- Marie-Christine Hartig, Studentin, trifft als Botschafterin der Erinnerung im März 2008
- Lucie Mandelstam in Israel.
Marianne Drachsler. In Wien geboren, wächst sie in der Castellezgasse im 2. Bezirk auf. Ganz in der Nähe ihrer Wohnung befindet sich der
Augarten, in dem sie viele wunderbare Stunden mit ihren Freunden und ihrer Familie verbrachte. Sie erinnert sich an viele schöne Momente in Wien, sie war stolz, in einer kulturell reichen Stadt wie Wien aufzuwachsen und sie genoss es, Konzerte, Opern und Theateraufführungen besuchen zu können. Vor allem liebte sie es, mit ihrem Vater die vielen gemütlichen Kaffeehäuser
in Wien zu besuchen.
Lucys Eltern waren nicht sehr religiös, nur die Großeltern väterlicherseits, die mit ihnen gemeinsam in der Castellezgasse wohnten, gingen zu den hohen Feiertagen in die Synagoge. Manchmal begleiteten Lucy und ihre jüngere Schwester Evy sie dorthin und spielten mit den anderen Kindern im Innenhof.
Die Volksschule besuchte Lucy in der Kleinen Pfarrgasse und wechselte danach in die Hauptschule in der Sperlgasse. In der Klasse waren jüdische und christliche Kinder, alle spielten gemeinsam am Hof und hatten viel Spaß zusammen. Das Zusammensein wurde mit dem Einmarsch Hitlers drastisch eingeschnitten, in der Klasse mussten sie nun hinten sitzen und auch einige der Lehrer änderten ihren Umgang mit den jüdischen Kindern, manche sind nett geblieben. Da ihre jüngere Schwester Evy einen paralysierten Arm hatte und auch den zweiten Arm nur schlecht bewegen konnte, wurde sie in eine Schule für körperlich Behinderte geschickt.
»Im März 1938, als ich zwölf Jahre alt war, fiel meine ganze Welt auseinander und alles änderte sich. Ich werde nie jenen letzten Abend vor dem Anschluss vergessen. Wir alle lauschten dem Radio, es war die Nacht vor den Wahlen, als wir unseren Kanzler hörten, der mit erstickter Stimme seinen Entschluss abzudanken verkündete. Ich kann ihn noch hören, wie er sagte ‚Gott schütze Österreich’.«
9. November 1938 – in der Schule herrschte eine angespannte Stimmung, die Lehrer schickten die Schüler schon früh nach Hause, mit der Mahnung, sie sollten ja ohne Umwege nach Hause gehen. Auch bei den Eltern war die Stimmung angespannt, aber Lucy konnte noch nicht erkennen, warum. Am Nachmittag klopfte es heftig an der Tür, zwei SS-Männer standen vor der Wohnung und verhafteten Lucys Vater, einige Tage darauf bekam die Familie die Nachricht, dass er nach Dachau deportiert worden war. Dem Großvater wurde ebenfalls befohlen mitzukommen, doch er weigerte sich mit den SS-Männern mitzugehen, sagte, er hätte im 1. Weltkrieg seinem Kaiser gedient. Die Männer sagten darauf kein Wort mehr, machten Kehrtwende und verließen das Haus. Lucys Mutter, ihre Großmutter sowie Lucys Großvater blieben sprachlos zurück und konnten kaum glauben, was soeben geschehen war. Ihre Nachbarn, drei unverheiratete Geschwister, nahmen die Mädchen in dieser Nacht bei sich auf, gaben ihnen zu essen und versuchten sie zu beruhigen, um deren Mutter und Großeltern ein wenig Zeit einzuräumen, über das Geschehene nachdenken zu können. Zuvor hatten sie so gut wie keinen Kontakt zu diesen Nachbarn. In der Folge musste die Familie aus ihrer kleinen Wohnung in eine noch kleinere Wohnung umziehen, in der Czerninpassage, in eine Wohnung mit zwei Räumen, einem Klo und einer Küche, ohne Bad. Sie lebten dort zu neunt. In einem der Räume lebten Lucys Mutter, ihre Großmutter, ihre Schwester, Lucy selbst und eine Fremde, im anderen Raum lebte eine Familie mit zwei Buben. Evys Schule, eine Sonderschule für körperlich Behinderte, lag in einem weit entfernten Bezirk. Vor der Deportation hatte der Vater Evy zur Schule gebracht. Nachdem die Eltern keine Möglichkeit mehr hatten, Evy in die Schule zu begleiten, fuhr nun Lucy jeden Tag mit ihrer Schwester den weiten Weg und auch wieder zurück, um in der Sperlgasse weiter ihre Schule zu besuchen. Nach einigen Wochen entschied die Mutter, dass Lucy gemeinsam mit Evy die Sonderschule besuchen solle, da sie von ihrem Schulunterricht sonst zuviel verpassen würde. Sie waren eine Klasse von fünf, sechs jüdischen Kindern.
