Die letzten Zeugen - Das Buc

ILSE ASCHNER


 
 

ILSE ASCHNER

(früher Römer)
geb. 1918-09-00
lebt heute in Österreich

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Überlebende" erstellt.

Im Rahmen des Projekts "Holocaust - Die Überlebenden" besuchten Luca Teuchmann und Patrick Wojcik aus der KMS Loquaiplatz die Überlebende Ilse Aschner und führten ein Interview mit ihr.

Die Emigration – so lange erhofft, so lange gefürchtet ...

Ilse Aschner wurde im September 1918 in Wien geboren. Auf der Flucht vor den Nazis fand sie 1939 Aufnahme bei einem Pastoren-Ehepaar in England. Ihre Eltern wurden in Riga ermordet. Heute lebt Ilse Aschner in Wien.

Die Schüler Patrick Wojcik und Luca Teuchmann (Bild links) haben mit Frau Ilse Aschner ein langes, bewegendes Radiointerview aufgenommen. Die Nationalsozialisten haben die junge Ilse Römer mitten aus ihrer Jugend herausgerissen. Sie studierte an der Wiener Universtität und musste unter schwierigsten Bedingung ihre Familie, ihre Freunde, ihr gesamtes soziales Umfeld in Österreich zurück lassen. Ihr Studium konnte sie nie wieder aufnehmen.

Ihre Eltern hat sie nie wieder gesehen. In einem eindringlichen, sehr persönlichen Text beschreibt sie ihren schwierigen Weg in die Emigration.

„SIE sind da. Die Emigration. Das Wegmüssen von zu Hause. Die Trennung – für wie lange denn? Die Reise ins Ungewisse – jetzt nimmt das alles Gestalt an, was mich seit einem Jahr quält, seit die Hitlertruppen einmarschiert sind, seit ich weiß, dass ich nicht mehr studieren darf, seit mein Vater und mein Bruder ihre Arbeit verloren haben, weil wir keinen „Ariernachweis“ erbringen konnten, wie es in der neuen Sprache heißt.

Seit ich weiß, dass unser aller Leben bedroht ist. Seit ich begonnen habe, mich nach einer Möglichkeit zu bemühen, dieses mein Heimatland zu verlassen.

Seit einem Jahr steht nun der Beschluss fest, dass wir, die Familie, emigrieren müssen und wollen. Für mich ist es am leichtesten zu beginnen. Ich bin 19 Jahre und werde von einer englischen Hilfsorganisation für „nichtarische Christen“, wie es in der Amtsprache heißt, nach England vermittelt – Kindermädchen in einem Landpfarrhaus.

Ich habe den Posten, kann aber nicht fahren, denn die Nazibürokratie ist gründlich. Ich brauche Papiere, Nachweise, Bestätigungen. Keine Steuerschulden? Kein Grundbesitz? Keine Hundesteuer ausständig? (Einen Hund hatten wir nie besessen!) Sittlicher Lebenswandel? Kein Bankkonto?

Die Amtswege sind eine Tortur. Vor jedem Amt hundert Ausreise„willige“, ordentlich in Schlangen angestellt. Ordner in Naziuniform oder mit zumindest einer Hakenkreuzbinde am Arm wachen darüber. Für jeden Wisch neu anstellen. Warten, warten, warten. Kaum jemals bekommt man am ersten Tag das be-nötigte Papier, meist kommt man gar nicht dran, weil es zu viele sind, die dasselbe benötigen. Dann steht man am nächsten Morgen schon um 6 Uhr früh vor dem Tor – manchmal dauert es drei, vier Tage. Und das für eine unabsehbare Zahl von immer neuen, sinnlosen Bestätigungen.

Sinnlos? Nein, sinnlos sind sie nicht. Nicht für die Nazis – der „Volksfeind“, „der Jude“ muss zermürbt, hingehalten, gequält werden. Auch die Ordner haben ihren Spaß daran. Wenn alte Frauen und greise Männer kaum noch stehen können nach einem ganzen Tag vor dem ersehnten Eingang ... wieder nichts, morgen von Neuem, noch früher ... und die Nazis haben ihren Spaß daran und sparen nicht mit Hohn und Bosheit.

Auch nicht sinnlos für mich. Der Sinn ist, dass mich jeder Zettel, jede Bestätigung dem einzigen Ziel näher bringt, das noch eine Rolle zu spielen, das noch einen Zweck zu haben scheint: dem Ziel, diesen neuen Machthabern zu entkommen, dem Tod zu entkommen, ohne Angst zu leben, wieder frei atmen zu können, meiner Familie den Weg aus diesem Grauen zu bahnen.

Das Versprechen für den englischen Job habe ich ein paar Wochen nach der Besetzung Österreichs in Händen, der Brief der Pfarrersfamilie bestätigt es. Sie erwarten mich sofort (wir schreiben Mai 1938), sobald ich reisefertig bin.

