Die letzten Zeugen - Das Buc

BERTA SHANIV


 
 

BERTA SHANIV

(früher Aptowitzer)
geb. 1921-05-11
lebt heute in Israel

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Berta Shaniv wurde im Mai 1921 in Wien geboren. Sie konnte 1938 nach Holland ausreisen. 1943 wurde sie jedoch in die Lager Westerbork und Bergen-Belsen deportiert. Im Juni 1944 durfte sie nach Palästina emigrieren. Berta Shaniv ist die einzige Überlebende ihrer Familie. Sie lebt heute in Israel.

Wir haben Frau Berta Shaniv ins Herz geschlossen...

Die Schüler und Schülerinnen des Wiener Musikgymnasiums recherchierten die Lebensgeschichte der KZ-Überlebenden.

Die Initiative ging ursprünglich von Frau Shaniv aus. Als sie nämlich vor einigen Jahren in Wien war, stattete sie auch unserer Schule einen Besuch ab und hinterließ freundlicherweise in der Direktion ihre Adresse. Das Projekt „A Letter To The Stars“ war für uns nun willkommener Anlass, mit Frau Shaniv Kontakt aufzunehmen. Unserer Einladung nach Wien kann sie leider nicht Folge leisten. Frau Shaniv hat aber in einem ausführlichen Brief ebenso wie telefonisch unsere Fragen derart detailreich und lebendig beantwortet, dass wir beinahe schon das Gefühl haben, sie persönlich zu kennen.

Berta wurde am 11. Mai 1921 als älteste Tochter von Esther und Juda Leib Aptowitzer geboren. Ihr Geburtshaus steht im 16. Wiener Bezirk, an der Ecke Brunnengasse/Thaliastraße. Sie und ihre beiden jüngeren Schwetern Frieda, geb. am 10.März 1923 und Renée, geb. am 13.März 1930, hatten eine sehr schöne Kindheit. Sehr berührend erzählt Frau Shaniv: „Wir Kinder waren die Hauptsache im Leben unserer Eltern. Die Liebe und Wärme, die ich von meinen Eltern bekam, waren mir eine Stütze für mein ganzes Leben.“

Die Familie übersiedelte später in die Menzelgasse 12, Bertas Zuhause bis zu ihrer Ausreise im November 1938. Die Geschwister spielten oft im Park am Hofferplatz. Frau Shaniv war vor einigen Jahren in Wien und stellte erfreut fest, dass dort das Kinderfreibad immer noch unverändert existiert, gegen dessen Rückwand sie einst gern Ball gespielt hatte. Auch die Volksschule, die sie besuchte, befand sich am Hofferplatz. Bertas Lehrerin hieß Anna Woberschall. Sie war für sie eine wunderbare Lehrerin. Berta hatte einige ständige Freundinnen, mit denen sie spielte und die wie sie Mitglieder in einem zionistischen Jugendbund waren.

Von 1931 bis 1938 besuchte Berta das Realgymnasium im 7. Bezirk, Neustiftgasse 95–99. Ihr Schulweg führte über den Gürtel, wo damals auch schon viel Verkehr war. „Pass auf, wenn du über den Gürtel gehst!“ riet ihr daher oft besorgt die Mutter. Berta war ein fröhlicher Teenager. Ihre Lieblingssänger waren Richard Tauber, Josef Schmidt und Marlene Dietrich („Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt...“). Sie ging gern zur Schule, besonders, wenn Chor war. Berta sang sehr gern, und der Chorleiter, Prof. Leo Lehner, verstand es auch, junge Menschen zu begeistern. Eine Konzertreise nach Prag unter dem Motto „Stimmen der Völker in Liedern“ gehört zu den schönen, unvergesslichen Erlebnissen. Im Schulalltag gab es auch im wahrsten Sinn des Wortes kleine Abwechslungen. Während einer Pause, Berta hielt sich gerade auf dem Gang auf, herrschte ganz plötzlich große Aufregung. Was war los? Eine kleine Maus hatte sich verirrt.

