Die letzten Zeugen - Das Buc

BALTHASAR LINSINGER


 
 

BALTHASAR
LINSINGER

lebte und wirkte in Österreich, Grossarl

Im Pfarrhaus versteckt


Pfarrer Balthasar Linsinger versteckte die Familie Bäumer vom Sommer 1944 bis zu Kriegsende in seinem Pfarrhaus in Grossarl. Im Sommer 1944 nahm Balthasar Linsinger als Pfarrer von Grossarl den Maler Eduard Bäumer und dessen jüdische Frau Valerie und deren Kindern, die damals drei-jährige Bettina, der neun- jährige Michael und die zwölf- jährige Angelica bei sich auf. Im Dorf sagte er sie seien 'Bombenflüchtlinge aus Wien', die bei einem Bombenangriff alles verloren hatten.



"Es muss Ende 1943 oder Anfang 1944 gewesen sein, da wurde es wirklich ernst. Wir bekamen auf unsere Ausweise ein dickes „J“ gestempelt, erhielten weniger Lebensmittelmarken und durften nicht in die Luftschutzbunker, die in den Mönchsberg gesprengt worden waren. Mein Vater hatte bereits mit Pfarrer Linsinger gesprochen, der inzwischen nach Großarl versetzt worden war. Er stand zu seinem Wort und als die ersten Bomben auf Salzburg fielen, brachte meine Mutter die 1940 geborene Bettina nach Großarl, wo die Kaisermama, wie die Pfarrköchin genannt wurde, rührend für meine kleine Schwester sorgte.

Eines Nachts kam der Freund Rudolf Peyrer- Heimstätt in höchster Eile zu uns, weckte uns und drängte, sofort zu fliehen. Wir nahmen so gut wie nichts mit. Keine Dokumente, unsere Ausweise mit dem „J“ verbrannten wir noch schnell, nur ein wenig Kleidung und Essen packten wir ein und ich trug meinen Kanarienvogel Hansi. So zogen wir vom Mönchsberg los. In einer unfreundlichen kalten Nacht um drei Uhr früh mit wenig Gepäck und doch furchtbar beladen. Mein Bruder war wie eine stumme kleine Maschine. Er begriff das alles nicht, aber er war tapfer und ging ohne Klagen an der Hand der Mutter. Der Hauptbahnhof war bereits bombardiert, Dr. Peyrer wusste aber, dass ein Flüchtlingszug in Salzburg/Aigen stand, den galt es zu erreichen. Er begleitete uns und erzählte in aller Eile: Er war als Arzt im Führerstollen eingeteilt und hatte dabei erfahren, dass eine Großrazzia und die Deportation der letzten Juden und Volksschädlinge vorgesehen waren. Es fielen auch Namen, unserer war darunter.

Wir erreichten den Zug. Irgendwie kamen wir hinein, obwohl er total überfüllt war. Nach langem Warten fuhr er auch ab.
Auf der Strecke blieb er immer wieder stehen, einmal mussten wir alle aussteigen, angeblich kam ein Tieffliegerangriff,
dann ging es wieder weiter und bei jedem Stehenbleiben kroch die Angst in uns hoch, jetzt kommt die SS oder die Gestapo, holt uns raus, erschießt uns – es waren immer wieder Schüsse zu hören. Nach vielen Stunden kamen wir nach St. Johann/Pongau. Es war schon wieder früher Morgen und sehr kalt. Vorsichtig umgingen wir den Ort, um nicht aufzufallen mit unserem merkwürdigen Gepäck. Wir hatten alles in eine Tuchent eingepackt, wie die „Pinkeljuden“ fanden meine Mutter und ich – das erheiterte uns in aller Not. Erst nach Umwegen kamen wir auf die Straße nach Großarl und nie waren die 16 Kilometer so lang und anstrengend. Mein Bruder war stumm vor Überanstrengung und Müdigkeit, er war ja erst neun Jahre alt. Großarl war ein Nazinest, alle hätten uns und den Pfarrer sofort denunziert. Also entschieden wir uns, „Ausgebombte aus Wien“ zu sein. Das erklärte auch, warum wir keine Papiere hatten. Aber in die Schule mussten mein Bruder und ich gehen. Wir gingen sogar sehr gerne in diese einklassige Schule, in der nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt wurde, sondern ein sehr musikalischer Lehrer mit uns musizierte.
Schwieriger war es, ohne Lebensmittelmarken und ohne Geld zu leben. So gut es ging, versuchte jeder auf seine Weise etwas zu arbeiten. Meine Mutter half den kinderreichen Bäuerinnen in Haus und Garten, dafür bekam sie Mehl, Wolle, ein paar Gläser Marmelade oder Gemüse. Wir gingen in den Wald und pflückten Beeren und Schwammerl. Ich machte mich in der Meierei der Pfarre nützlich, die von einer furchtbar hässlichen, bösartigen, alten Bäuerin geführt wurde – ich wurde ihre Magd.
Stunden vor der Schule stand ich auf, ging in den Stall, mistete aus, gab den Tieren Futter und molk die Kühe. Am Nachmittag wurde in alten Holzgefäßen gebuttert. Ich brauchte Stunden, bis aus dem Rahm Butter wurde. Das Pfarrhaus grenzte auf der einen Seite an den kleinen Friedhof. Ich liebte Friedhöfe. Und der von Großarl war besonders verwildert. So fing ich an Unkraut zu jäten und die Gräber zu pflegen, vor allem die vielen kleinen, in denen Kinder lagen, die oft nur ein paar Tage oder Monate alt geworden waren. Manchmal machte mich das so traurig, dass ich über längst gestorbene kleine Kinder weinen musste. Großarl war das kinderreichste Dorf Großdeutschlands und alle Bäuerinnen hatten das Mutterkreuz verliehen bekommen, aber keine trug es, die meisten hatten es zwischen Herrgottswinkel und Hitlerbild in der guten Stube an die Wand gehängt. Dass ich Gräber pflegte, verstand niemand. Höchstens zu Allerheiligen brachte man die Gräber in Ordnung und stellte Kerzen auf. Nur die junge Organistin, die oben am Dachboden ein Zimmer bewohnte, verstand mich. Mein Bruder und ich durften am Sonntag in der Kirche den Blasebalg treten und sie gab uns Orgelunterricht.

