OE1-Beitrag

Dieser Brief stieg im Mai 2003 in den Himmel

Sehr geehrter Herr Friedländer, ich habe mich aufgrund eines Projektes, dessen Name „A Letter to the Stars“ lautet, mich mit Ihnen und Ihrer Lebensgeschichte befasst. Aufgabe war es, Informationen über die Person, die man sich aussuchte, in meinem Fall waren das Sie, zu recherchieren. Ich habe mich per Telefon und auch im Gemeindebezirk über Ihre Lebensgeschichte informieren wollen, jedoch fand ich keine Informationen. Das heißt, ich habe nur die Ausgangsinformationen, die mir von Anfang an gegeben waren. Mir war von Anfang an nicht klar, was ich in diesen Brief genau schreiben sollte. Es sollte ja ein Symbol darstellen, dass man sich der Opfer des Holocausts erinnert. Jedoch wusste ich nicht, was dies genau bedeutete. Sollte ich vielleicht einen Brief schreiben, in dem ich eine Seite lang steht, welchen Beruf, welche Eltern, was für Geschwister Sie hatten? Soll bei dieser Veranstaltung nicht die Erinnerung an die Menschen geweckt werden? Und wird diese Erinnerung dadurch geprägt, was für eine Sozialnummer man hatte? Dieser Meinung bin ich nicht. Erinnerung an einen Menschen werden durch den Menschen selbst geprägt, und nicht etwa Daten und Fakten von seinem Leben. Jedoch können Daten und Fakten die Lebensgeschichte der Person einem näher bringen, so dass man sich vorstellen kann, was für ein Mensch die Person war. Daher tut es mir auch sehr Leid, keine weiteren Informationen zu Ihnen gefunden zu haben, denn mit denen käme ich Ihnen ein wenig näher und könnte Sie so besser verstehen. Meine einzigen Daten sind ihr Name, wann sie geboren wurden, eine ihrer Wohnadressen in Wien, wann Sie nach Maly Trostinec gebracht wurden und schließlich, wann Sie gestorben sind. Mit diesen Daten werde ich nun versuchen, einen halbwegs sinnigen Brief zu schreiben. Sie wurden im Jahre 1897 geboren und sind 1942 während dem Holocaust gestorben. Das heißt, sie haben den ersten Weltkrieg erlebt und überlebt. Als der Krieg ausbrach, waren Sie 17 Jahre alt und müssten daher am Schlachtfeld gewesen sein. Ich könnte es mir nicht vorstellen, am Schlachtfeld zu stehen und zu kämpfen. Erzählungen vom Schlachtfeld handeln ja immer von Rauch, Gewehrschüssen und Geschrei, meistens jedenfalls. Es ist für mich ein Horrorszenario, da draußen zu stehen, alleine, nicht wissend, ob ein Querschläger oder eine gezielte Kugel einen trifft und man stirbt. So etwas zu überstehen ist schon eine unglaubliche Leistung. Und diese scheinen Sie ja gebracht zu haben. Es ist eine Schande, dass tapfere Männer wie Sie, die auch in Situationen wie dem Krieg überlebt haben, nur anhand eines grausamen Regimes getötet wurden. Jedoch haben wir Menschen gelernt. Die 6 Millionen Toten sind der teure Preis, den wir Menschen für die bittere Lektion zahlen mussten, die wir durch das NS-Regime gelernt haben. Ich hoffe, etwas Ähnliches wird es nie wieder geben. Damit komme ich nun zum Ende dieses Briefes. Abschließend will ich nun sagen: Herr Friedländer, Ihr Tod war nicht vergeblich. Hochachtungsvoll Sebastian Feurstein