Die letzten Zeugen - Das Buc

THEA MARGARETE RUMSTEIN


 
 

Diese Geschichte wurde im Projekt "Botschafter" erstellt.

Unsere Woche in New York City

Wie Nina Kompein die Reise nach New York und die Begegnung mit Überlebenden erlebte.

Nervös, aufgeregt, mit einem mulmigen Gefühl – aber auch mit einem Gefühl freudiger Erwartung – trafen wir uns am 10. April 2007 auf dem Flughafen Wien Schwechat. „Wir“ bedeutet 30 Schüler und Schülerinnen, die die Möglichkeit erhielten, für eine Woche nach New York City zu fahren, um dort Interviews mit Holocaust-Überlebenden zu führen und dokumentieren, aber auch um sich die Stadt anzusehen und so die Welt kennen zu lernen, in die diese Menschen vor, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg geflohen sind.

Wir saßen nun in einer Boeing 767 und befanden uns auf einem Direktflug in die Welt der Hollywood-Schinken, der unzähligen McDonald’s-Lokale (von denen es dort fast mehr gibt als Einwohner), in die Welt der gelben Taxis und spießigen Stretch-Limos – in die USA.

Nicht wenige dachten dabei an die zwei Flieger, die vor nicht ganz sechs Jahren ins World Trade Center krachten. Das war auch unser Ziel – New York natürlich – das WTC steht ja nicht mehr. Nicht witzig. Gar nicht witzig…

Überraschenderweise war das Essen im Flieger echt gut, die Sitze hingegen waren recht unbequem, sofern man versuchte zu schlafen. Trotzdem: Ein durchaus angenehmer Flug mit anschließend viel harmloseren Kontrollen auf amerikanischem Boden, als erwartet.

Mit zwei Busen ging es nun Richtung Jugendherberge, in welcher wir die folgende Woche verbringen würden. Busfahrten sind eigentlich nichts besonderes, doch während dieser fühlte man sich, als würde man mit den Flintstones unterwegs sein – entweder fehlte an manchen Stellen der Asphalt, oder er war schlichtweg zu dick aufgetragen, hatte Risse.

Vorbei an vielen Stretch-Limos, über eine Brücke und durch ein eigenartiges Viertel, landeten wir schließlich in unserer Jugendherberge.

Schnell teilten wir uns nun in die uns zugeteilten Zimmer auf, packten einen Teil des Gepäcks aus und schon bekamen die meisten von uns die erste New Yorker U-Bahn-Fahrkarte ihres Lebens.

Zuallererst ging es jedoch zu Fuß in den aus zahlreichen Filmen bekannten Central Park. Man würde kaum glauben, wie viele Leute mitten in DER Großstadt joggen, Tennis spielen, oder sonst in irgendeiner Weise Sport betreiben, würde man es nicht selbst gesehen haben. Faszinierend…

Mit der U-Bahn fuhren wir nun Richtung Süden und befanden uns auf dem Times Square. Doch anders, als es viele Amerikaner gerne behaupten und es viele Europäer gerne glauben, war Edison nicht alleine für die Verwandlung dieses Plätzchens in ein Lichtermeer verantwortlich. Er hat zwar die Glühbirne erfunden, aber dass New York schon seit geraumer Zeit als die Stadt, die niemals schläft, bekannt ist, hat es hauptsächlich dem Kroaten Tesla und „dessen“ Wechselstrom zu verdanken.

Wir befanden uns also zwischen den komplett irreal wirkenden Wolkenkratzern Manhattans und verstanden noch gar nicht wirklich, was das hieß, als wir das erste Mal einen amerikanischen McDonald’s betraten. Unterscheidet sich natürlich nicht stark von den uns bekannten Mc-ies, aber die Burger schmecken hierzulande schon etwas besser.

Endlich satt, spazierten wir in kleinen Gruppen den Times Square auf und ab und machten uns ein Bild der dort befindlichen, Geld verschlingenden Läden, denen auch unsere Brieftaschen noch zum Opfer fallen würden.

Recht müde von der Reise und den neuen Eindrücken, legten wir uns in unsere Betten – und schliefen.