Im Alter von 13, fast 14 Jahren, wurde Lucy aus der Schule geworfen und nach Stendal in Deutschland geschickt. Gemeinsam mit 50 Mädchen musste sie dort Spargel ernten. Lucy erzählte, dass keines der Mädchen Erfahrung in landwirtschaftlicher Arbeit hatte und diese
hart war. Die Aufseherinnen kamen den Mädchen anfänglich sehr nett vor, doch bald merkten sie, dass kleine Pausen aus Erschöpfung
schlimme Konsequenzen zur Folge hatten. Sechs der Mädchen erkrankten an Scharlach und kamen nach Stendal in ein Spital, welches von Nonnen geführt wurde. Auch Lucy war unter ihnen und wurde nach der Genesung wieder nach Hause geschickt – Spargel konnte sie für lange Zeit nicht mehr essen.
Zurück in Wien, Anfang 1939, musste sich Lucy beim Arbeitsamt melden und wurde einer Zigarettenhülsenfabrik in Meidling zugeteilt. Der Weg in die Fabrik war lang, und Lucy erinnert sich, dass sie sich auf dieser Fahrt, weil sie den Judenstern tragen musste, immer so exponiert fühlte, so angreifbar. In der Fabrik arbeitete sie 8-10 Stunden am Tag an einer Maschine,
sie war in einer Halle tätig, in der ausschließlich Juden arbeiteten. Sogar in der Kantine gab es einen gesonderten Bereich für die jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen.
»Ich trage immer noch ein kleines Andenken an die Zeit – ich habe mir damals die Fingerkuppe an der Maschine, an der ich arbeitete, abgehackt.«
Die Zeiten waren hart, die Mutter arbeitete und auch Lucy, viel Geld war trotzdem nicht da. Dennoch sagt Lucy, dass es ihnen in dieser Zeit zumindest an Nahrung nicht mangelte: Fleisch war zwar knapp oder nicht vorhanden, aber Brot und Kartoffeln waren immer da. Als der Krieg begann, wurde die Nahrung rationiert. Das Leben wurde immer reglementierter – sie mussten zwischen acht und neun Uhr abends zuhause sein – rechtzeitig zur »Sperrstunde«. Ihren Alltag verbrachte Lucy tagsüber in der Arbeit, und als es Zeit war, nach Hause zu gehen, blieb nicht mehr viel Zeit bis zur Sperrstunde. Man konnte ja auch nirgendwo mehr hin, Kinos und Kaffeehäuser waren für Juden nicht geöffnet und in den Parks waren sie auch nicht erwünscht. Es blieben nicht viele Optionen offen. Die Meetings der zionistischen
Jugendbewegung, irgendwo in einem Keller, in dem sie leise sein mussten und nicht auffallen durften, waren noch die abwechslungsreichste Beschäftigung und außerdem Momente, in denen man als Jugendlicher dennoch ein wenig Spaß haben konnte, über Israel lernte und Pläne für die Zukunft schmiedete.
Lucy schaut mich schmunzelnd an: „But you know – when you are young, you are optimistic.“ Auch heute noch strahlt Lucy diesen Optimismus aus und hat einen unglaublich positiven, humorvollen Charakter.
