Liste der Ermordeten


Folgende Informationen sind von Irene Jerusalem verfügbar:

geboren am 10.09.1882 in Nikolsburg
letzte bekannte Wohnadresse
andere Wohnadresse(n)
Deportation von Wien nach Litzmannstadt am 23.10.1941
gestorben - Todesdatum unbekannt -
Die Recherche wurde von sabine, 14 Jahre, Grg.13,Wenzgasse 7, übernommen.

Die Lebensgeschichte und wie die Recherche verlaufen ist:

Irene Jerusalem wurde am 10. September 1882 in Nikolsburg geboren und war Österreicherin und daher in der NS-Zeit deutsche Staatsbürgerin. (Quelle 1)
Ihr Vater war -Prof. Wilhelm Jerusalem (1854-1923), ein weltbekannter und geschätzter in Österreich - zu spät – anerkannter Philosoph der Wiener Universität. (Quelle 2)
Ihr Bruder Jurist Dr. Erwin Jerusalem (geb. 27.4.1881) war Senatsvorsitzender und wohnte zusammen mit Irene Jerusalem in der Hietzinger Hauptstraße 34B. (1938) (Quelle 3) Sie lebte aber auch in der Auhofstraße 7a (Quelle 1, 4). Nach weiterem Recherchieren fanden wir heraus, dass das Haus zwei Eingänge hat (Hietzinger Hauptstraße 34B, Auhofstraße 7a). Dort lebte sie mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrem Neffen Dr. Hans Jerusalem. Sie hatte 4 Geschwister, wobei ihre zwei Schwestern schon früher gestorben sind. Ihr zweiter Bruder Edmond wanderte nach England und später nach Israel aus. (Quelle 9).
Sie war Professorin an der Schule Wenzgasse 7 (Mädchen-Lyzeum) Wien Hietzing. Dort begeisterte sie mehrere hundert Schülerinnen sowohl durch ihren Unterricht als auch durch ihre Güte. Manche waren schon allein nur von ihrem Namen fasziniert andere durch ihre äußere Erscheinung (bodenlanges schwarzes Kleid mit schwarzem Umhang und langer Silberkette mit Zwicker). (Quelle 5) Sie versuchte ihren Schülerinnen im Deutschunterricht nicht nur literarisches Wissen weiterzugeben, sondern auch ethische und soziale Empfindungen zu wecken. Irene Jerusalem schaffte es auch, ein soziales Hilfswerk „Settlement” für „gefallene Mädchen“, zu gründen. Anlass war eine sehr kostspielige Hilfsaktion in einem frühen kalten Winter, wo Schwalben nach Italien gebracht wurden, um sie vor dem Erfrieren zu retten. Irene Jerusalem war überzeugt, dass hilfsbedürftigen Mitmenschen genauso geholfen werden muss. Auch andere Mädchenschulen halfen mit und so konnten die Hilfesuchenden in ein Haus im 16. Wiener Gemeindebezirk einziehen. Irene Jerusalem war Leiterin dieses Projekts, bis es mit dem Einmarsch Hitlers 1938, zunichte gemacht wurde, weil es von Jüdinnen geleitet wurde. (Quelle 6, 9, 10)
Ihr zweites Unterrichtsfach war Französisch. Sie pflegte diese Sprache jedoch nicht nur in der Schule, sondern auch in ihrem Elternhaus.Irene Jerusalem ging 1937 in Frühpension. (Quelle 9)
Auch Irene Jerusalem sollte, wie viele andere, ihr Vermögen bewerten. Dies musste sie am 8. Juli 1938 durch Ausfüllen eines Formulars machen, in dem sie schrieb: Ich beziehe 412 RM (Reichsmark) Ruhegehalt im Monat. Ich erhalte zusätzlich von der staatlichen Angestelltenversicherung eine Rente von 136 RM monatlich. Da ich seit dem Jahre 1921 bis 1937 eine laufende Versicherung freiwillig weiter geführt habe. Sie hatte außerdem noch 2 kg Silber (Besteck,...) im Wert von 60 RM. Ihr gesamtes Vermögen mit Rücksicht auf ihr Lebensalter kapitalisiert hatte den Wert von 65 760 RM. (Quelle 1)
