Die letzten Zeugen - Das Buc

RUTH KELLER


 
 

RUTH KELLER

(früher Advokat)
geb. 1928-03-15
lebt heute in den USA


Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.

Sophie Strohmeier, 19, Schülerin am Gymnasium Hegelgasse in Wien 1, ist als Botschafterin der Erinnerung in New York der Überlebenden Ruth Keller begegnet, die das NS-Regime in einem Internierungslager und einem Kinderheim in Frankreich überleben konnte, während ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden.

Die Lebensgeschichte von Ruth Keller

Meine erste Begegnung mit Ruth war im Museum of Jewish Heritage, wo Ruth arbeitet. Ruth gab einer Gruppe von uns Botschaftern eine Führung durchs Museum und wir waren alle ganz hin und weg von ihr; sie ist ein ziemliches Energiebündel und verpackte während der Tour vieles, was sie erzählte, mit einem gutmütigen Humor, ohne dass sie so die Bedeutung ihrer Worte herabsetzte. Sie ließ uns wissen, dass sie sich sehr, und zwar auch sehr differenziert, mit dem Thema des Holocausts oder überhaupt das Verhalten von Menschen beschäftigt hatte. Mir gefielen ihrer Aussagen sehr gut und ich war überhaupt sehr beeindruckt und überglücklich, sie kennen zu lernen.

Nach dem Empfang setzten wir beide uns mit einem Kaffee zusammen und sie begann gleich, mir zu erzählen. Das meiste, was sie mir auch bei unseren weiteren Treffen erzählte, bestand aus einzelnen Anekdoten. Für mich sind es diese kleinen Geschichten, wie die, die Ruth mir an jenem Tag erzählte, diejenigen Geschichten, die Ruths ganze Geschichte wirklich ausmachen. Sie erzählte mir an diesem Tag von einer Nachbarin in Wien. Diese kam vielleicht aus Böhmen, hatte vier Kinder und wenig Geld. Ruths Vater, der Besitzer eines Schuhgeschäftes, schenkte den Kindern jedes Jahr zu Weihnachten je ein paar Schuhe. Ruth selbst hatte natürlich dank ihres Vaters immer die hübschesten neuen Schuhe. Als sie eines Tages über eine der Brücken am Donaukanal mit einem besonders schicken Paar Schuhe spazieren ging, sie muss ca zehn Jahre alt gewesen sein, hörte sie plötzlich hinter sich ihre Nachbarin rufen, „Solche Schuhe dürfen Judenkinder nicht tragen.“ Ruth zuckte mit den Schultern, ging weiter und ignorierte sie. Da packte die Nachbarin Ruth beim Kragen, zog sie nach hinten und zerrte dem strampelnden Mädchen vor all den regungslosen Passanten die Schuhe ab. Ruth erinnert sich noch an ihre weißen Socken, die immer schwärzer wurden, als sie mit ihnen weinend nach Hause ging.

In einer anderen Geschichte erzählte sie mir von einer Lehrerin, der sie, wie es damals Tradition war, jeden ersten Mai einen kleinen Strauß Maiglöckchen mitbrachte. Dieser wurde dann in einen großen Behälter mit Wasser gestellt, zusammen mit allen anderen Sträußen. Am 1. Mai 1938 brachte Ruth wie gewohnt den kleinen Strauß, die Lehrerin sammelte die Sträuße ein, legte sie in den Behälter, Ruths Strauß jedoch ließ die demonstrativ ohne irgendein Kommentar einfach in den Mistkübel fallen. Man bedenke, was für einen Eindruck so eine anscheinend winzige Geste auf ein Kind macht.

Es gab noch viele andere Geschichten, die Ruth mir erzählte; von ihrer streng orthodoxen Großmutter oder den geschickten Einfällen der Mutter, wie man z.B. am besten einen Armreif in einer Dose Niveacreme versteckt.

Ihre zusammengefasste Geschichte versuchte Ruth mir an einem einzelnen Nachmittag zu vermitteln: Ruth Keller wurde als Ruth Advokat am 15. März 1928 in Wien geboren und lebte während ihrer glücklichen Kindheit in der Othmargasse 42 im 20. Bezirk. Ihr Vater, Hersch Josef Advokat, war ein überzeugtes Mitglied der sozialistischen Partei und besaß zusammen mit seinem Schwager ein Schuhgeschäft im 9. Bezirk. Ihre Mutter, Fanny Goldmann, kam aus einer streng gläubigen Familie. Ruth beschreibt ihren Vater als einen großartigen Geschichtenerzähler. Zu zweit gingen sie oft im Augarten spazieren während er erzählte, sie hatten dort eine eigene Wiese, die mit Veilchen übersäht war und eine seiner Geschichten handelte von kleinen überirdischen Blümchen, die nie gepflückt werden wollten, da Blumen nur ungestört auf der Wiese glücklich sind wo sie anderen Menschen, Tieren und Vögeln eine Freude machen können. In ihrem kindlichen Freundeskreis nahm Ruth Antisemitismus nicht wirklich war, sie hatte mehrere Freundinnen, bei denen sie zu Hause spielte, zu Chanukka kamen ihre Freundinnen zu besuch und zu Weihnachten war sie bei ihnen eingeladen.

