Erleichterung, Interesse und Nachdenklichkeit sind drei Begriffe, die mir in Bezug auf den heutigen Tag spontan einfallen. Der Vormittag war sehr entspannt und wir konnten länger schlafen, doch ich war den ganzen Vormittag etwas nervöser als sonst, da ich wusste, dass ich zu Mittag „meinen“ Zeitzeugen Avraham Shomroni treffen würde. Ich fuhr schließlich mit Andreas in einem Taxi zu Avrahams Wohnung und war äußerst angespannt. Dies kommt mir jetzt, nachdem ich mit Avraham gesprochen habe, sehr unwirklich und unnötig vor, aber in dieser Situation war es nun einmal so und das konnte ich nicht ändern. Andreas und ich klingelten bei Avraham und er erwartete uns bereits mit einem freundlichen Lächeln und mit einer einladenden Gestik forderte er uns auf in seine Wohnung zu kommen, die sehr groß und sehr nett eingerichtet war. Er schlug ziemlich bald vor, dass wir eine Kleinigkeit in ein Restaurant essen gehen sollten, da seine Frau in Boston bei ihren Enkelkindern sei und es sehr schlecht um seine Kochkünste stehe. Andreas verließ uns wieder und wir spazierten also etwa 5 Minuten die Straße hinunter bis wir zu dem Restaurant kamen, wo wir speisten. Ich muss sagen, dass bereits nach den ersten 10 – vielleicht 20 – Minuten die Nervosität und kleine Unsicherheit verflogen war, da ich mich mit Avraham vom ersten Augenblick an sehr gut verstand. Es war keine Distanz, die ich eventuell befürchtet hatte, zwischen uns, sondern vielmehr ein Interesse den anderen näher kennenzulernen. So sprachen wir im Restaurant sehr nett unter anderem über unsere Familien, meine Schule und seine Erfahrungen im Kibbutz. Der erste Grundstein für eine intensivere Konversation war gelegt. Nach dem Mittagessen gingen wir zurück in seine Wohnung und er bot mir einen Tee und arabisches Gebäck an, das ich sehr gerne annahm. Wir setzen uns auf die Couch im Wohnzimmer und er begann seine Lebensgeschichte zu erzählen. Ich muss hinzufügen, dass er nicht exakt chronologisch begann, sondern eher gewisse, für ihn herausragende, Episoden erzählte. Ich fand besonders interessant, dass er 1938 mit einem Kindertransport nach London kam und wollte wissen, ob er dies heute als gut oder schlecht empfunden hat, da er von seiner Familie getrennt wurde. Dies wollte ich deshalb wissen, weil ich ja von Susi Lamberg wusste, dass sie froh war bei ihrer Familie geblieben zu sein. Avraham überlegte ein bisschen und formulierte schließlich die für mich sehr treffende Aussage: „Wie ist wohl deine Wahl, wenn du zwischen Pest und Cholera entscheiden musst?“ Es war weder schön seine Familie zu verlassen, noch schön die Strapazen für Juden in Österreich auf sich zu nehmen. Dieser Teil unseres Gesprächs beschäftigt mich eigentlich sehr, denn mir wurde eine neue Facette der schrecklichen Vergangenheit bewusst. Familien wurden einfach auseinander gerissen und ermordet und eine angenehme Lösung oder ein einfacher Kompromiss war nicht möglich! Ich blicke also in ziemlicher Wehmut auf den heutigen Tag zurück und muss wohl noch so einiges verarbeiten, aber bin froh, dass ich die Möglichkeit hatte mit Avraham zu sprechen und werde versuchen den Kontakt mit ihm zu erhalten.
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