Die letzten Zeugen - Das Buc

Denk.Mal-Werke

Tafeln 5. Mai

Irmgard Neumann

(früher Irmgard HAAS) geb. 1920, ISRAEL

“Schätze jeden Tag. Benimmt Dich zu deinen Mitmenschen so wie Du möchtest, dass man sich zu Dir benimmt.” “Mein Vater war ein hoher Beamter, Oberbaurat bei der Bundesbahn, meine Mutter die älteste Tochter eines Fabrikbesitzers in Wien. Ich hatte eine sehr schöne Jugend, nicht verwöhnt, aber gut erzogen. Als ich 14 Jahre alt wurde, bestand mein Vater darauf, dass ich einen Beruf lernen musste, obwohl ich im Gymnasium eine gute Schülerin war und alle in unserer Familie Akademiker waren. Er erklärte, dass ein Kind einen Beruf haben müsse. Heute weiß ich, dass er recht hatte. Ich besuchte die Schneiderakademie und war – trotz meiner Abneigung – eine gute Handwerkerin. Meine ganze Freizeit verbrachte ich in einem Tanzstudio, ich war auch Mitglied in einem Jugendklub für Vorträge und Sport. Und dann kam alles anders. Im März 1938 marschierten die Nazis in Österreich ein und wurden mit Begeisterung empfangen. Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, trug mehr als die Hälfte der Schüler Hakenkreuz-Armbinden. Es war sehr unangenehm, aber ich wollte unbedingt das Schuljahr mit der Meisterprüfung beenden. Ich erhielt keinen staatlichen Meisterbrief, der für Juden nicht mehr erlaubt war, sondern nur ein Diplom. Nach der Kristallnacht war ich nicht mehr bereit, in Wien zu bleiben und meine Eltern waren einverstanden. Der einzige Ort, wo man damals ohne Visum einreisen konnte, war Shanghai, aber die Schiffskarten waren auf viele Monate hinaus ausverkauft. Durch ein Geschenk an eine Beamtin einer japanischen Linie konnte ich eine Karte auf einem Fracht-Passagierschiff erwerben. Ich fuhr allein mit einem Koffer und 10 US-Dollar im Jänner 1939 nach Shanghai. In Shanghai konnte ich ein wenig Geld mit Schneiderei verdienen, lernte Chinesisch und war immer hungrig. Eines Tages wurde ich von einem Herrn aus Wien aufgesucht, der gehört hatte, dass ich Schneidermeisterin war. Ich half ihm, eine Fabrik aufzumachen und die Arbeiter anzustellen. Glücklicherweise war ich imstande, meinen Eltern Einreisepapiere nach Shanghai zu senden. Fast zwei Jahre nach meiner Abreise kamen meine Eltern mit der Bahn über Sibirien nach Shanghai. Alle unsere Verwandten, die zurück blieben, wurden umgebracht. Nach einiger Zeit besetzten die Japaner Shanghai und wir mussten in ein Ghetto übersiedeln. Zwei Jahre vergingen unter schwersten Umständen. Als Gerüchte aufkamen, dass die Deutschen von ihrem Kriegspartner Japan verlangten, das Ghetto zu liquidieren, beschlossen Ernst Neumann und ich zu heiraten, um  zusammenbleiben zu können. 1948 – die Kommunisten besetzten große Teile Chinas – mussten wir wieder das Land verlassen. Und gingen nach Israel. Wir haben viel erlebt und sind glücklich und dankbar für jeden Tag.”
PDF anzeigen
| 57 | 58 | 59 | 60 | 61 | 62 | 63 | 64 | 65 | 66 | 67 | 68 | 69 | 70 | 71 | 72 | 73 | 74 |