Lucys Mutter versuchte alles, um ein Visum und vor allem ein Ticket auf einem der Schiffe zu ergattern. Zumindest für ihren Mann Otto, ein Visum und Schiffstickets für die ganze Familie waren finanziell nicht möglich. Lucy erzählt, dass lange Schlangen vor allen Botschaften waren, und das es besonders schwierig war, einen Ausreiseschein zu bekommen. Das Sudetenland, wo ihre Familie mütterlicherseits zuhause war, war von Hitler schon besetzt worden, auch dorthin konnten sie nun nicht mehr ausweichen. Wer Geld hatte, konnte auch illegal ausreisen und zum Beispiel nach Frankreich und Belgien kommen, aber auch das sicherte einem noch keine Rettung. Bekannte von Lucy, die illegal ausgereist waren, traf sie Jahre später in Auschwitz wieder.
Stundenlang stellte sich Lucys Mutter an und erhielt schließlich für ihren Mann Otto ein Visum sowie ein Passagierticket nach Shanghai. Mit Ticket und Visum in der Hand wurde er aus Dachau entlassen und kam endlich wieder zurück nach Hause. Das Ticket stellte sich aber leider als Fälschung heraus und Otto musste in Wien bleiben. Einmal im Monat musste er sich auf den Weg zur Gestapo machen, um sich zu melden. Lucy erinnert sich, dass der Vater vor ihr und der Schwester nicht viel von Dachau erzählte, dennoch merkte sie ihm an, dass er eine schreckliche Zeit hinter sich hatte. Otto Drachsler wurde nur wenige Monate später nach Polen deportiert, erst viele Jahre nach dem Krieg bekam Lucy Nachricht von ihrem Vater, der sich nach Russland retten hatte können. Eines Morgens im August 1942, Lucy war 16 Jahre alt, kamen Männer der jüdischen Ordnungspolizei in ihr Haus und sagten, sie sollten bis zum Nachmittag gepackt haben. Einen Koffer mit den wichtigsten Dingen und eine Bettrolle waren das einzige, das sie mitnehmen durften. Am Nachmittag wurden sie abgeholt und in ein Sammellager in einer ehemaligen Schule in der Malzgasse (oder auch Leopoldgasse) gebracht. Sie mussten so gut wie
alles zurück lassen. Dort schliefen in einem Klassenraum 20 bis 30 Personen auf dem Fußboden. Die hygienischen Verhältnisse waren furchtbar, aber auf das, was noch kommen sollte, war Lucy nicht vorbereitet. Im September 1942 wurden Lucy, ihre Mutter und ihre Schwester Evy zum Nordbahnhof gebracht und nach Theresienstadt deportiert.
In Theresienstadt trafen sie ihre Großmutter mütterlicherseits. Sie war von Znaim in ein Lager in der ehemaligen Tschechoslowakei und von dort nach Theresienstadt gebracht worden. Ihr Großvater war noch im Lager in der Tschechoslowakei gestorben, ihre Großmutter mit ihren Kindern nach Theresienstadt geschickt worden.
Lucy erzählte mir ein wenig über den »Alltag« in Theresienstadt. Von den Geschäften, in denen man mit dem eigens gedruckten Papiergeld einkaufen konnte und wo man meistens das eigene Hab und Gut wiederfand. Lucy arbeitete selbst in einem Geschäft, wo sie Dinge fand, die ihr gehörten. Jeden Tag wurde sie woanders zum Arbeiten hingeschickt. Lucy meinte, dass es ältere Menschen in Theresienstadt sicher viel schwerer gehabt haben als junge. Junge Leute schafften es oft, sich noch irgendwie zusätzliches Essen zu besorgen. In Theresienstadt hatte Lucy Glück im Unglück, denn ihr Freund Karl arbeitete in der Küche und konnte so hin und wieder ein wenig Essen für Lucy herausschmuggeln. Er hat sogar eine kleine Hütte für die beiden gebaut, in der sie gemeinsam wohnten. Sie hatten natürlich keine Möbel, schafften es aber, eine Matratze und sogar Elektrizität in Form einer Glühbirne zu bekommen. Sie waren glücklich,
zusammenleben zu können. Menschen haben es geschafft, alle möglichen Dinge zu erreichen, sagt Lucy. In Auschwitz wäre es unmöglich gewesen, sich so einen eigenen Unterschlupf zu bauen. Theresienstadt aber war eine ehemalige Garnisonstadt und so war sie weniger überschaubar. Die Häuser hatten auf der hinteren Seite kleine Gärten, und dort bauten sie sich ihre Hütte. In Theresienstadt gab es Geschäfte und Musik, Konzerte und Cafes – und hinter all dem versteckte sich die Misere. Krankheiten verbreiteten sich schnell, und auch wenn man zu Essen bekam, gesundes und ausreichendes Essen war es natürlich nicht. Auch in den Kinderheimen war zu wenig Essen da. Nur den Menschen, die arbeiten und so ein wenig Geld machen konnten, vielleicht auch Essen verkauften, ging es etwas besser. Und Lucy war eine der Glücklichen, die einen Freund hatte, der mit Lebensmitteln arbeitete. Ihre Mutter war Krankenschwester in Theresienstadt, dort bekam sie ausreichend zu essen, aber ihre kleine Schwester war im Kinderheim, und so oft sie konnten, brachten sie ihr etwas zu essen. Im Jänner 1944 wurde Karl deportiert. Lucy hörte nie wieder von ihm.
