OE1-Beitrag

Leopold Engleitner wurde 1905 in Aigen-Voglhub geboren. Wegen des Abhaltens eines Bibelvortrags wird Engleitner in das KZ Buchenwald deportiert. Als er kurz vor Kriegsende doch noch in die deutsche Wehrmacht eingezogen werden soll, flieht er. Tanja Pitter hat ihn getroffen.

Die Geschichte des Mannes, der aus Glauben nicht töten wollte

Im März 2003 meldete ich mich für das Projekt " A Letter To The Stars II" an - um einen Zeitzeugen zu treffen, mit ihm zu sprechen und das ganze Ausmaß dieser furchtbaren Grausamkeit namens Nationalsozialismus etwas besser verstehen zu lernen. Ich wollte unbedingt jemanden, der auch heute noch in Österreich lebt, um besser Kontakt mit ihm aufnehmen zu können. Schließlich entschied ich mich für einen Mann aus Oberösterreich.

Genau ein Jahr nach der "A Letter To The Stars"-Veranstaltung am Wiener Heldenplatz, bei der 80 000 weiße Luftballons mit Briefen in den Himmel losgelassen wurden, lernte ich einen bewundernswerten Menschen kennen: Leopold Engleitner, 98 Jahre alt.

Im Rahmen einer Gedenkveranstaltung des Projekts anlässlich der Befreiung des KZ Mauthausen vor 59 Jahren war Leopold Engleitner vom Bundespräsidenten in die Wiener Hofburg eingeladen worden. Und ich, sozusagen als seine Patin, durfte auch mitkommen.

Dass ich schon gar nicht mehr glaubte, Leopold Engleitner an diesem Tag überhaupt noch zu begegnen, sei nur am Rande erwähnt, da ich mich mit meiner Mama in Wien mehr schlecht als recht durchschlug und wir auch noch, wie man so schön sagt, überpünktlich waren und völlig gehetzt vor der Wiener Hofburg ankamen.

Kurz bevor die Feierlichkeiten begannen, hatte ich noch die Möglichkeit, Leopold Engleitner die Hand zu geben um ihn zu begrüßen.

Trotz seiner 98 Jahre wirkte er auf mich sehr "spritzig", auch wenn er schon seit einigen Jahren im Rollstuhl sitzt. Seine Augen strahlen noch immer sehr jugendlich und geistig ist er sowieso äußerst fit.

Nach der Veranstaltung konnte ich dann endlich persönlich mit ihm sprechen. Ohne auch nur ein Fünkchen von Verbitterung erzählte er mir seine erlebnisreiche Lebensgeschichte:

Leopold Engleitner wird am 23. Juli 1905 in Aigen-Voglhub, Gemeinde Strobl, in Salzburg als Sohn eines Sägearbeiters und einer Großbauerntochter geboren. Schulische Bildung ist zu dieser Zeit in dieser Region nicht sehr hoch angesehen und meist nur den Kindern aus reichen Familien möglich, weshalb Leopold Engleitner 1919 nach sieben Schuljahren gezwungen ist, zu arbeiten. Er begibt sich mit dreizehneinhalb Jahren in Knechtschaft bei einem Bauern. In den darauffolgenden Jahren wechselt er noch einige Male seine Arbeitsstelle und kommt mit unterschiedlichsten Menschen und deren Einstellungen in Kontakt.

Er interessiert sich immer mehr für die Bibel. Als er 1931 seinen Freund zu einer Zusammenkunft der Bibelforscher (heute Zeugen Jehovas) begleitet, ist er begeistert von deren Lehren. Am meisten fasziniert ihn aber die Tatsache, dass die Bibelforscher annehmen, dass Gott nicht mit den Kriegen und dem Morden einverstanden ist.