In der Früh aßen wir unser erstes amerikanisches Frühstück, das sich aus einem Bagel mit was drauf oder drin, einem Muffin oder etwas ähnlichem und Kaffee, Tee oder einem Kakao mit Wasser! anstelle von Milch zusammensetzte. An all dem war eigentlich nichts auszusetzen, aber das Plastikgeschirr hatte doch eine recht befremdende Wirkung. Wenn man dabei jedoch beachtet, dass Teile von Manhattan auf Abfall – ganzen Bergen von Müll – errichtet sind, scheint es irgendwie normal, fast selbstverständlich.

Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg zu einem Self Help Kaffeehaus in Queens, wo wir das erste Mal Holocaust-Überlebende in New York trafen. Diese hatten wir vorher nicht gekannt, doch mangelte es uns keinesfalls an Gesprächsthemen. Die meisten von uns führten äußerst interessante Konversationen. Einige der Überlebenden hielten strikt an gegenwärtigen Themen fest und so redete man über alltägliches und erfuhr dadurch einiges über New York, sich dort befindliche Museen, aber auch das Schulsystem, die Essgewohnheiten der Amerikaner und vieles mehr.

Der Vormittag verging schnell und etwas später fanden wir uns im Leo Baeck Institute wieder, wo wir einen Vortrag über die Arbeit, die Aufgaben und die Erfolge dieses Institutes hörten. Am Eingang gab es eine Kontrolle, so wie man sie von Flughäfen kennt, mit der Begründung, dass das Institut aufgrund der Größe und der Wichtigkeit für die jüdische Gemeinde und die geschichtliche Recherche ein überaus großes Terrorziel darstelle. Ich möchte keinesfalls die besondere Bedeutung und den Wert dieser Einrichtung in Frage stellen oder gar verneinen, doch kamen mir diese Sicherheitsmaßnahmen etwas übertrieben vor…
Nach diesem Programmpunkt teilten wir uns in kleinere Gruppen auf. Meine bzw. unsere Gruppe ging über den Union Square zu Ground Zero (wie er mittlerweile aber nicht mehr genannt wird). Man stellt sich viel vor, bevor man schließlich vor den Absperrungen steht, aber im Grunde genommen sieht es nicht anders aus als eine Baustelle, etwa in der Größe des Dorfes in dem ich wohne. Groß. Für eine Baustelle jedenfalls. Die eigentlich keine – oder doch? – ist.

Zu dritt gingen wir ins „The Millenium Hilton“ Hotel und drückten in einem raketenähnlichen Lift den Knopf mit der Zahl 55 (oberstes Stockwerk). Oben angekommen hatten wir verschlagene Ohren und gewittrige Magensäfte, aber die Aussicht lenkte uns sofort davon ab. Wolkenkratzer, Lichter, Fenster – viele Fenster – und die Brooklyn Bridge. Das bedeutete filmen, schauen, fotografieren, schauen, atmen!, schauen – losreisen und wieder gehen.

Wieder den Asphalt unter den Füßen erzählten wir den anderen von unserem kleinen Ausflug und Sekunden später waren wir wieder im 55. Stock. Diesmal realisierte ich auch die Governor’s Suite, die Presidential Suite und die Mayoral Suite, die ich vorher in all der Aufregung komplett übersehen hatte. Es ist zweifellos ein überwältigendes Gefühl, wenn man sich in einem Hotel der weltweit wahrscheinlich bekanntesten Hotel-Kette befindet. Trotzdem wird man ein ganz anderes, ganz bestimmtes Gefühl nicht los, nämlich dass man in Dagobert Duck’s Geldspeicher badet, oder zumindest in eine überaus perverse Wirklichkeit eingetaucht ist, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit diesem Geldspeicher besitzt (an dieser Stelle ist „besitzt“ zweifelsfrei das richtige Wort, denn es passt wie maßgeschneidert zum Kontext!).

Von dort stiefelten wir an der Brooklyn Bridge vorbei Richtung China Town, wo es entgegen aller Erwartungen sehr still und ruhig war. Die Geschäfte unterschieden sich kaum voneinander, ebenso wenig die Restaurants mit ihren tollen Auslagen. In fast jedem dieser Schaufenster konnte man irgendwelche toten, rot-braun glänzenden, kopflosen Tiere bestaunen, was äußerst hygienisch und appetitanregend wirkte.

Langsam gingen wir die Straßen entlang und kamen schließlich nach Little Italy, wo wir in einem Netzwerk von Familienbetrieben in einem sehr authentisch wirkenden italienischen Restaurant zu Abend aßen. Vor allem die langsame, schleppende, wortkarge Bedienung vermittelte ein überaus italienisches Flair.