Vier Monate später, im Mai 1944, wurden Lucy, ihre Mutter und ihre Schwester nach Auschwitz deportiert. Sie gingen auf einen Marsch, es stellte sich heraus, dass sie zur Eisenbahnstation marschierten. Ihre Großmutter war schon einige Wochen zuvor von Theresienstadt nach Treblinka verschleppt worden, die übrige Familie, wie Lucy nach dem Krieg herausfand, kam in Auschwitz ums Leben. An die Zugreise kann und will sich Lucy nicht erinnern, es war eine schreckliche Reise – und alle Erinnerungen sind verloschen.
In Auschwitz war die »Hölle auf Erden«, viel wollte und konnte Lucy darüber nicht erzählen. Die Zustände waren unzumutbar, sagt sie. Die Leute durften untertags oft nicht in die Baracken, mussten bei jedem Wetter draußen sein, auch das Klo durfte nur verwendet werden, wenn es einem gesagt wurde. Es gab eigentlich gut ausgestattete Waschräume, in die man jedoch nur selten gekommen
ist. Zwischen Warten und ständigem Zählappell saßen sie herum und haben geredet. Geredet über alles Mögliche, wirkliche Pläne für die Zukunft konnte man nicht schmieden, man wusste ja gar nichts, und immer änderte sich alles. So unterhielt man sich über den Haushalt und tauschte Kochrezepte aus. Lucy erzählt, dass »man auf das mindeste reduziert wurde, sodass man sich wie ein Nichts gefühlt hat. Es gab keine Teller für die Essensausgabe, so wurden in etwas größere Töpfe vier Portionen gefüllt, die man sich ohne Löffel teilen musste. Wie teilt man da, sodass jeder etwas bekommt?«, schaut mich Lucy fragend an, »noch dazu, wenn man sich in so einer Notlage befindet
und alle an Hunger leiden.« Es mussten Arbeiten verrichtet werden, die keinen Wert hatten, an einem Tag mussten Ziegel von einem Ende des Lagers an das andere gebracht werden, und am nächsten Tag erhielt Lucy den Befehl, die Ziegel wieder zurück zu tragen. Man wusste ja auch vorher nicht, was auf einen zukam, es gab viele Gerüchte und Kapos, die von anderen Lagern versetzt wurden, erzählten, wie es in Auschwitz sei, aber man wusste nie, was wahr war und wollte natürlich auch nicht glauben, was man hörte.
Als Lucy in Auschwitz ankam, roch es stark nach verbrannten Körpern, der Himmel war rot, und ständig brannte Feuer in den Krematorien. »Then you know, but still you don’t want to know«.
Um am Leben zu bleiben, musste man verdrängen und unsichtbar werden, nur ja nicht auffallen.
Unter den vielen Menschen untertauchen – das war die Devise.