Im Jahr 1941 erhielt Irene Jerusalem eine Vorladung, wonach sie sich am 19. Oktober 1941 in der Volksschule Sperlgasse einzufinden hatte. Irene Jerusalem kam dieser Vorladung freiwillig nach, vielleicht aus Pflichtgefühl oder aus Angst der Familie könnte etwas passieren, wenn sie der Aufforderung nicht nachkäme. Ihr Neffe begleitete sie in die Sperlgasse und sah sie am diesem Tag zum letzten Mal. Sie hatte sich am Tage ihrer Deportation von ihrem Bruder in der Hietzinger Wohnung verabschiedet. (Quelle 9) Sie wurde am 23.10.1941 von Wien nach Litzmannstadt deportiert (Quelle 6)
Deportationen in das Ghetto Lodz/Litzmannstadt, Oktober/November 1941:Im Rahmen der im Herbst 1941 auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) durchgeführten Massendeportationen nach Lodz wurden insgesamt 20.000 Jüdinnen und Juden aus dem „Altreich", dem Gebiet Österreichs, dem „Protektorat Böhmen und Mähren" und Luxemburg sowie 5.000 österreichische Sinti und Roma deportiert. Zwischen dem 15. Oktober und 2. November 1941 trafen rund 5.000 jüdische Opfer aus Wien in Lodz ein. Über 78 Prozent von ihnen waren älter als 45 Jahre, über 41 Prozent älter als 60 und fast neun Prozent hatten bereits das 70. Lebensjahr überschritten; weit über die Hälfte waren Frauen.
Innerhalb weniger Wochen stieg die Sterblichkeit der Wiener Juden stark an. Bis zum Mai 1942 starben 771 an Hunger, Krankheit und Erschöpfung. Schon aufgrund ihres Alters wurden viele der Wiener Juden als "arbeitsunfähig" eingestuft und ab Mai 1942 nach Chelmno/Kulmhof transportiert, wo sie in mobilen Tötungseinrichtungen, den "Gaswagen", ermordet wurden. Bis zum Beginn des Sommers 1942 tötete die SS ungefähr die Hälfte aller Personen, die im Oktober/November 1941 aus Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren nach Lodz deportiert worden waren. Von den rund 5.000 Wiener Juden waren im Herbst 1942 nur noch 615 am Leben. Als das Ghetto in Lodz im August 1944 aufgelöst und alle Ghettoinsassen nach Auschwitz deportiert wurden, lebten noch ca. 300 bis 400 der Wiener Juden. Die Selektion in Auschwitz, die Zwangsarbeit in den verschiedenen Konzentrationslagern forderte weitere Opfer. Nur 34 der nach Lodz deportierten Wiener Juden haben die Befreiung erlebt. (Quelle 7)
Einmal, nachdem Irene Jerusalem deportiert worden war, kam eine Postkarte aus dem KZ, dass die Angehörigen Geld schicken sollen. Dies haben sie auch gemacht. (Quelle 9)
Irene Jerusalem war eine bemerkenswerte Frau und obwohl ihr sehr viel Leid zugefügt wurde, zeigte sie keinen Hass oder Verbitterung, sondern eine große Nächstenliebe!!! (Quelle 6)
Am 10.12.1980 fand um 15 Uhr in der Schule Wenzgasse eine Gedenkfeier statt, bei der in der Eingangshalle eine Erinnerungstafel angebracht wurde. (Quelle 8)
Dass eine Gedenktafel aufgehängt wurde, wurde vom Maturajahrgang 1930 bewirkt, der Frau Prof. Irene Jerusalem als Klassenvorstand hatte. (Quelle 10)