Bertas beste Freundin hieß Wera Kantor. Berta begleitete sie täglich auf dem Heimweg bis zu ihrem Haus Bernardgasse 24. Manchmal wurde sie noch von Weras Mutter und Großmutter freundlich eingeladen, doch mit hinein zu kommen. Frau Dr. Felicitas Bach war Bertas Klassenvorstand und Französischlehrkraft. Frau Shaniv ist der Schule sehr dankbar, weil sie in ihr Neugierde und Interesse geweckt hat. Sie hat sich dort wohlgefühlt: „Ich habe fast nur gute Erinnerungen an die Schule. Wir wurden nie ausgespottet, weder von Lehrern, noch von Schülern, und fühlten uns gleichberechtigt – bis zum Anschluss.“

Nach dem Anschluss mussten die jüdischen Schülerinnen (Berta ging in eine reine Mädchenklasse, außer ihr gingen noch elf jüdische Mädchen in diese Klasse 3) zunächst von den nichtjüdischen getrennt sitzen. Doch das war erst der Anfang: Ihr damals schon bekannte Begriffe wie Konzentrationslager und Rassenlehre hatten plötzlich mit ihrem ganz persönlichen Leben zu tun – eine bedrohliche, unheimliche Vorstellung. Welch einschneidendes Erlebnis der Schulausschluss für Frau Shaniv bedeutet, erkennt man daran, dass sie die Jahre genau mitrechnet: „Im Mai vor 66 Jahren musste ich die Schule verlassen.“ Berta hatte die „Wahl“, die Schule sofort zu verlassen oder noch bis Schulschluss zu bleiben. Sie entschied sich, sofort zu gehen. Sie stand damals ein Jahr vor der Matura. Als Herr Direktor Pilizotti die Zeugnisse verteilt hatte, sagte er zum Abschied: „Vergessen Sie nicht das alte Österreich.“

Wie viele Juden, so wollte auch Berta so schnell wie möglich Österreich verlassen: „In dem Augenblick, als ich da raus bin, war ein Reisepass für mich das Wichtigste.“ Sie bekam glücklicherweise eine Einreisebewilligung von der holländischen Regierung. An die Abreise kann sich Frau Shaniv noch genau erinnern: Ihre Mutter begleitete sie zum Bahnhof, ihr Vater blieb aus Angst, verhaftet zu werden, zu Hause. Als wir Frau Shanivs Schulweg nachgegangen sind und vor ihrem Wohnhaus standen, stellten wir uns auch vor, wie es war – und wie vor allem ihr und ihrer Familie zumute gewesen sein musste, als sie Abschied von ihren Lieben nahm und zum letzten Mal durch dieses Haustor ging: „Ich war 17 Jahre alt, als ich meine Familie verließ. Damals wusste ich nicht, dass es für immer ist ... und so fuhr ich mutterseelenallein in die Fremde.“ Die Mutter stieg zunächst mit ihr in den Zug ein und bat die anderen Fahrgäste, ein wenig auf Berta zu schauen. Während der Fahrt ist ihr besonders ihr Sitznachbar in Erinnerung geblieben, der einschlief und dabei auf sie fiel. Sie hat ihn einfach zurückgeschubst.

Reiseziel war das Werkdorp Wieringermeer in Nordholland. Dort lebten ungefähr 300 jüdische Jugendliche, die meisten kamen aus Deutschland. „Als wir Wiener kamen, lachten sie sich halb tot über unser wienerisches Deutsch.“Die Jugendlichen lernten dort Hauswirtschaft, Landwirtschaft, Gartenbau und vieles andere. Es gab auch eine Tischlerei und eine Schlosserei. Nicht alle waren Zionisten. Aber für die Zionisten, unter ihnen auch Berta, war es eine Vorbereitung für das Leben in Palästina, Israel. Nach der Arbeit lernten die jungen Leute in Kursen Hebräisch. Berta lebte sich sofort gut ein. Die ländliche Umgebung gefiel ihr besonders gut. „Stellt euch vor, lauter junge Burschen und Mädchen. Essen in Hülle und Fülle. Es gab Vorträge und Plattenkonzerte, Singabende“, so Frau Shaniv in Erinnerung an diese Zeit. Aber die schöne Zeit im Werkdorp war leider bald zu Ende.

Im Mai 1940 wurde Holland von den Deutschen besetzt. Nun wurden auch hier Juden auf der Straße gefangen genommen oder aus ihren Wohnungen geholt und in Konzentrationslager in Holland gebracht. Das Werkdorp wurde im März 1941 aufgelöst. Es ging alles sehr schnell. Eine Reihe von Autobussen mit Gestapoleuten kamen im Werkdorp an. Die Gestapoleute befahlen den Jugendlichen in kürzester Zeit bei den Autobussen zu sein. Sie wurden nach Amsterdam gebracht. Dort wurden die armen Flüchtlinge von jüdischen Familien aufgenommen. Nach einigen Monaten wurde in Amsterdam ein Heim für Kinder, die auch im Werkdorp gewesen waren, errichtet. Dort wohnte Berta dann und arbeitete als Köchin (Amsterdam, Pl. Franschel 13).