Er entschließt sich, aus der katholischen Kirche auszutreten und Bibelforscher zu werden. Der Pfarrer der Gemeinde ist darüber wutentbrannt, die Dorfbewohner verachten Engleitner. Da Leopold Engleitner nun auch anderen Menschen die Bibel auf seine Art und Weise näher bringen will, wird er in den Jahren zwischen 1934 und 1937 insgesamt vier Mal eingesperrt. Doch die schlimmsten Gefangenschaften sollten ihm erst noch bevorstehen.

13. März 1938: Die deutsche Wehrmacht marschiert unter dem Jubel der Bevölkerung in Österreich ein. Eine Zeit größter Intoleranz, Verfolgung und eines beispiellosen Massenmordes beginnt. Eine der unzähligen Opfergruppen sind die Bibelforscher, die späteren Zeugen Jehova.

Leopold Engleitner ist mit einem Schlag "Ostmärker", und dass er nun als Bibelforscher als "volksschädlich" gilt, bekommt er schon im darauf folgenden Jahr zu spüren.

Am 4. April 1939 wird Engleitner während einer religiösen Feier zusammen mit vier weiteren Bibelforschern von der Gestapo verhaftet. Er wird angeklagt und vor Gericht gestellt. Tatbestand: "Abhalten eines Bibelvortrages und Zugehörigkeit zu den Bibelforschern". Das Verfahren wird zwar eingestellt. Doch anstatt in Freiheit weiter leben zu können, wird ihm am 5. Oktober 1939 mitgeteilt, dass er ins KZ Buchenwald deportiert werden würde.

Am Tag seiner Ankunft im KZ Buchen-wald muss Leopold Engleitner bereits äußerst demütigende Situationen erleben und wird brutal geschlagen. Außerdem muss er eine Abschiedskarte an seine Eltern schreiben, während ihn ein SS-Mann ständig stößt. Der SS-Mann meint höhnisch, dass Eng-leitner zum Bibellesen nicht zu "blöd" sei, aber zum Schreiben schon, da das Geschriebene natürlich total unleserlich ist. Schließlich hält ihm der Tyrann die Pistole an die Schläfe und fragt ihn, ob er gefasst sei.

Engleitner bejaht, doch der Unmensch drückt nicht ab, weil er meint, dieser Mann wäre auch zum Erschießen "zu blöd".

Engleitner muss im KZ schwere Arbeit verrichten, die ihn körperlich und vor allem psychisch stark belastet.

Nach ungefähr zwei Jahren in Buchenwald wird er ins KZ Niederhagen überstellt. Während dieser Zeit bekommt Engleitner die Möglichkeit, entlassen zu werden. Dazu hätte er aber einen Revers unterschreiben müssen, in dem er erklärt, dass er seiner Religion abschwört. Er verweigert und bleibt deshalb weiterhin im KZ. In einem Protokoll hält der "kleine Österreicher", wie er im KZ genannt wird, fest: "Ich kann keinen Eid auf militärische Pflichten ablegen und kann auch keine Waffen tragen, weil dies meiner Glaubensauffassung, an der ich unbedingt festhalte, widerspricht. Wenn ich einen Einberufungsbefehl an die Front bekäme, so würde ich diesen Dienst verweigern. Mir ist bekannt, dass ich bei der Vertretung dieser Ansicht unter Umständen mein Leben verwirke, doch könnte ich dagegen nichts machen, denn das Leben hängt von der Beachtung der Gesetze Gottes ab."

Auch ein drittes KZ muss er über sich ergehen lassen. Von April bis Juli des Jahres 1943 ist er Gefangener im KZ Ravensbrück.

Am 15. Juli 1943 wird Leopold Engleitner schließlich entlassen und muss sich zu lebenslanger Zwangsarbeit in der Landwirtschaft verpflichten.

Als sich Leopold Engleitner im Jahr 1945, er ist nun 39 Jahre alt, bereits in Sicherheit wähnt, kommt im April der Einberufungsbefehl in die deutsche Wehrmacht.

Engleitner ist sich der Tatsache bewusst, nicht lebend davonzukommen, wenn er jetzt noch in den Krieg ziehen müsste.

