Die letzten Zeugen - Das Buc

MARGARETE LEAH LINTON


 
 

Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

»Wir fühlten uns alle miteinander verbunden ...«

Wie Leah Linton die Rückkehr in ihre alte Heimat erlebt hat.

Ich denke an euch alle sehr liebevoll, die Erfahrungen, die ich in Wien gemacht habe, haben in mir einen starken Eindruck hinterlassen, ebenso bei meiner Tochter und meinem Sohn. Seit ich zurückgekommen bin, habe ich immer wieder darüber gesprochen und geschrieben. Ich kann es noch gar nicht glauben: Als ich Wien 1939 verlassen musste, da hasste ich die Stadt und ihre Menschen und ich dachte, dass ich niemals wieder zurück kommen möchte, und dass mich alles an die schreckliche Zeit unter Hitler erinnern würde. Als ich nun zurück gekommen bin, habe ich mich sehr wohl gefühlt, weil euer Projekt etwas begonnen und abgeschlossen hat. Ich wurde an der Schule Sacré Coeur so herzlich empfangen, die Schülerinnen und Mrs. Schönberg waren einfach großartig. Mrs. Schönberg hat mich vor meiner Abreise in das Haus ihrer Schwester zum Dinner eingeladen, und meine Freundin Gerty Jellinek und ich durften einen wunderbaren Abend miteinander verbringen.

Am 5. Mai 2008 fuhren wir mit Bussen zum Parlament, wo wir zu den Ehrenplätzen geführt wurden. Ich bin zuvor nie im Parlament gewesen und hätte mir nie erwartet, dort einmal unter 300 Ehrengästen zu sein. Diese Veranstaltung fand im Gedenken an den 70. Jahrestag des Anschlusses statt, daran, dass Hitler Österreich »judenrein« wollte. Nun sind wir zurück gekommen, um der Vergangenheit gegenüber zu treten und es war gut zu hören, dass die Politiker über die Verantwortung Österreichs gesprochen haben. Nach einigen Reden und Musikstücken wurden wir auf den Heldenplatz begleitet, wo Hitler 1938 ein stürmischer Empfang bereitet worden war. Und wiederwurden wir zu unseren Ehrenplätzen geführt. Vor uns war eine große Bühne, hinter uns Tausende Schüler, die aus allen Teilen Österreichs gekommen sind. Alte Menschen erzählten auf der Bühne mit gebrochenen Stimmen über ihre Schicksale 1938. Es gab kaum jemanden, der nicht weinte und für meine eigenen Kinder war es das erste Mal, dass sie so viele Geschichten gehört haben, außer der meines Mannes und meiner.

Ein paar Tage bevor ich für meine Reise nach Österreich gepackt habe, stieß ich auf ein in Plastik verpacktes altes Gebetsbuch, dass ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Augenscheinlich war es sehr alt, der Umschlag war zerknittert, und die Seiten waren vergilbt. Es war in Hebräisch und in Deutsch, und gedruckt in Wien 1929, muss es wohl meiner Mutter oder meiner Großmutter gehört haben. Ich entschied mich rasch, dass ich dieses Gebetsbuch mitnehmen und es dorthin zurückbringen sollte, woher es stammte. Am Freitagabend fuhren wir zum Tempel in die Seitenstettengasse, der einzigen Synagoge, die den Holocaust und den Krieg »überlebt« hatte. Als wir hineingingen, übergab ich mein wertvolles Gebetsbuch dem Schames und teilte ihm mit, dass es aus dieser Synagoge stammte und ich es nun zurück gäbe. Der Tempel war voll, unten die Männer, oben die Frauen, wo die Sitze hart und unbequem sind, und auf mich stürzten Emotionen ein, ich dachte an jene Zeiten, da ich mit meiner Familie hierher gekommen war. Es war ein orthodoxer Gottesdienst, kaum ein vertrautes Lied, und keine Predigt. Auf einmal riss mich meine Tochter aus meiner traurigen Stimmung, indem sie sagte: »Mom, der Rabbi spricht über dein Gebetsbuch in Englisch!«. Und wirklich, das tat er. Er sagte, dass eine unbekannte Frau dieses Gebetsbuch heute abend zurück gebracht habe, dass es 1929 gedruckt worden war, dass es alt und verletzt sei, aber dass es überlebt habe, so wie die jüdischen Menschen überlebt haben, und wie geziemend dies gerade an Yom Hashoa, dem Holocaust-Gedenktag, sei. Zwischen meinem schlechten Gehör und den Tränen hätte ich diese Szene beinahe versäumt. Nach dem Service suchte ich den Rabbi, um mich ihm vorzustellen, aber er war bereits gegangen. Vielleicht sollte ich an diesem Abend als die »unbekannte Frau« in die Geschichte eingehen. Anschließend wurden wir zu einem Shabbes Dinner im Lauder-Chabad-Haus eingeladen, und wir, die Überlebenden, saßen um wunderschön gedeckte Tische, zwei Chassidim sangen und feierten mit uns. Wir fühlten uns alle miteinander verbunden, durch unsere Vergangenheit, und jetzt, durch diese neue Erfahrung. Es war eine unvergessliche Nacht.

Ich habe den Schülern erzählt, dass meine beste Freundin 1938 am Tag nach dem Anschluss zu mir gekommen ist und gesagt hat, dass sie nun nicht mehr länger meine Freundin sein könnte – wir waren damals 12 Jahre alt. Ich habe sie gefragt: »Warum?« Sie hat gesagt: »Du bist Jüdin«. Und ich habe gesagt, das war ich auch schon gestern, und vorgestern. Es schien mir unvorstellbar, dass meine Welt sich aufzulösen begann, aber es passierte tatsächlich. Als ich dies im Sacré Coeur erzählte, war es so still im Raum, dass ich mein eigenes Herz schlagen hörte. Zum Abschluss sagte ich diesen höchst ansprechenden Jugendlichen, dass sie sich nicht zu schämen bräuchten, dass sie keine Schuld treffe ... Es waren die Menschen während dieser dunklen Periode der Geschichte, die ihre Menschlichkeit verloren hatten ... Eure Aufgabe ist es, dass so etwas nicht wieder passieren kann ... Nachdem ich ein paar Tränen geweint hatte und von allen herzlich umarmt wurde, spürte ich auf einmal, dass mein Herz weich geworden ist und dass ich zu diesen jungen Leuten, deren Urgroßväter aller Voraussicht nach meine Feinde gewesen sind, eine sehr enge Beziehung spüre.


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