Im April 1943, als Amsterdam fast „judenrein“ war, wurden alle aus dem Heim, so auch Berta, bei einer großen Razzia in das Lager Westerbork gebracht. Frau Shaniv ist auch noch das Schicksal von 36 Burschen, die sie alle kannte, in Erinnerung, die von Amsterdam nach Mauthausen deportiert worden sind und dort umkamen. Aber es gab auch in dieser schrecklichen Zeit Platz für Menschlichkeit. Viele, die sie kannte, konnten untertauchen. Einer Freundin gelang es, sich über zwei Jahre bei einer allein stehenden Holländerin zu verstecken. Sie führte ihr den Haushalt und fertigte Handarbeiten an, die die Dame dann verkaufte. Es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Ein Detail am Rande: vis à vis hatte sich die Familie Frank versteckt gehalten. Die Freundin erinnerte sich später noch an den Lärm und die Unruhe, als die Familie entdeckt und weggebracht wurde.

In Westerbork wurde Berta zusammen mit ihren Schicksalsgenossinnen in Riesenbaracken untergebracht, die voll waren mit dreistöckigen Betten, dicht aneinandergedrängt. Viele wurden krank: Dysenterie, Gelbsucht, Diphterie. Durch das Lager liefen Eisenbahnschienen. „Jede Woche wurden von dort lange Züge Viehwaggons voll mit Juden in den Osten geschickt. 120 000 holländische Juden kamen um.“ Die Schienen – mit aufgebogenen Enden – sind heute ein Erinnerungs- und Mahnmal. Hoffnung konnte Berta schöpfen, als sie – wie viele Zionisten, die in Westerbork waren – aus der Schweiz Post bekam.

Jeden Morgen verließ Berta mit einem Trupp anderer Mädchen und Frauen das Lager, um in den umliegenden Dörfern Bauern bei der Arbeit zu helfen: Alle Kandidaten mit Einwanderungserlaubnis für Palästina wurden im Jänner und Februar 1944 in ein Sonderlager nach Bergen-Belsen gebracht. Berta war bei jenem Transport dabei, der am 1. Februar ankam. Es folgten schwere Monate. Viele, vor allem ältere Leute starben. „Ich war eigentlich nie verzweifelt. Aber ich habe mich oft gefragt, besonders in Bergen-Belsen, wenn ich in der Ferne die hohen Bäume sah, wenn ich nur dort sein könnte und ob ich je wieder frei sein werde. (Damals wussten die Juden in Westeuropa noch nicht, dass jeder Transport in den Osten Tod bedeutete.)“

Am 29. Juni 1944 war es dann so weit: Berta hatte das Glück, zu jenen 222 Personen zu gehören, die nach Palästina auswandern durften – im Austausch mit deutschen Templern, die den umgekehrten Weg – von Palästina nach Deutschland – nehmen sollten. „Wir fuhren mit der Bahn, begleitet von SS-Offizieren, mit größten Befürchtungen und Ängsten, von Norddeutschland durch ganz Europa.“ Die Situation entspannte sich in Wien, der ersten Zwischenstation in die neue Heimat. Der Judenstern wurde von den Kleidern getrennt und – nach langer Zeit erster Komfort – es wurde in einer Herberge übernachtet, „mit normalen Betten und sauberen Laken“. Tags darauf wurde die Reise fortgesetzt. Nächste Etappe war Istanbul. Nun konnte Berta wirklich erstmals durchatmen: „Wir wurden von dortigen Juden mit Freude empfangen, man gab uns große Esspakete (Schokolade, Wurst und vieles andere, so lange entbehrt).“ Es folgte eine wunderbare Schifffahrt auf dem Bosporus. „Der Austausch fand statt und wir bestiegen wieder den Zug und gelangten über Syrien und Libanon in die Freiheit nach Israel. Fromme Juden gingen in die Synagoge, um Gott zu danken, dass er sie aus großer Gefahr errettet hat.“

Die Neuankömmlinge mussten zuerst in Quarantäne. Sie wurden von einem jungen Mann aus einem Kibbuz betreut, der dann schließlich Berta und vier andere junge Mädchen mit in den Kibbuz nahm. Berta wurde dort wunderbar aufgenommen, die Leute waren alle sehr freundlich und verständnisvoll. Berta, froh, wieder in einer Gemeinschaft zu sein, lebte sich sehr schnell ein. Wie bereits in Wien und im Werkdorp, so lernte sie auch hier Hebräisch, nun natürlich besonders intensiv, und nach einem Jahr beherrschte sie die Sprache schon sehr gut. Zu diesem Zeitpunkt hatte Berta keinen Vater, keine Mutter und auch keine Geschwister mehr. Sie alle haben den Holocaust nicht überlebt.

