die Bühne ging, machte uns ein irländischer Steward, den ich während der Reise lieb gewonnen hatte, darauf aufmerksam, das uns in Köln wahrscheinlich anderes erwarten würde.

Leider bewahrheitete sich diese Vermutung, denn wir wurden in ein Büro beordert und mussten uns nackt ausziehen, während unsere Sachen peinlich genau durchsucht wurden. Wieder einmal war es der italienische Botschafter, der uns vor dem Konzentrationslager bewahrte. Denn sein Dokument, das uns die sichere Reise nach London garantieren sollte, machte so großen Eindruck auf die Nazis, dass sie uns nach dennoch endlosen Diskussionen die Ausreise genehmigten.

Nach dieser Odyssee in England angekommen, zeigten mir meine Brüder die Stadt, in der ich nun leben sollte. Unseren Weg kreuzte dabei eine kleine Gruppe von Demonstranten, die versuchten, sich mit Nazi-Parolen und Hakenkreuzen Gehör zu verschaffen.

Obwohl mein Bruder mich zu beruhigen versuchte, indem er meinte, diese Bewegung sei hier zu klein und würde keine Gefahr bedeuten, konnte ich mich dennoch einer Frage nicht erwehren: „Wann werden wir Juden endlich aufhören können, auf der Flucht zu sein?“


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