Erst nach dem Anschluss begann Ruth den Antisemitismus in Form von hässlichen Gemeinheiten, die von Lehrern, Mitschülern und Nachbarn kamen, zu bemerken. Manchmal überhörte Ruth die Pläne der Eltern, nach Palästina oder in die USA auszuwandern, doch diese Gespräche bereiteten ihr kein großes Kopfzerbrechen. Das Einzige was ihr wirklich in Erinnerung blieb war eine Postkarte, die von einem Freund der Familie aus den USA kam: Cousins des Vaters lebten nämlich in New York, und er hatte jenen Freund gebeten, diese zu fragen, ob sie ihm bei der Emigration unterstützen könnten. Auf der Postkarte stand jedoch nun, „Noch eher werden Haare auf der Oberfläche meiner Hand wachsen, als dass diese Menschen dir Aufmerksamkeit schenken werden.“

Am 8. November 1938 traten Offiziere bei den Advokats die Tür ein und verhafteten den Vater. Dieser war zwar überzeugt, dass das Hitlerregime nicht lange halten würde, flüchtete jedoch sofort zu Verwandten nach Belgien. Ruth und ihre Mutter ließen alles in der Wohnung stehen wie es war und folgten ihm. In Belgien schaffte Ruth es schnell, sich anzupassen. Sie lernte Flämisch und Französisch, und ihre Mutter schickte sie auch sofort in den Hebräischunterricht, da es ihr sehr wichtig war, dass Ruth diese Sprache lernte. Ruth war, mit elf Jahren, die beste in Hebräisch, noch besser sogar als die sechzehnjährigen Mädchen, die prompt begannen, Ruth zu terrorisieren. Irgendwann gingen sie Ruth an und rissen ihr eine Goldkette so brutal vom Hals dass sie blutete, und Ruth beschloss von selbst, nicht mehr in den Hebräischunterricht zu gehen.

Im Mai 1940 begannen die Bomben auf Antwerp zu fallen und die Advokats flüchteten mit hunderten Belgischen Flüchtlingen nach Frankreich. Züge wurden von Bomben getroffen und verbrannten. Ruths Familie schaffte es nach Toulouse in Haute-Garonne. Hier wurde der Vater als „enemy alien“ verhaftet und in ein Lager in St Cyprien an der mediterranen Küste geschleppt. Im Spätsommer schafften Ruth und ihre Mutter es, ihn dort zu besuchen, sie wurden jedoch am Rückweg ebenfalls verhaftet und in ein Lager in Argèles sur mer interniert. Hier gab es wenig zu essen und Krankheiten, Ruth durfte jedoch, dank eines Senegalesischen Wärters, im Meer schwimmen. Nach circa vier Wochen planten Ruth und ihre Mutter zu entkommen. Ruths Mutter hatte einige Dollarscheine bei sich, ein paar 50-Dollar-Noten und einen Stapel 1-Dollar-Noten, und sie stapelten diese so aufeinander, dass es ein hübsches Päckchen ergab und aussah, als bestünde es nur aus wertvollen Scheinen. Ruth, die Französisch bereits fließend sprach, feilschte mit dem Lageraufseher: Sie würden gerne das Päckchen mit ihm teilen, wenn er sie doch freilassen würde, sagte sie. Der Lageraufseher sah den 50-Dollar-Schein und willigte erfreut ein; Ruth und ihre Mutter hinterließen ihm einen kleinen Stoß 1-Dollar-Scheine und verschwanden nach Montpellier.