»And if there are so many people, hundreds of people, you vanish amongst them,
it’s one way to survive, you don’t talk to anyone,
what could you say to the Capo’s and the Aufseher,
one word and they would hit you.«
Im August 1944 wurden Lucy, ihre Mutter und ihre Schwester Evy von Auschwitz in das Konzentrationslager »Waldlager Stutthof« in Deutschland gebracht. Dort wurden sie zur Arbeit in unterschiedliche Lager, Dörfer und landwirtschaftliche Betriebe geschickt. Am 10. August 1944 wurde Lucy nach Marienburg in Westpreußen geschickt. Ihr Name wurde ausgerufen und sie wurde auf einen LKW verladen – sie dachte, ihre Mutter und ihre Schwester würden auch gleich aufgerufen werden. Doch Lucy fand sie auf keinem der Lastkraftwagen wieder, ohne Verabschiedung, ohne ein letztes Wort mit ihrer Mutter wurde Lucy nach Marienburg abtransportiert. Das war das letzte Mal, dass Lucy ihre Mutter und ihre Schwester gesehen hat. Evy erkrankte bei der Arbeit auf einem Bauernhof an Typhus und wurde
in den Gaskammern von Stutthof ermordet. Über das Schicksal ihrer Mutter hat Lucy auch nach dem Krieg nichts Näheres erfahren können. Dreieinhalb Monate arbeitete sie auf einem Hof in Marienburg in der Landwirtschaft. Für einen Monat kam sie im November 1944 zurück nach Stutthof und wurde im Dezember 1944 von Stutthof nach Stoboy (heutiges Polen) geschickt, um dort an der russischen Grenze zu arbeiten. Ihre Arbeit bestand darin, Panzerfallen zu graben. Während ihrer Arbeit in Stoboy wurde sie von Wehrmachtssoldaten beaufsichtigt.
»The only person I remember – we were in Stoboy, and we worked outside,
I got beaten up, and one of the soldiers, who was a Wehrmachtssoldat,
he helped me to the tent, it was the ward. They did sometimes talk to us, but
they were not the SS. They didn’t do anything for us either, they didn’t help
us, but they just didn’t beat us up.”
Im Jänner 1945 wurde Lucy wieder nach Stutthof gebracht. Die Russen waren nahe und die Deutschen sammelten alle zusammen und verließen das Lager fluchtartig. Sie marschierten auf der Flucht vor den Russen durch den Wald. Manche versuchten zu fliehen und wurden erschossen, oder die Deutschen ließen die Hunde los, und sie wurden verfolgt. Sie marschierten auf einer Waldstraße, am Rande eines Waldes, und Lucy schaffte es zu fliehen. Sie setzte sich auf einen Baumstumpf, um sich kurz auszuruhen und auf einmal war niemand mehr um sie. Sie war nicht die Einzige, sagt sie, eine Frau und ein junges Mädchen fanden sich mit ihr im Wald wieder. Es wurde schon dunkel, auch die Bomben der Russen verdunkelten den Himmel, und Lucy schaffte es, in einem nahegelegenen Bauernhaus unterzukommen. In dem Haus lebte ein Gruppe Italiener, die als Zwangsarbeiter für die Deutschen gearbeitet hatten. Sie nahmen Lucy
bei sich auf, aber sie konnte dort nicht lange bleiben, sie wurde krank und hatte Typhus.
Sie war frei, aber obdachlos. So wurde sie als »Deutsche« in ein Spital in Danzig gebracht. Es war ihr Glück, dass Deutsch ihre Muttersprache war. Dokumente hatte so und so niemand, sagt Lucy, alles war Chaos. Im Krankenhaus wurde sie gesund gepflegt. Bis heute ist es ihr ein Rätsel, dass niemand sie nach ihrer Herkunft gefragt hatte und doch hätten sie die Tätowierung am Arm bemerken müssen.
»There was one doctor she was particulary nice to me, maybe she knew.
