Die letzten Zeugen - Das Buc

JACK SITTSAMER


 
 

JACK SITTSAMER

(früher Icek Sittsamer)
geb. 1924-12-30
(verstorben2008)
lebte zuletzt in den USA


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Jack Sittsamer wurde am 30.12.1924 in Mielec, Polen, geboren. Seine Eltern und Brüder wurden ermordet. Er kam in die KZ Mauthausen und Gusen II, wo er am 5.Mai 1945, abgemagert auf 32 Kilo, befreit wurde. Jack Sittsamer lebt heute in Pittsburgh, USA. Im Mai 2004 kam er zur "Befreiungsfeier" nach Österreich.

Ich war zur Nummer geworden, ich hatte keinen Namen mehr...

Die Schülerin Carina Voggeneder hat die Geschichte von Jack Sittsamer recherchiert und ihn schließlich im Mai 2004 persönlich getroffen.

Liebe Carina,

ich war sehr überrascht und erfreut, als ich von dir einen Brief bekommen habe. Und froh, dass du mir auch ein Foto von dir mitgeschickt hast. Du wirkst wie eine sehr clevere junge Frau.

Ich wurde in Polen geboren und hatte zwei Brüder und zwei Schwestern. Wir haben in einer kleinen Stadt namens Mielec in der Nähe von Krakau gewohnt. Dort hatten wir ein sehr gutes Leben, ein normales Leben. Mein Vater war von Beruf ein Geschäftsreisender und er war sehr religiös. Im Ersten Weltkrieg war er unter Kaiser Franz Josef Soldat der österreichischen Armee. Er wurde verwundet und war danach ein kriegsversehrter Veteran. Meine Mutter kam aus einer großen Familie mit vier Schwestern und vier Brüdern. Ich habe in meiner Heimatstadt eine katholische Schule besucht und bin am Nachmittag an eine jüdische Schule gegangen.

Ende 1938 haben wir gewusst, dass ein Krieg bevorstand, weil die Nazis in Österreich und der Tschechoslowakei einmarschierten. Im September 1939 begann der Krieg. Die deutsche Armee überfiel Polen und kam ein paar Tage später in unsere Stadt. Ab jetzt war alles anders. Wir mussten Armschleifen mit dem Judenstern tragen und Zwangsarbeit verrichten. Das ging so bis zum 9. März 1942, jenem kalten, feuchten, verschneiten Morgen, an dem alle Juden vertrieben wurden. Mein Vater wurde erschossen, weil er aufgrund seines wunden Beines aus dem Ersten Weltkrieg nicht Schritt halten konnte.

Am Nachmittag kamen wir am Flughafen von Mielec an. Dort wurden wir auf der Stelle in zwei Gruppen geteilt: Frauen, jüngere Kinder und alte Männer nach rechts, junge, starke Männer nach links. Mein älterer Bruder und ich wurden auf die linke Seite gestellt. Die Menschen auf der rechten Seite wurden wie Vieh in Waggons getrieben. Sie kamen in ein Todeslager namens Belzec. Das war das letzte Mal, dass ich meine wunderbare Mutter, meine zwei kleinen Schwestern und meinen jüngeren Bruder gesehen habe. Kurz nachdem der Zug abgefahren war, wurden auch wir in Gruppen geteilt und in verschiedene Lager gebracht. Mein Bruder und ich wurden getrennt, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Ich bin der einzige Überlebende meiner Familie.

Ich wurde in das Lager Mielec verschleppt, wo ich in einer Flugzeugfabrik für die Heinkel-Werke arbeiten musste. Am rechten Handgelenk erhielt ich die Initialen KL, die für Konzentrationslager standen, tätowiert, die mich nun als Gefangener und Sklave auswiesen. Ich war zur Nummer geworden. Ich hatte nun keinen Namen mehr. Und ich hatte für die kommenden dreieinhalb Jahre meines KZ-Lebens meine Identität verloren.

In dieser Zeit wurde ich von einem Lager zum nächsten deportiert. Ich war im Salzbergwerk in Wieliczka, im Steinbruch in Flossenburg, dann beim Tunnelgraben in Leitmeritz und zum Schluss im Steinbruch des KZ Mauthausen und in Gusen II, wo ich in der unterirdischen Flugzeugfabrik arbeiten musste. Ich erhielt eine weiß und blau gestreifte Uniform, eine Unterhose und eine Jacke. Die Jacke hatte auf der linken Brustseite eine Nummer und ein rotes Dreieck. Die Hose hatte die selbe Nummer mit einem roten Dreieck über dem Knie. Dazu bekam ich eine runde, gestreifte Kappe. Ich habe diese Uniform im Sommer, Winter, Frühling und Herbst getragen. Ebenso bekam ich einen rote metallene Schüssel für den Kaffee am Morgen und die wässrige Suppe am Abend. Wenn man diese Schüssel verloren hat, war das furchtbar, denn man hat nie wieder eine neue bekommen.

Ich bin in diesen Jahren vor Hunger umgekommen, habe mich fast zu Tode gearbeitet und wog nur noch 32,5 Kilogramm. Am 5. Mai 1945 bin ich befreit worden. Danach bin ich mit meinem Freund Arthur Vogel Richtung Linz gegangen, wo wir von Frau Weber aufgenommen wurden. Als ich nicht mehr ganz so schwach war, begann ich nach meiner Familie zu suchen. Doch ich musste erkennen, dass ich der einzige Überlebende war.