Ich (Sabine Wolny) habe auch einen Brief an Herrn Dr. Jerusalem (Neffe von Frau Jerusalem) geschrieben, auf den er mir geantwortet hat:
Liebes Fräulein Wolny!
Ich bin gerne bereit Sie über den Lebenslauf meiner Tante Prof. Irene Jerusalem anhand meiner Unterlagen zu informieren. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn Sie mich in meiner Wohnung besuchen könnten, weil die Unterlagen für die von Ihnen gewünschte Information doch einige dicke Mappen umfassen. Da ich in wenigen Tagen zu meinem Sohn nach Kärnten fahre, könnte das Zusammentreffen erst Ende April stattfinden.
Mit freundlichen Grüßen! H. Jerusalem
Da Herr Dr. Hans Jerusalem an seinen Urlaub einen Krankenhausaufenthalt anschließen musste, war ein Treffen noch nicht möglich.
Treffen und Gespräch mit Dr. Hans Jerusalem und seiner Frau:
„Irene und mein Vater Erwin Jerusalem wurden beide in Nikolsburg geboren und kamen erst später nach Wien. Für mich war Irene ein Mutterersatz, da meine Eltern in Litschau geheiratet haben und meine Mutter dort geblieben ist. Weil meine Mutter aber Katholikin war, war auch ich Katholik. In der NS-Zeit gehörte ich zu den sogenannten Mischlingen.
Wir mussten unsere Wohnung in Hietzing bis spätestens 31.8.1942 verlassen und in den 2. Bezirk umziehen. (Wir bekamen sie nach dem Krieg wieder zurück.) Davor musste mein Vater seine Stelle im Justizpalast aufgeben. Da mein Vater einer Jüdin geholfen hat sich zu verstecken, wurde er am 15. Oktober 1942 von der Gestapo abgeholt und nach Birkenau verschleppt. Er starb 1943 in Auschwitz.
Irene behandelte ihre Schüler wie Erwachsene und ärgerte sich sehr, wenn diese Wortphrasen verwendet, also über eine bestimmte Sache drum herum geredet haben. Bei ihrem 20. Jubiläum an der Schule dichteten ihre Schüler ein Festgedicht. Da kamen unter anderem auch die Wortphrasen und ein Dichter Ganghofer zu Sprache. Diesen Dichter mochte sie nicht, weil er ihr zu einfach in der Sprache geschrieben hat.
Sie hatte für mich eine maßgebende Persönlichkeit. Sie war eine gebildete, sportliche und auch sehr moderne Frau. Irene machte große Reisen nach Jugoslawien und ans Meer mit der Bahn. Sie wollte außerdem immer die erste sein, wenn es etwas Neues gab. (z.B. Fahrt mit einem Wasserflugzeug) Sie legte sehr viel Wert auf die körperliche Pflege.
Mein Großvater Wilhelm Jerusalem ist ein bekannter Philosoph, unterrichtete Dr. Karl Renner und noch heute werden seine Bücher an der Philosophischen Fakultät gelesen. Außerdem lag die Liebe zur Literatur in der Familie, daher konnte ich zum Beispiel Faust in und auswendig. Im Krieg las ich mit meinen Freunden am Abend verschiedene Theaterstücke mit verteilten Rollen.
Sie war immer um alle die sie liebt hat besorgt und schaute in erster Linie nicht auf sich selbst, sondern auf ihre Mitmenschen.“