Ich beginne also, mich „reisefertig“ zu machen ... und erfahre, dass man erst reisefertig ist, wenn alle erforderlichen Bestätigungen vorliegen. 1938 – Sommer, Herbst, Winter, vergehen, ich stehe alle paar Tage vor einem Amt.

1939 – immer noch warten, Angst haben, warten, wann endlich?

Es ist soweit und es hat ein ganzes Jahr gedauert. Das letzte Papier, das verlangt wird, ist eine Liste der Gegenstände, die ich mitnehmen will. Aber diese Entscheidung liegt gar nicht bei mir – sondern bei der Gestapo. Erst einmal: keine „Wertgegenstände“. Was sind Wertgegenstände? Zum Beispiel keine „echten“ Bilder. Meine Eltern sind nicht reich. Es gibt keinen echten Rembrandt und keinen Rubens, ich habe halt ein paar Kunstdrucke von schönen Bildern. Ich habe auch ein bisschen Schmuck – das Goldketterl von der Konfirmation, den schmalen Ring vom 18. Geburtstag, die kleine Silberbrosche, die ich vorletzte Weihnachten bekam. Da gab es noch keine Nazis in Österreich.

Das sind auf einmal alles Wertgegenstände, dürfen von der „rassisch Verfolgten“ Ilse Römer nicht ins Ausland „verschoben“ werden, wie es in der neuen Amtssprache heißt. Es sind nicht mehr persönliche Geschenke von Eltern, Tanten, Onkeln, es hat sich alles in „deutsches Volksgut“ verwandelt. So entschied die Gestapo, als ich meine Liste einreichte. Und strich diese Dinge gleich heraus!

Es war schwer genug gewesen, die Liste, die in der Amtssprache nun „Mitgut“ heißt, zu erstellen. Es musste jedes Stück angeführt werden, ja jedes.

Und so weiter, sinnlos, endlos. Und alles, was im Jahr 1938, dem Jahr des „ Anschlusses“ angeschafft worden war, musste mitsamt seines Preises vermerkt werden. Die Pulloverwolle, einen Monat vor dem Einmarsch der Nazitruppen für Schillinge gekauft, verwandelte sich da in ein Stück Volksgut zum Reichsmarkpreis.

Man hatte zu gehorchen, und man gehorchte – nur keinen Fehler! Nur die Flucht nicht gefährden!

Sie sind da. Die Obrigkeit ist genau und muss beim Packen dabei sein. Ich hatte es mir immer wieder ausgemalt, wie sie vor der Tür stehen würden. Mir voller Angst vorgestellt, wie es verlaufen würde. An die braunen Uniformen der SA gedacht, die harten Gesichter, denen ich ein Jahr lang begegnet war. Diese blonden Übermenschen mit den militärisch -zackigen Bewegungen, den kantigen Gesichtern – stramm, straff, unnahbar für jemanden in unserer Lage.

Vor der Tür stehen drei Männer. Zwei tragen Zivil, Durchschnittsgesichter, verknöcherte Beamte, grau, grau, grau. Nur der dritte trägt die verhasste Uniform. Sehr groß, vierschrötig, tatsächlich blonder Kurzhaarschnitt, jung. Ein fettes, aufgedunsenes Gesicht, rosa glänzend, so rosa, rosa. Blaue Augen, die im Fett versinken, Schweinsäugerln? Nein, dafür fehlt ihnen das lustige Zwinkern. Die Augen sind stahlblau, stahlhart. Riesige rote Pranken, dicke Finger – vielleicht ein Fleischergeselle?

Sie verlangen die von der Gestapo bestätigte Liste, deuten, wir können anfangen. Wir sind zu viert – meine Mutter, zwei Tanten, die beim Packen helfen sollen, ich.

Anfangen? Wo? Bei den Büchern, denke ich, nehme einen Stoß und will ihn in die Kiste legen. Kurze herrische Handbewegung. „Hierher, zu mir.“

Mit seiner dicken Pratze nimmt er das erste Buch beim Einband, schüttelt es aus, als wäre es ein Staubfetzen. Das zweite, das dritte – der Anblick ist kaum zu ertragen. Die Bücher scheinen sich unter seinem Zugriff zu krümmen. Er beutelt, schüttelt, hilflos flattern die Seiten wie gefangene Vögel. Manches ältere Buch droht sich aus dem Einband zu lösen – was sucht er denn? Geld? Devisen? Schmuck?

Hat er sich überzeugt, dass in dem Band nichts versteckt ist, schleudert er ihn auf einen Haufen, der sich neben der Kiste ansammelt. Wie ein Misthaufen. Nicht einmal einen Titel hat er sich angesehen. Nicht einmal einen Blick auf den Autor geworfen. Er sucht „Werte“, aber die liegen da auf dem Boden, durcheinander, verdrückt, verkrümmt, offen. Durcheinander. Tucholsky und Thomas Mann, Kästner und uralte Märchenbücher, weitergereicht in der Familie von der Urgroßmutter an Großmama, als sie noch ein kleines Mädchen war, an meine Mutter und schließlich an mich.