1949 bin ich in die Vereinigten Staaten gekommen. Ich habe geheiratet und habe heute zwei Kinder und fünf Enkelkinder. Ich bin in Pension und arbeite als Freiwilliger am Holocaust-Center in Pittsburgh. Ich erzähle in Schulen und Kirchen über mein Schicksal und meine Erfahrungen. Ich würde sehr gerne eines Tages in dein Land kommen und Mauthausen und Gusen besuchen.

Ich hoffe, dass das bald möglich sein wird, denn ich werde nicht jünger. Ich hoffe, dass mir meine Gesundheit erhalten bleibt, um solch eine Reise machen zu können.

Please keep in touch ... Hochachtungsvoll, Jack Sittsamer


Ich habe mich sehr gefreut, von Dir zu hören ...

Liebe Carina,

danke für deinen Brief. Ich habe mich sehr gefreut, von dir zu hören. Ich will versuchen, einige deiner Fragen zu beantworten.

1. Ich bin in eine katholische Schule gegangen, weil es in meiner Stadt keine öffentliche Schule gegeben hat. Alle Kinder der Stadt waren katholisch.

2. Die meisten „Mahlzeiten“ im KZ bestanden aus einer sehr dünnen Scheibe Brot und Kaffee um 6 Uhr morgens, kein Mittagesssen, und um 7 Uhr abends haben wir nach einem ganzen Tag harter Arbeit eine wässrige Suppe mit Kartoffelschalen erhalten. Wenn man einen Erdapfel bekommen konnte, war das sehr viel.

3. Es war unmöglich zu flüchten. Wir trugen gestreifte Uniformen. Es gab einen elektrisch geladenen Zaun und Wachen mit Maschinengewehren. Außerdem, selbst wenn man irgendwie hinausgekommen wäre, hätte einem niemand geholfen und man wäre zu schwach gewesen.

4. Mrs. Weber ist vor vielen Jahren gestorben.

5. Ich habe mich entschlossen, nach Amerika zu gehen, weil es sehr schwer war, nach Israel zu kommen und ich ein neues Leben beginnen wollte.

6. Ich bin in den Vereinigten Staaten mit nichts angekommen und ich habe niemanden gekannt. Ich habe nicht gewusst, wie ich Englisch sprechen sollte. Alles, was ich tun konnte, war, hart zu arbeiten und das Geld zu sparen. Schließlich habe ich geheiratet und Kinder bekommen. Bis vor 18 Jahren habe ich nicht über meine Erlebnisse sprechen können.


Im Mai 2004 konnte Jack Sittsamer – auf Einladung des Jewish Welcome Service von Dr. Leon Zelman, der ebenfalls das KZ Mauthausen überlebt hatte – nach Österreich kommen. Als Gast von Carina und ihrer Familie besuchte Jack Sittsamer das Lager Gusen und nahm am 9.Mai 2004 an der Befreiungsfeier im ehemaligen KZ Mauthausen teil.Dort berichtete er über den Tag seiner Befreiung,den 5.Mai 1945.Da es ihm sehr wichtig war,diese Rede in englischer Sprache zu halten, ist ihr Text auch hier im Original wieder gegeben.

 

I didn't believe I could safely leave through the gate ...

Going back and forth to work every day on the train, we could see the flowers starting to grow and the trees blooming. People spoke about how good it would be to be liberated. When we came back to camp on May 4th, just like every other day, we got our portion of soup und went to sleep. The next morning, there was no 5:00 A.M. reveille. I heard people saying: „Look out, look out the windows“. I looked out and there were no guards or machine guns; the guard towers were empty. There weren`t any guards at the main gate, either. Even so, everybody stayed inside because we suspected that the Germans were up to something. Finally at about 10:00 A.M., a jeep and four American soldiers pulled inside the camp and informed us that we were free. Liberated!

Few people left that day. The majority were too weak to walk. The second day, more people left. They felt stronger, because they were fed better. Finally, on the third day, I left with a friend from Mielec. We didn`t go through the main gate; we tunneled underneath the double fence to the outside. I didn`t believe I could safely leave through the gate.

The nearest city was Linz, Austria, about twenty miles away. We hitchhiked, we walked, we rested. This short distance took us three days. In Linz, we walked around still wearing our concentration camp clothes. Suddenly, sirens sounded. An Austrian woman opened her door and told us to come inside. There was a curfew; no one was allowed tout after 5:00 P.M. It was a Mrs. Weber who took us in. She called her neighbors over, one of whom was a barber. He took us out to the backyard, shaved our long hair off and burned our clothes, which were full of lice. Then we took our first hot shower with real soap in many, many years. Mrs. Weber gave us new underwear and nice clothes. These things had belonged to her two sons who died while fighting in the German army. She showed us the bedroom where we would sleep. It had two beds in it, but we slept on the floor because we weren`t used to sleeping in a bed. In three months, she nursed me back from my weight of seventy-five pounds to about eighty-five pounds. She was an angel.

Feeling stronger, I decided to leave und try to find out if anyone from my family survived. It didn`t take long to find out that I was the only survivor from my family. It has been 59 years since I was here. I am honored to be here to celebrate the liberation of Mauthausen as the guest of the Jewish Welcome Service. I am very grateful also to the participants of  „A Letter To The Stars“-project. Special thanks to Miss Carina Voggeneder and her family for all their hospitality and all their help getting me here also.


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