Wir hatten keine Ahnung, wie die Kriegssituation war, es gab ja nur die Nazimeldungen, an BBC war nicht zu denken. Die Volksschule war geschlossen worden, es wurden Heimkehrer und Flüchtlinge dort untergebracht, spärliche Informationen stellten sich oft als Gerüchte heraus. Aber schließlich brachten die Nachrichten die Gewissheit: Das tausendjährige Reich hatte am 8. Mai 1945 kapituliert. Der Krieg war zu Ende. Ich hatte in den letzten Wochen schon mehrmals leichte Bauchschmerzen gehabt, am Tag aber, an dem sicher war, dass der Krieg aus und die Amerikaner da waren, bekam ich rasende Schmerzen. Der Arzt diagnostizierte eine akute Blinddarmentzündung. Im Spital von St. Johann wurde ich sofort operiert. Ich wachte aus der Narkose in einem Zimmer mit mehreren Frauen auf. Am Bett der einen stand ein Mann, der bei seiner Frau blieb, bis sie ein paar Stunden später starb. Es war der Totengräber von St. Johann. Er war dünn und unendlich traurig, er saß noch lange bei seiner toten Frau und erzählte vor sich hin, von den Toten der letzten Wochen und wen er alles hatte eingraben müssen, ohne Sarg, ohne Gebet, ohne Namen. Mir erschien er als ein unheimlicher Bote einer Welt, der ich – wir – gerade noch entronnen waren.

Wir fuhren zurück nach Salzburg. Unsere Wohnung war unversehrt geblieben, weder Bomben noch Gestapo hatten sie verwüstet, und ganz langsam gewöhnte man sich daran, dass man nicht mehr vorsichtig sein musste, dass man wieder in die Stadt gehen und ganz offen mit Menschen sprechen konnte. Es war noch sehr ungewohnt. Es ist schwer, diese tiefe Verunsicherung zu überwinden. Es gab Schlimmeres in der Nazizeit als unser, als mein Schicksal. Ich erfuhr von meiner Großmutter aus Theresienstadt, von meinem Onkel aus Dachau, von einem Freund meiner Eltern aus Mauthausen, aus Berichten und Büchern. Ich sah kurz nach dem Krieg im Salzburger Festspielhaus Filme über Auschwitz und Buchenwald. Ich wusste, wie viele unserer Verwandten die Lager nicht überlebt hatten. Und trotzdem: dieses Erleben war das meine und es lässt mich nicht los. Bis heute.“ Angelica Bäumer
Der Text, der von Angelica Bäumer für „A Letter To The Stars“ 2005 gekürzt wurde, ist in seiner gesamten Länge im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, in dessen Auftrag er geschrieben wurde, einsehbar.


Pfarrer Linsinger starb im Alter von 84 jahren im Jahre 1986.
2011 wurde Balthasar Linsinger als "Gerechter unter den Völkern" ausgezeichnet.

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