Die Pizza war zwar auch sehr italienisch, schmeckte aber trotzdem gut.

Am Donnerstag hieß es dann, wir sollten uns schön anziehen. Schön. Anzüge, Krawatten, Hosenanzüge, Kleider, Röcke,…niedrige Schuhe. An sich nichts Schlimmes, doch es regnete. Trotzdem schafften wir es, mehr oder weniger trocken das „Museum of Jewish Heritage“ zu erreichen. Dort führten uns zwei Holocaust-Überlebende durch die Räume und Etagen des Museums, erklärten nicht selten die ausgestellten Stücke auch anhand eigener Erlebnisse und steigerten somit unser ohnehin schon großes Interesse.

Nach der Museumsbesichtigung war es endlich so weit. Wir trafen zum ersten Mal „unsere“ Überlebenden. In einem Raum des Museumsgebäudes aßen wir vom Buffet und unterhielten uns über dies und jenes. Anders als meine Gesprächspartnerin im Self Help Kaffeehaus, redete Thea Rumstein, mit der ich einen Monat lang vor diesem Treffen schon in E-Mail-Kontakt stand, offen über Alltägliches, ihre Familie aber auch ihre Erlebnisse während der Zeit des Nationalsozialismus. Da wir an diesem Nachmittag nicht genug Zeit hatten, um das vorgesehene Interview zu führen und uns etwas besser kennen zu lernen, luden Thea und ihr Mann Jack, der auch mitgekommen war, mich zu sich nach Hause ein.

Am Freitag hatten wir einen freien Vormittag und so sahen sich etwa zehn Leute unserer Gruppe New York von oben an. Wir unternahmen zwar keine Spritztour mit dem Helikopter, aber mit einem „Raketenaufzug“ ging es ins 78. Stockwerk des Rockefeller Centers. Von dort aus führte eine Rolltreppe ins 79. Stockwerk. Die Höhe – nicht beeindruckend, wenn man auf einem Berg stehen würde, doch die Tatsache, dass es das 79. Stockwerk eines Gebäudes ist, lässt einen nicht kalt. Besonders warm war es da oben aber aufgrund des Windes trotzdem nicht.

Am Nachmittag spazierten wir dann durch die Lower East Side, wo uns ein Gedenkdiener auf Synagogen und andere Zeichen der Präsenz des Judentums in diesem Viertel aufmerksam machte. Nach diesem informationsreichen Marsch durch die Straßen und die Geschichte dieses ehemaligen Judenviertels, stärkten wir uns im berühmten Katz’s Delicatessen, der Bude, in welcher die berühmteste Szene aus „Harry & Sally“ spielt. Hoffentlich brauchte Sally damals nicht aufs WC…

Am nächsten Tag standen wir recht früh auf und fuhren mit dem Bus irgendwohin in den Osten Manhattans. Dort besuchten wir einen Jüdischen Gottesdienst. Dieser Gottesdienst unterschied sich stark von den mir bereits bekannten Formen der katholischen oder orthodoxen Messe. Vor allem der Gesang wirkte relativ ausgelassen und weniger streng.

Nach einigen Minuten fing der Rabbi plötzlich an Deutsch zu reden. Das war ein kleiner Schock, denn so etwas hatte ich gar nicht erwartet. Doch das wirklich schockierende und unerwartete war, dass auch er Holocaust-Überlebender ist. Mit wenigen Worten erklärte er seine Herkunft, seine Geschichte und forderte diejenigen auf, sich zu erheben, die ebenfalls wegen des Holocausts Österreich oder andere europäische Länder verlassen mussten.

Plötzlich blieb mir die Luft weg, denn die Anzahl derer, die aufgestanden waren, war keineswegs gering. So wurde das ungeheure Ausmaß des Nationalsozialismus mit einem Schlag sichtbar. Man kann also schwer behaupten, der Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen und Folgen seien Geschichte.

Nach dem Gottesdienst wurden wir eingeladen, am traditionellen Essen teilzuhaben. Wieder hatten wir die Chance, uns mit New Yorker Leuten zu unterhalten. Zwei Frauen, deren Namen ich leider nicht in Erfahrung gebracht habe, erzählten mir eine überaus rührende Geschichte: Sie wurden beide etwa zur gleichen Zeit in New York geboren und verbrachten den Großteil ihrer Kindheit gemeinsam. Als sie 16 Jahre alt waren, verloren sie sich jedoch aus den Augen. Nun, etwa 50 Jahre später, trafen sie sich im März dieses Jahres in eben dieser Synagoge wieder…

In einer kleinen Gruppe spazierten wir die 5th Avenue entlang und schauten mal in dieses, mal in jenes Museum. Unter anderem wagten wir einen kurzen Blick ins „Metropolitan Museum of Art“ und sahen uns das Jüdische Museum an.