In Montpellier fand Ruths Mutter arbeit als Schneiderin in einem kleinen Geschäft, Ruth besuchte das Lycée, wurde aber bald sehr krank und musste zwei Monate im Krankenhaus verbringen. Hier wurde ihnen empfohlen, Ruth in ein Heim für jüdische Kinder zu schicken. Dieses lag in Shabanne, nicht weit von Limoges. Als Ruth hier Klassenbeste wurde, und nicht nur das, sondern überhaupt die besten Noten der Region hat, durfte sie als Preis im Juni 1942 ihre Eltern wieder sehen. Ruths Mutter war inzwischen nach Marseille gezogen, und mit ihr zusammen besuchte Ruth nun den Vater in einem Lager in Les Milles, einer Ziegelfabrik bei Aix-en-Provence. Eine französische Organisation beauftragte, alle Kinder unter 16 Jahren aus dem Lager zu evakuieren. Ruth war 14 Jahre alt und sah ihre Eltern zum letzen Mal, ohne sich dessen bewusst zu sein. Am nächsten morgen sagte man ihr einfach, ihre Eltern wären fort. Erst nach Kriegsende erfuhr Ruth vom Schicksal ihrer Eltern: sie wurden nach Auschwitz gebracht und sofort ermordet.

Nach der Trennung erkrankte Ruth schwer an Dyphteria und wurde zurück nach Shabanne gebracht. Jetzt, wo Frankreich besetzt war, wurde Ruths Name auf Renee Adalbert geändert und sie tauchte mehrere Monate in einem katholischen Kloster in Haute Savoie unter; mit der Oberin verband sie bis an deren Lebensende eine enge Freundschaft. Im August 1943 schaffte Ruth es, nach Lausanne zu flüchten. Hier hatte sie großes Glück und wurde sie von einer lokalen Familie liebevoll aufgenommen. Für den Rest des Krieges ging sie in Lausanne zur Schule. Eines Tages, nach Kriegsende, wurde Ruth aus der Schule geholt um die Mitteilung zu erhalten dass die Eltern nach Auschwitz geschickt worden waren, man habe aber keinerlei Nummer für sie, das heißt, sie starben entweder auf der Reise oder kamen gleich in die Gaskammer. Ruth war siebzehn, hatte noch nie in ihrem Leben irgendetwas von Auschwitz oder Gaskammern gehört, und erlitt prompt einen Nervenzusammenbruch, den man mit einer damals in der Schweiz angewendeten „Schlafkur“ behandelte. Ruth merkte irgendwann, dass sie sich an ihre Reaktion gar nicht erinnern konnte, wusste nur, dass sie im Klassenbuch zwei Wochen lang als „fehlend“ eingetragen war – ihre Familie erklärte ihr dann, man habe sie zwei Wochen lang in künstlichem Tiefschlaf gehalten.

Ruths Gastfamilie hätte vorgehabt, Ruth zu adoptieren, doch ihre amerikanischen Verwandten kamen dazwischen und verhinderten dies. Man drängte sie, in die USA zu reisen, also reiste Ruth über den Atlantik, wenn auch mit wenig Begeisterung. Sie sprach kaum ein Wort English und brachte sich die Sprache schließlich durchs Kinogehen bei.

Ruth studierte Französisch, gründete eine Familie und wurde Französischlehrerin an einer High School. Mindestens einmal in der Woche telefoniert sie heute noch mit ihrer schweizer Familie, und am liebsten sieht sie sich selbst als Schweizerin an; Französisch spricht sie besser als Englisch.

Als Ruth und ich uns zum ersten Mal schrieben schienen wir eigentlich sofort zu wissen, dass wir einander mochten. Erstens teilen wir viele Leidenschaften, z.B. für Musik, Literatur oder die Französische Sprache, zweitens mochte ich einfach von Anfang an wie authentisch, ehrlich und unerschrocken Ruth ist. Ich konnte gut mit ihr reden, fühlte mich von ihr verstanden, und ich glaube, oder ich hoffe, dass sie dasselbe von mir sagen würde. Einmal nahm Ruth mich mit in eine exklusive Ausstellung im Metropolitan Museum of Art. Wir redeten lange über Gott und die Welt, über die Ereignisse der damaligen Tage (ein Student war in der Virginia Tech Amok gelaufen und unter seinen zahlreichen Opfern befand sich eben ein Holocaustüberlebender), über unsere Leben und Weltvorstellungen. Hie und da unterhielten wir uns auf Französisch (im Ernst, am liebsten hätte ich Ruth als Französischlehrerin). Es gibt in Ruths leben viel - nicht nur den Holocaust - das sie eigentlich zu einem ziemlich geschlagenem Menschen machen könnte, aber es gibt eben etwas Unglaubliches in Ruth, das sie stolz und aufrecht hält, und zwar auf eine Art, die für mich ziemlich Vorbildlich ist.

Sophie Strohmeier, Gymnasium Hegelgasse, Wien, 2007


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