OE1-Beitrag
Sehr geehrter Herr Alois Weil! Bregenz, am 24. April 2003 Sie kennen mich nicht und ich kenne Sie nicht. Wie auch? Ich bin über ein ganzes Jahrhundert jünger als Sie. Ja, ich schreibe an einen Toten und ja, ich weiß, dass Sie dieen Brief niemals lesen werden. Und dennoch will ich wenigstens den Versuch wagen, einen Brief an jemanden zu adressieren, der mich in diesem LEben niemals treffen wird. Heute ist ein herrlicher Tag. Es ist bereits früher Abend und noch immer hell. Es ist einer der ersten warmen Frühlingstage in diesem Jahr und ich sir´tze auf einem Balkon, blicke auf gerade erblühende Bäume, Wiesen und Blumen und denke an Sie. Ich denke über Sie nach. Vor mir liegt Ihr LEbenslauf, doch was darin enthalten ist, zeichnet noch lange kein Bild von Ihnen. Er spiegelt weder Ihr Leben noch Ihre Persönlichkeit wider. Nicht einmal ein Foto konnte ich von Ihnen bekommen. Sie sehen, ich bin also gerade recht ratlso und kann Sie mir nur als Menschen vorstellen, dem ich selbst ein Gesicht gegeben habe. Eines weiß ich allerdings mit Sicherheit: Nur aus einem Grund sind Sie viel zu früh und für einen Menschen auf grausamste Weise gestorben: Sie waren Jude. Ich fragte mich, wie das, was Ihnen und den Menschen, die dasselbe Glaubensbekenntnis hatten wie Sie, angetan wurde, jemals wieder gutzumachen ist. Seit dem Ende des Krieges, dessen Anbahnung Sie noch erleben mussten und durch dessen Führer Sie getötet wurden, sind 58 Jahre vergangen. Heute muss in unserem Land, Österreich, niemand mehr Angst haben,wegen seiner Religion verfolgt oder sogar getötet zu werden. In anderen Ländern allerdings schon und das macht mir Angst. Doch dann sehe ich Menschen, die den Mut haben, auf die Straße zu gehen und zu zeigen, was es ihnen bedeutet "Mensch" zu sein und was es ihnen bedeutet, dass auch allen Menschen, egal welcher Herkunft, Abstammung, Religion, Hautfarbe, Rasse und Geschlecht, eine Chance auf Menschlichkeit geben wird. Wir haben Sie nciht vergessen.