Vielleicht ist es gut, dass er kein Buch angesehen hat. Sicher hätte einer, der ’s verstand, die Verbotenen ausgesondert. Sicherlich hatte ich Glück, dass da einer in seiner Primitivität nichts wusste von Index und Verbot. Der nur seinem Auftrag folgt, Schmuggelgut aufzustöbern. Genau sucht der SA-Mann, pflichtbewusst, vielleicht findet er doch Ungesetzliches und kann die Ausreise des „Volksfeinds“ verhindern. Eine winzige Geste, kaum wahrnehmbar. Ich kann mit dem Verpacken beginnen, während er an immer neue Stöße geht, beutelt, schüttelt, schmeißt.

Es dauert und dauert. Mutter und Tanten stehen abseits, nicht benötigt. Die beiden anderen, die Grauen, stehen schweigsam an der Wand. Verfolgen das Geschehen mit müden Augen. Teilnahmslos. Ihre tägliche Aufgabe. Dabei sein, Zeugen sein, es der SA überlassen. Gleichgültig. Jeden Tag mit einem anderen, der das Land verlassen muss. Immer das Gleiche.

Nur mit den Blicken verfolgen sie seine automatischen Handbewegungen. Staffage. Keine Menschen. Grau. Marionette. Nichts in ihren Gesichtern bewegt sich angesichts der abstoßenden Szene. Weiß Gott, woran sie in den langen Stunden denken. Für sie ist es nichts Ungewöhnliches – tagaus, tagein, Woche für Woche. Wieder ein Volksfeind, und noch einer und noch einer. Ihre Pflicht. Ihre Aufgabe.

Nun also geht es an die Kleider, die Wäsche, die kleinen Alltagsdinge. Jede Bluse, jeder Rock, jedes Wäschestück wird durchgebeutelt. Landet auf einem Haufen neben dem Koffer. Mutter und Tanten wird gedeutet, sie mögen das Zeug einpacken. Geduldig bücken sie sich nach jedem Stück, falten es vorsichtig und liebevoll zusammen, legen es behutsam in den Koffer. Als ginge es auf eine Urlaubsreise ...

Ich sehe nichts mehr. Jede Bewegung geht automatisch. Hier vier Blusen. Da zwei Pyjamas. Eine Strickjacke. 15 Hosen ... ich nehme nur die Sorgfalt meiner Familie wahr, wie sie vorsichtig falten, drüberstreichen, im Koffer noch einmal glattstreichen. Wozu das alles?

Es hat keine Bedeutung mehr, es ist mir egal, es ist alles so nebensächlich. Ich muss sie auf immer verlassen.

Die Emigration – gefürchtet, erhofft ... sie allein zählt. In eine neue fremde Welt, deren Sprache ich nicht spreche, deren Leben ich nicht kenne. Die Anforderungen stellen würde, denen ich zunächst einfach nicht gewachsen sein würde. Ich hatte ja immer im Schoß der Familie gelebt, so beschützt, so behütet, so geborgen. Und nun die Abreise, so lang ersehnt, so lange gefürchtet, immer wieder vorgestellt als Rettung und doch geängstigt vor der Endgültigkeit.

Wie schaffen es diese drei Frauen mit ihren zerquälten Gesichtern, sich um diese sinnlosen Kleinigkeiten zu kümmern – ich sehe nur mehr das rosa Fleischergesicht, die roten, dicken Hände, den kalten Blick. Ich habe noch in England von diesem Gesicht geträumt, bis ich es angesichts des neuen Lebens endlich vergessen konnte.

Als ich nach der dreitätigen Zugfahrt – quälend über Grenzen hinweg, weiter und weiter weg von Schrecken und Heimat – nach 24-stündigem Schlaf der Erschöpfung und Verzweiflung mein Gepäck auspackte, in die neuen fremden Kästen verstaute, verstand ich die Vorsichtigkeit und Behutsamkeit meiner Mutter, meiner Tanten. Zwischen den Wäschestücken lagen Ring und Armband, die Brosche, sogar ein Ring meiner Mutter.

Welche Angst mussten sie ausgestanden haben, ertappt zu werden. Sie haben es geschafft, aus großer Liebe. Sie haben mir nichts davon gesagt. Ich sollte unbelastet sein von Angst und Nervosität. Wie mussten sie gezittert haben, bis der SA-Mann endlich Koffer und Kisten versiegelte.

Danken konnte ich ihnen nicht mehr. Meine Eltern und Tanten sind in den Konzentrationslagern der Nazis umgekommen.“

Ilse Aschner, dokumentiert von Luca Teuchmann, Patrick Wojcik, KMS Loquaiplatz, Wien, 2005


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