Innerhalb weniger Stunden flüchtet er ins Gebirge, wo er bis zum Kriegsende von den Nazis gejagt wird. Doch er überlebt und kehrt am 5. Mai 1945 nach Hause zurück.

Die politische Verfolgung ist vorüber. Die Intoleranz der Menschen um ihn herum ist aber schier grenzenlos. Nicht nur, dass sie ihm nicht glauben, sie bezeichnen ihn sogar als asozial, weil er im KZ war.

Sie sind der Meinung, Hitler müsse schon einen Grund gehabt haben, Menschen wie ihn einzusperren. Oder sie spielen die Grausamkeiten in den Konzentrationslagern herunter, versuchen sie auf lächerliche Weise zu rechtfertigen. Ein späterer Arbeitskollege hört sich Engleitners Geschichte an und rechtfertigt die unkontrollierten Aggressionen der SS-Männer mit dem Argument, ihnen sei halt langweilig gewesen. Langeweile als Rechtfertigung für willkürliche Brutalität! Menschen-verachtend bis aufs Letzte.

Ich habe Leopold Engleitner als einen Menschen kennen gelernt und erlebt, der trotz all seiner furchtbaren Erlebnisse und trotz alledem, was er durchmachen musste, um an seiner Überzeugung und seinem Glauben festhalten zu können, kein bisschen verbittert ist.

Er erzählt seine Geschichte und er erzählt sie gern. Leopold Engleitner hat oft betont, froh zu sein, jetzt endlich seine Geschichte erzählen zu dürfen. Und diese Geschichte ist frei von Schuldzuweisungen, Hass oder Rachegefühlen gegenüber irgend jemandem.

Wie kann man so etwas erleben, ohne daran zu zerbrechen? Wie kann man ohne Wut oder Zorn über die schlimmsten Stunden, Tage, Wochen, ja sogar Jahre seines Lebens, berichten? Leopold Engleitner ist zufrieden. Mehr kann ein Mensch wohl nicht erreichen.

Als ich mit Leopold Engleitner gesprochen habe, lag mir eine Frage besonders am Herzen.

Ich stellte ihm die Frage, ob er glaube, dass sich eine ähnlich Tragödie wie der Nationalsozialismus unter Hitler mit all ihren furchtbaren Folgen noch einmal zutragen könnte. Er hoffe, dass die Menschheit ihre Lehren gezogen hat und so etwas nicht mehr passiert, war seine Antwort.

In einer Zeit, wo Rassismus und religiöser Fundamentalismus so weit verbreitet sind, wie kann ich darauf vertrauen, dass sich nicht eine vielleicht sogar noch schlimmere Katastrophe zutragen könnte? Gar nicht.

Doch vielleicht ist es auch zu wenig, einfach nur darauf zu vertrauen. Wir sollten die Tür zur Vergangenheit nicht zusperren und den Schlüssel in ein tiefes Loch werfen, nur damit niemand unsere Fehler sieht, die vor über einem halben Jahrhundert begangen wurden.

Schließlich ist genau dieser Teil der Geschichte auch ein Teil von uns.

Menschen neigen dazu, zu verdrängen. Sie neigen dazu, Fehler zu wiederholen. Nicht verdrängen und nicht wiederholen. Wir sollten uns die Geschichte und deren Wahrheit gegenseitig ins Gesicht schreien, um niemals zu vergessen.

Zeitzeugen wie Leopold Engleitner haben die lautesten Stimmen. Es ist unsere Pflicht, auf diese zu hören und sie zu respektieren.

Befragt nach seiner "Lebensweisheit", sagt Leopold Engleitner: "Selbst unter Gruppenzwang, Gewalt und Verfolgung ist es notwendig, auf sein Gewissen zu hören und sich an gerechte Grundsätze zu halten. Frieden mit dir selbst, deinem Mitmenschen und deinem Schöpfer wird der großartige Lohn sein."

Tanja Pitter, BRG Gleisdorf