I mean they washed me, they treated me – it is still a puzzle to me.«
Im April 1945 konnte Lucy das Krankenhaus wieder verlassen, die Wochen davor verbrachte sie viel Zeit im Luftschutzkeller, da Danzig bereits angegriffen und bombardiert wurde. Eine ältere Frau aus dem Spital bot ihr an, sie bei sich aufzunehmen und so hatte Lucy nach langer Zeit wieder ein Dach über dem Kopf. Doch alle Bewohner des Hauses wohnten im Luftschutzkeller und Lucy wollte einfach nur mehr weg. Drei Tage später machte sich Lucy auf den Weg zum Bahnhof, und zu ihrem Glück kam einige Stunden darauf tatsächlich ein Zug. Die ganze Nacht verbrachten sie in dem Zug, der viele Umwege fahren musste, da Schienen gesprengt waren, bis er am darauf folgenden Tag endgültig stehen blieb – mitten im Wald – da er keine Kohle mehr zum Weiterfahren hatte. So machten sich die Passagiere
zu Fuß auf und Lucy konnte es kaum glauben, als sie in Pasewalk ankam. Es war das Dorf, in dem sie zuvor bei den Italienern gewohnt hatte. Ihre Freunde freuten sich, sie wieder zu sehen und nahmen sie bei sich auf. Da Lucy aber jetzt als deutscher Flüchtling angesehen wurde, wurde sie kurz darauf evakuiert und auf ein Schiff gebracht, das in Richtung Dänemark fuhr. Das Schiff war unter ständigem Beschuss, bis es endlich in Dänemark ankam. Doch es hatte keine Erlaubnis erhalten, im Hafen anzulegen, und so endete die Reise im Mai 1945 im Hafen von Flensburg, wo Lucy von der Kapitulation Deutschlands erfuhr.
Die Situation muss recht absurd für Lucy gewesen sein, da alle um sie herum Deutsche waren, darunter auch viele deutsche Soldaten, die ihre Niederlage beklagten. Man wusste nicht wohin, und so verblieb Lucy die nächsten Tage auf dem Schiff. Als die britische Armee in Flensburg die Militärverwaltung übernahm, musste Lucy vom Schiff. Sie wusste nicht, wohin und nachdem sie einem Verantwortlichen der britischen Armee ihre Geschichte erzählt hatte, versprach er ihr, dass er ihr helfen würde, sie sobald wie möglich von dort wegzubringen.
»Wenn ich mir früher das Ende des Krieges vorstellte, sah ich mich meine
Freiheit feiern, umgeben von Familie und Freunden. Die Wirklichkeit war völlig anders.«
Ende Mai traf Lucy einen Mann aus Jugoslawien, der ihr mitteilte, dass sie sich auf den Weg machen würden, um nach Eckenforde zu gelangen. Dort war ein Lager jugoslawischer Gefangener – und Lucy war froh sich fortzubewegen, glücklich weiter zu fahren, wohin auch immer. In Eckenforde angekommen, teilte ihr der Lagerleiter mit, dass es in der Nähe ein Sanatorium gab, in dem Flüchtlinge aus Stutthof
untergebracht worden sind. Lucy konnte es gar nicht abwarten dorthin zukommen, und endlich wieder unter »ihren« Leuten zu sein. Sie traf dort sogar ein Mädel aus Wien, das mit ihr in der gleichen Schulklasse gewesen war. Vom Sanatorium zogen sie in eine große Villa um, die einem Nazifunktionär weggenommen worden war. Dort lebten sie gemeinsam, hatten eine Köchin und ein Hausmädchen.
