OE1-Beitrag
  • Verena Ferstl, Schülerin, traff als Botschafterin der Erinnerung im Oktober 2007 die
  • Überlebende Helga Zitcer in London.

Die Narben sind unvergesslich

Lebensgeschichte von Helga Zitcer

25. Oktober 2007. Ganz London ist längst auf den Beinen, als ich kurz vor Mittag mit großer Spannung und Neugier auf meine Überlebende Helga Zitcer treffe. Ich hatte eine ältere Dame erwartet und bin vollkommen überrascht als ich plötzlich einer unglaublich jung gebliebenen, dynamischen Frau gegenüber stehe.
Helga lädt mich zum Lunch zu Fortnum & Mason ein und erzählt mir vor der atemberaubenden Kulisse des Nobelrestaurants ihre Lebensgeschichte…

Helga Zitcer wurde am __. Juli 1929 geboren und wuchs bei ihren Eltern in Linz, Klostergasse 1 auf. Ihr Vater war Österreicher, ihre Mutter stammte aus Osteuropa. Die Familie war nicht sehr religiös.
Helgas Eltern hatten ein gut gehendes Geschäft für Herren-, Damen- und Kinderbekleidung.
Sie wurde tagsüber von einem Kindermädchen betreut und bekam nur wenig vom Judenhass mit.
Als Hitler in Linz einmarschierte, wurde eine große Parade veranstaltet. Neugierig schaute die kleine Helga aus dem geöffneten Fenster, um zu sehen, was draußen los war. Sie war beeindruckt von der großen Menschenmenge auf den Straßen und beobachtete alles aufmerksam. Plötzlich hörte sie jemanden rufen. Die Nachbarin aus dem Haus gegenüber hatte ebenfalls das Fenster geöffnet und steckte ihren Kopf heraus. Laut und drohend schrie sie hinüber: "Dreckiges Judenkind, mach' das Fenster zu!"

In der Reichspogromnacht im November 1938 wurden die Schaufenster des Geschäftes eingeschlagen und Christen durften nicht mehr bei Juden arbeiten.
Ihr Vater weigerte sich, sein hart erworbenes Geschäft aufzugeben und wurde deswegen im Winter 1938/39 ins Konzentrationslager nach Dachau geschickt.
Da Linz judenrein gemacht wurde, musste die Familie die Stadt verlassen. Glücklicherweise hatten sie Verwandte in Wien, bei denen Helga und ihre Mutter kurzfristig unterkamen. Während die Mutter für sie beide eine neue Unterkunft suchte, kam Helga in ein provisorisches Kinderheim.

Als sie 8 Jahre alt war, klopfte um 3 Uhr Früh jemand an der Tür. Helga ist sich nicht mehr sicher, um es die SS oder die SA war, jedenfalls wollten sie die Wohnung inspizieren und befahlen ihnen bis 7 Uhr die zwei Zimmer zu räumen, weil sie von ihnen gebraucht würden. Ganz aufgeregt und nervös machten sie sich daran, die Zimmer soweit als möglich von ihren Privatsachen zu befreien. Um 7 Uhr kam niemand.
Das ist ein kleines Beispiel dafür, wie die jüdischen Leute terrorisiert wurden.

Während Helgas Vater in Dachau war, stand sie mit ihrer Mutter täglich bei verschiedenen Fremdenkonsulaten Schlange, um Einreisevisa zu bekommen. Sie versuchten es in Australien, England und sogar in China. Bevor man jedoch in einem Land aufgenommen wurde, musste man Garanten in diesem Land finden. Das war für die kleine Familie nicht leicht, da sie ja alles verloren hatten. Zu dieser Zeit gab es in den Ländern noch keine Sozialhilfe für Vertriebene, wie es heute der Fall ist.