Auch schrieb Irene Jerusalem Briefe an ihren Neffen, der im Krieg war:
Mein lieber Bub! Vielen, vielen Dank für deinen hochinteressanten, anschaulichen Bericht. Aber Du sollst Dir den so notwendigen Schlaf gönnen, denn wir sind glücklich, wenn wir nur wissen, dass alles bei Dir noch in Ordnung ist. Socken sind gestern und vorgestern abgegangen. Den Film habe ich hier heraußen nicht bekommen. Es soll einer 2 Mark kosten. Man muss suchen, sagte man mir bei „Wallace“, und dann wird man ihn schon irgendwo kriegen. Irenchen (Verlobte ihres Neffen) ist so lieb und gut, uns immer Deine Nachricht weiterzugeben.
So wissen wir, was heute vor 10 Tagen war, denn die Sachen gehen gerade eine Woche. Ich hoffe, dass Ihr`s jetzt leichter haben werdet, ein bisschen mehr Zeit zum Ausruhen. Französisches Wörterbuch wirst Du wohl auch irgendwo gefunden haben. Geschickt habe ich keines. Denn ich weiß noch nicht, ob irgendein Packerl von hier Dich erreicht hat. Socken sind gut angekommen. Wär nur der Träger auch schon da.
Gruß und Kuß Tante
Treffen und Gespräch mit Frau Prof. Dr. Maria Schneider:
„Ich habe 1931 in der Wenzgasse maturiert und hatte Irene Jerusalem nie selbst als Lehrerin. Ich kann mich aber genau an sie erinnern, vor allem an eine Supplierstunde in der 8. Klasse: Sie kam in unsere Klasse und sagte: „ Dubito, cogito ergo sum“ (Ich zweifle, ich denke, also bin ich!) Dann erzählte sie uns über Descartes und seiner Überzeugung von der Existenz Gottes. Wir waren von „Tschusi“ – so nannten wir Schüler Prof. Jerusalem liebevoll – sehr beeindruckt. Sie war eine gescheite, beliebte und tüchtige Frau. Wahrscheinlich wegen ihrer sozialen Einstellung wurde ihre Nichte Dora Caritas-Helferin. Meine Familie wohnte genau gegenüber von Irene Jerusalem in der Hietzinger Hauptstraße. Zu jedem Geburtstag von Prof. Jerusalem brachte ihr meine Schwester, die sie als Lehrerin hatte und schätzte, einen Fliederstrauß.“

Quelle 1: Österreichisches Staatsarchiv: Vermögensverkehrsstelle
Quelle 2: http://projekte.vhs.at/judeninhietzing/stories/storyReader$39
Quelle 3: Frau Frank (IKG)
Quelle 4: http://projekte.vhs.at/gems/judeninhietzing/DATEI.pdf
Quelle 5: Nachruf von Frau Dorothea Cymack, Purkersdorf
Quelle 6: Nachruf von Frau Dr. Hertha Bren
Quelle 7: www.doew.at : Deportationsziele
Quelle 8: Altes Rathaus Dokumentationsarchiv
Quelle 9: Dr. Hans Jerusalem (Neffe von Prof. Irene J.) und Gattin Astrid
Quelle 10: Frau Prof. Dr. Maria Schneider


Der Brief an den/die Ermordete/n :

Sehr geehrte Irene Jerusalem!



Dieser Brief ist an Ihr Gedenken! Wir haben durch das Projekt „A letter to the stars“
begonnen an Ihrer Lebensgeschichte zu recherchieren.
Dadurch, dass Sie eine Lehrerin an unserer Schule waren, haben wir Sie von unserer
Professorin zugeteilt bekommen.


Durch fleißiges recherchieren, haben wir erfahren, dass Sie Ihre Schülerinnen
an unserer Schule durch Ihre Güte und durch Ihr Auftreten begeistert haben.
Außerdem haben sie ein großartiges Hilfswerk gestartet, dass vielen Mädchen
sehr geholfen hat. Nicht nur dadurch haben Sie von Ihren Schülerinnen große
Anerkennung bekommen, sondern auch durch Ihre Kunst den Unterricht spannend
zu gestalten. Sie haben im Unterricht nicht nur darauf geachtet
Literatur zu lehren, sondern Sie haben auch das Soziale und
Ethische Empfinden bei Ihren Schülerinnen geweckt. Ihnen ist auch hoch
anzurechnen, dass Sie auch wenn Ihnen viel Leid in der NS-Zeit angetan wurde,
immer mutig waren und gegen niemanden Hass empfanden. Leider gibt es heute immer mehr Personen, die das nicht schaffen.
Wir wollen versuchen aus Ihrem Leben etwas zu lernen!

Sabine und Nina

Der Brief an die Zukunft (stieg am 5. Mai 2003 an einem Luftballon gebunden in den Himmel):

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