Danach besichtigten wir das UNO-Gebäude, wenn auch nur von außen, und gingen in die spätestens seit dem Schwarzen Freitag 1929 bekannte Wall Street. Hin und wieder ließen wir irgendwo ein paar Geldscheine für Essen oder T-Shirts zurück.
Am Abend wurden wir alle von unserem „Projekt-Chef“ auf ein Getränk im Donauturm-ähnlichen Mariott’s eingeladen. Zweifellos eine nette Idee, doch fühlte man sich einmal mehr in die absurde Welt von „Reich und Schön“ versetzt.

Am Sonntag erhielten wir neuerlich den „Befehl“ uns schön anzuziehen. Und wieder regnete es. Nein. Diesmal schüttete es. Als ob schöne Kleidung mit Regen in einer untrennbaren Beziehung stünde.

Diesmal waren wir alle mehr oder weniger durchnässt, als wir in „Museum of Jewish Heritage“ ankamen. Dort fand an dem Tag die jährliche Gedenkfeier für die Opfer des Holocaust, Yom HaShoah, statt. Es war eine schöne Feier, doch aufgrund der Müdigkeit, ausgelöst durch das relativ anstrengende Programm, konnten manche von uns den vielen Reden leider nicht ganz folgen.

Das Wasser stand auf der Straße und auf den Gehwegen und so wurden die noch nicht getrockneten Socken, Strumpfhosen, Hosen…wieder nass. In den Schuhen war mehr Wasser als Füße. Und in der U-Bahn musste man außerdem auf das Wasser aufpassen, das durch undichte Stellen der Decke tropfte, goss.

Um die vereisten Körperteile wieder bewegungsfähig zu machen, duschten viele von uns in den warmen Badezimmern der Jugendherberge.

Als der Regen etwas nachließ, kauften ein paar von uns auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Riesenpizza, die wir im Gemeinschaftsraum der Herberge, den Kultfilm „Saturday Night Fever“ schauend, verdrückten.

Am Montag fuhren eine unserer Betreuerinnen und ich mit einem Hogwarts-Express-ähnlichen Zug (aber ohne Dampflok) nach Long Island und besuchten endlich Thea und Jack Rumstein in ihrem gemütlichen Zuhause. Wir tranken Tee und aßen Wienerwüstchen und schließlich erzählte Thea ihre erschütternde Geschichte. Wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter von Theresienstadt nach Auschwitz kamen, drei Wochen in dieser Hölle überlebten, bevor sie nach Freiberg gebracht wurden und wie sie schließlich von dort nach Mauthausen überstellt wurden, wo die Alliierten Truppen sie im Mai 1945 befreiten. Sie erklärte viele Details und schaffte es trotz des bedrückenden Themas stets ein angenehmes Gesprächsklima beizubehalten. Der Nachmittag verging schnell und um rechtzeitig zur Schlussbesprechung in unserer Jugendherberge zu kommen, mussten wir uns bald verabschieden.

Mit dem Zug fuhren wir durch Queens – vorbei an vielen aus „King of Queens“ bekannten Reihenhäusern und den dazugehörenden Gärten – nach Manhattan zurück und kamen trotz Rush Hour weder lang gezogen noch platt gedrückt in der Kapelle der Herberge an, wo die Schlussbesprechung stattfand.

Um die Woche möglichst stilvoll und elegant zu beenden, gingen wir in eine Karaoke-Bar, die glücklicherweise in einem Keller gelegen war. Andernfalls hätten wir am Ende des Abends noch die Scherben der Fensterscheiben zusammenkehren müssen.
Alles in allem war das ein gelungener Abschluss einer überaus gelungenen Woche. Etwa um vier Uhr oder auch später kippten wir in unsere Betten, bevor wir um elf die Zimmer räumen mussten. Ein paar Stunden später saßen wir schließlich im Bus Richtung Flughafen JFK und verließen in weiterer Folge mit einem klapprigen Blechvogel die Hochburg des Kapitalismus.

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