Im März 1939 wurde Helgas Vater aus Dachau entlassen. Er bekam ein Visum nach England. Helga kam 1939 mit dem Kindertransport nach Schweden. Ihre Mutter ging als Dienstmädchen nach London.
Helgas erste Familie in Schweden war sehr liebevoll und sie wurde herzlich aufgenommen. Sie verstand sie gut mit der gesamten Familie.
Nach einer Zeit musste sie die Familie aber verlassen und kam zu einer anderen. In der zweiten Familie traf Helga auf eine traurige und verbitterte Frau. Das Mädchen schieb ständig Briefe an ihre Eltern, aber da nie einer zurückkam, sagt die Frau zu Helga, dass ihre Eltern sowieso schon tot seien und sie sich nichts vormachen solle.

Nach Kriegsausbruch ging ihr Vater freiwillig zum englischen Militär und konnte seine Tochter durch das Rote Kreuz nach England bringen.
Nach fast 4 Jahren in Schweden war sie sich sehr von ihren Eltern entfremdet. Die Familie konnte es selbst kaum glauben, dass sie sich alle jemals wieder sehen würden. Aber das Glück stand auf ihrer Seite. Der Großteil der Verwandten wurde vernichtet.
Verständlicherweise fällt es Helga Zitcer sehr schwer über ihre grausamen Erinnerungen zu sprechen. "Die Narben sind unvergesslich."

Ein Gedicht aus der damaligen Zeit, dass von Schulkindern auf den Straßen gesungen wurde, ist ihr bis heute in Erinnerung geblieben:
Heil Schuschnigg unser Führer, wir werden immer dürrer,
Die Juden immer fetter, d'rum Hitler unser Retter!

Aus der Sicht der Überlebenden haben sich die Menschen der Welt nicht verbessert. Die Katastrophen und das Leiden von Millionen Menschen aufgrund von Machtdrang und Religionsverschiedenheiten sind für sie unbegreiflich.
Die ständige Weiterentwicklung der Waffen bereitet Helga Zitcer große Sorgen, "aber so ist leider das Leben".

Auf die Frage warum erst 50 Jahre vergehen mussten, bis Österreich sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt und warum auch viele Überlebende nicht von diesem Thema sprechen antwortete sie, dass man zuerst alle Ereignisse verdrängen und die Vergangenheit zurücklassen wollte. Es musste auf beiden Seiten Zeit vergehen, bevor man über die schrecklichen Geschehnisse der damaligen Zeit sprechen konnte.

Nach dem Krieg haben sich Helgas Eltern ein neues Geschäft erworben. Sie selbst hat drei Jahre lang eine Schneidereiakademie besucht und anschließend im Geschäft mitgearbeitet.
Ihr Vater hat von seiner harten Arbeit nicht mehr viel profitiert. Er starb frühzeitig an einem Herzinfarkt. Ihre Mutter starb 18 Monate später.
Nach 38 Jahren Ehe starb auch Helgas Ehemann. Bis heute lebt sie in London und hat zwei Söhne. Einer davon ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt ganz in ihrer Nähe.
Helgas zweiter Sohn hat Medizin studiert und lebt in den USA. Sie sehen sich nur zwei Mal jährlich, sind aber in reger telefonischer Verbindung.

Ihre frühere Heimat hat Helga nie vergessen. Vor einigen Jahren besuchte sie zusammen mit ihrem Sohn ihr Geburtshaus in Linz. Die Familie, die heute darin wohnt, empfing sie freundlich und war sehr gastfreundlich. Sie führte Helga ins Wohnzimmer, wo sie an der Wand ein übergroßes Portrait ihres Mannes in Naziuniform hängen hatte. Ihrem Sohn wäre fast das Herz stehen geblieben, sie selbst konnte nur verständnislos den Kopf schütteln.

Nach dem Tod ihres Mannes hat sich Helga mit der Kunst befasst und arbeitet jetzt als Bildhauerin. Sie hat schon an vielen Ausstellungen teilgenommen und hat viel Freude daran.
Helga hat viele gute Freunde und ist selten allen. Sie freut sich, dass sie soweit gesund ist. Sie geht zwei Mal wöchentlich ins Schwimmbad und liebt Skifahren.

Obwohl ihr leben ziemlich dramatisch war, ist sie froh, noch DA zu sein und wäre sehr glücklich darüber, wenn sie noch einmal 40 sein könnte…