»Beide waren Deutsche, die uns sicher grollten, doch sich freuten, einen Arbeitsplatz zu haben.« Die Kosten wurden durch die britische Militärregierung gedeckt. Allmählich kamen Listen der Überlebenden heraus und die »UNRRA« richtete »Displaced Persons«-Lager ein, um den Heimatlosen eine Unterkunft zu geben. Lucy und ein paar Bekannte trauten sich langsam aus Eckenforde heraus und besuchten verschiedene DP-Lager. In Eckenforde blieb Lucy ungefähr ein Jahr, und als ihr Freund, der Lagerleiter des jugoslawischen Lagers, ihr
sagte, er würde in die Tschechoslowakei fahren, beschloss sie, dort ihre Familie zu besuchen. Als Lagerleiter hatte er ein Auto und so waren sie in drei Tagen in der Tschechoslowakei angekommen. Lucy und ihre Tanten waren überglücklich, sich wieder zu sehen und Lucy blieb fast einen ganzen Monat in Znaim. Zurück in Eckenforde freute sich Lucy, wieder bei ihren Freunden zu sein. Sie hörte von Vorbereitungszentren in Deutschland, die Gruppen organisierten, um illegal nach Palästina zu gelangen. So machte sich Lucy in
die Nähe von Fulda auf, wo ca. 80 junge Menschen gemeinsam in einer Kibbutz-ähnlichen Anlage wohnten. »Kibbutz-Gersfeld« wurde es genannt, Lucy lernte dort ein wenig Hebräisch und fand am gemeinsamen Leben viel Freude. Doch Lucy wollte weiter und so machte sie sich im Herbst 1946 auf in Richtung Italien. Über Österreich gelangten sie bei nachts über die schneebedeckten Alpen zu Fuß nach Italien. Es war nicht leicht, erzählt Lucy, da sie in der Dunkelheit die Alpen überquerten und bis zu den Knien im Schnee steckten. Am darauf folgenden Tag erreichten sie das DP-Lager in Mailand und konnten dort übernachten. »Ich war so glücklich aus Deutschland heraus zu sein, dass mir sogar das Nachkriegs-Italien wie ein Paradies erschien.«
Die nächsten Monate verbrachte Lucy in einem DP-Lager in Rivoli, in der Nähe von Turin. Dort verbrachte sie den Winter 1946/47 und im Frühjahr 1947 machte sie sich auf den Weg nach Rom. In der Zwischenzeit hatte sie Englisch und Italienisch gelernt und durch den Verkauf von Zigaretten am Schwarzmarkt ein wenig Geld verdient. In Rom wurden sie von Gesandten aus Israel betreut und im Mai 1947 kam sie zu ihrer letzten Station in Italien – einem kleinen Ort in der Nähe von Bari. Von dort aus ging sie auf das Schiff, ein Dampfschiff namens „Mordei Hagettot“ (Ghetto-Widerstandskämpfer), das sie nach Israel bringen sollte. Auf dem Schiff wurden Trinkwasser und Essen rationiert. Lucy erzählte, dass es eigentlich genügend zu essen gab, denn die meisten waren seekrank und konnten so und so keine Nahrung zu sich nehmen. Gewaschen haben sie sich mit Meerwasser und bei Nacht saßen sie unter dem Sternenhimmel, sangen hebräische Lieder und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Nach zehn Tagen näherten sie sich Palästina und erhielten den Befehl, von nun an unter Deck zu bleiben. Lucy beschreibt die Situation als fast untragbar, der Gestank war furchtbar im Frachtraum, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Engländer sie entdecken würden. Am zwölften Tag war es so weit, die Briten umzingelten mit drei Kriegsschiffen die „Mordei Hagettot“. Die Besatzung des kleinen Dampfschiffs versuchte sich mit allen Mittel gegen die Übernahme durch die Briten zu wehren. Die Soldaten begannen Tränengas zu sprühen und überschwemmten das Schiff mit kaltem Wasser. Nachdem sich »die Luft klärte, war alles friedlich, die Soldaten sprachen mit uns, verteilten Schokolade und Zigaretten und alle beruhigten sich«. Eines der Schiffe schleppte sie ab und brachte sie in den Hafen von Haifa. Es wurde ihnen aber nicht erlaubt, in Palästina zu bleiben, und nachdem
sie umgeschifft worden waren, wurden sie nach Zypern gebracht. Im Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen und zwei Monate später konnte sich Lucy endlich auf den Weg ins langersehnte Israel machen. Nachdem Lucy den Militärdienst abgeleistet hatte, heiratete sie und begann, sich ein Leben in Israel aufzubauen. Ihren zweiten Mann lernte sie in einem Kibbutz kennen. Heute lebt Lucy in Netanya, hat zwei Töchter und zwei Enkel. Ihr jüngster Sohn war Rockmusiker und ist schon verstorben. In Yad Vashem hat Lucy Vorträge gehalten, an Workshops teilgenommen und auch an Schulen in Israel hat sie über ihre Vergangenheit gesprochen.