Nur Berta hatte 1938 ausreisen können. Die Reise haben die Zionisten bezahlt. Ihre Familie war völlig mittellos und musste daher in Wien bleiben. Wie lange sie noch in der Menzelgasse 12 im 16. Bezirk gewohnt hat, ist nicht belegt. Unmittelbar vor der Deportation war sie jedoch im 1. Bezirk, Börsegasse 7/4 untergebracht. Dort hat sich offensichtlich ein Sammellager befunden, denn unter der selben Adresse sind außer der Familie Aptowitzer noch 13 andere Bewohner verzeichnet. Am 23. November 1941 wurde die Familie zum Aspangbahnhof gebracht. Das Ziel der Deportation, man nannte diese Aktionen „Umsiedlungen“, war Riga. In Riga gab es ein Ghetto. Doch dieser Transport wurde aus nicht geklärter Ursache nach Kowno in Litauen umgeleitet, wo sich aus der Zarenzeit ein Fort befand. Der Tag der Ankunft, der 29. November, ist gleichzeitig auch der Todestag von Juda Leib, Esther, Frieda (17 Jahre) und Renée (11 Jahre) Aptowitzer. „Ich denke immer mit Schmerz und Trauer an meine liebe, gute Familie und an ihr schreckliches Ende. Am 10. März war der 80. Geburtstag meiner Schwester Frieda und am 13. März der 74. Geburtstag meiner Schwester Renée. Sie leben alle in mir weiter.“ Berta hatte all die Jahre seit ihrer Abreise aus Wien keine Nachricht von ihrer Familie erhalten, sie wusste nichts über ihr Schicksal, bis zum Jahr 1950, als ihr vier Dokumente zugestellt wurden.

Heute lebt Frau Shaniv in Petach-Tikwa. Sie ist Hausfrau. Seit 32 Jahren ist sie Witwe. Sie hat zwei Söhne, Uri und Amnon. Ihre Familie spricht nicht Deutsch. Sie selbst spricht mit Freunden sowohl Deutsch als auch Hebräisch. Sie würde nicht mehr in Wien leben wollen. Ihre Heimat heißt nun Israel. Doch auch hier bleibt die Sehnsucht nach Frieden unerfüllt, auch hier erlebt sie Unsicherheit und Angst. Eine Fahrt mit dem Autobus, ein Kaffeehausbesuch – die Furcht vor einem Terroranschlag ist immer mit dabei. „Israel ist ein schönes Land, aber wir leiden ständig unter dem endlosen Konflikt mit den Arabern. In den letzten Jahren sind wir sehr vom Terror verfolgt. Bombenanschläge auf voll besetzte Autobusse, auf Restaurants, auf der Straße. Viele sterben, werden schwer verletzt, bleiben lebenslang Krüppel. Tausende Familien werden unglücklich für immer.“

Wir bewundern Frau Shaniv, dass sie über all dem Leid, das sie erfahren hat, die Fähigkeit sich zu freuen nicht verloren hat. Sie hat viele Hobbies: viele Arten von Musik, Kunst, Kunstgeschichte, allgemeine Geschichte, Englisch. Sie sagt: „Mich interessiert vieles, mir ist nie fad.“ Wir freuen uns, dass es ihr gelungen ist, an Wien schöne Erinnerungen zu bewahren: Wanderungen im Wienerwald, Theaterbesuche, eine wunderbare Aufführung von „Nathan der Weise“ im Theater in der Josefstadt. „Trotz all des Schlimmen, das ich in Wien nach dem Anschluss sah und erlebte, ist Wien noch immer in meinem Herzen. Die Erinnerungen an bessere Zeiten, die Lieder sind unvergesslich.“ Wir sind dankbar, dass sie bereit war, uns ihre so leidvollen Erlebnisse und Erfahrungen zu vermitteln. Ihr Schicksal und das ihrer Familie hat uns sehr berührt. Es ist für uns unfassbar, wie es sein kann, dass unschuldigen Menschen ihre Würde und das Recht auf Leben genommen wird.

Wir haben Frau Shaniv als einen liebenswerten Menschen kennen gelernt. Wir haben sie ins Herz geschlossen.

Die 4A des Wiener Musikgymnasiums, 2005


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