Die letzten Zeugen - Das Buc

LEO RECHTER


 
 

LEO RECHTER

geb. 1927-09-06
lebt heute in U.S.A.


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Das BRG Ringstraße Krems mit Professorin Elisabeth Streibel war im Mai 2008 Gastgeber für Leo Rechter.

Leo Rechter wird 1927 in Wien geboren und besucht die erste Klasse Gymnasium, als die Nazis einmarschieren. Nach der
»Kristallnacht« im November 1938 flieht seine Familie, zu der auch eine jüngere Schwester gehört, nach Belgien, wo sie jedoch von den Nazis eingeholt werden. Sein Vater wird deportiert und kehrt nie mehr zurück. Ein Bruder wird zwei Monate später, im Jahr 1942, geboren. Relativ jung wird Leo bereits der Hauptverdiener der Familie. Sie ziehen von einem Versteck ins nächste. Nach dem Krieg geht Leo Rechter nach Israel, wo er sieben Jahre verbringt. 1957 zieht er in die USA.

»Für eine Bratpfanne ...« Eine Anklage

Leo Rechter erzählt in der dritten Person, wie er als Kind von einer Nachbarin für eine Bratpfanne an die Gestapo verkauft wurde.

PROLOG.

Die Bratpfanne schien in einem ganz guten Zustand zu sein: Die Teflon-Schicht war nicht zerkratzt, der Metallrand tadellos rund, ohne Scharten und rostfrei. Doch der äußere Boden der Pfanne und der untere Außenrand wiesen die Spuren sechsjähriger Verwendung auf und meine liebe Frau bat mich, die Pfanne in den Mülleimer zu entsorgen.
Als ich vorschlug, sie vielleicht zu spenden, erwiderte meine bezaubernde Ehefrau: »Sei nicht lächerlich, in Amerika nimmt keiner gebrauchte Bratpfannen.« Ich trug die Pfanne hinaus, aber anstatt sie in den Müll zu werfen, stellte ich sie auf den Deckel des  Brauch-ich-nicht-mehr Behälters. Innerhalb von zehn Minuten war sie verschwunden.


Teil I.

Ein Junge, gerade erst den Kinderschuhen entwachsen, streifte auf der Suche nach einem Versteck für die Nacht durch die Straßen von Anderlecht, einem Bezirk außerhalb des Zentrums von Brüssel. Es war im Herbst 1943. Beißender Frost lag in der Luft dieses späten Nachmittags.

Schon bald würde es Abend sein und die Zeit der Ausgangssperre kam schnell näher. Er fragte sich, ob ihn jetzt endlich sein Glück verließe. Er war schlank, blauäugig und sah eher arisch aus, doch er wusste: Sollte er nach der gefürchteten Ausgangssperre auf der Straße gesehen werden, wäre er verloren und seine Familie wahrscheinlich auch. Während er versuchte, bei gelegentlichen Passanten oder zufällig aus dem Fenster blickenden Per-sonen keinen Verdacht zu erwecken, suchten seine Augen die Fassaden der vom Alter gezeichneten Gebäude in dieser heruntergekommenen Gegend ab und suchten ein offenes Tor, das zu einem unbewohnten Hinterhof führte oder eine unverschlossene Falltür in einen Kohlenkeller. Aber die verarmten Bewohner dieser Gebäude hatten ganz offensichtlich nicht die Absicht, ihre mageren Habseligkeiten ungesichert und ungeschützt vor Langfingern zu lassen.

Bis jetzt hatte er sich mit der typisch sorglosen und selbstbewussten Einstellung, die allen Jugendlichen eigen ist, für unbesiegbar gehalten. Er hatte mit einem älteren Cousin in einem gemieteten möblierten Zimmer gearbeitet, das nur einen Häuserblock vom Gestapo-Hauptquartier in der Avenue Louise lag. Dieser hatte, nachdem er mehrmals den Gestapo-
Razzien entkommen war,  damit argumentiert, dass die Nazis in dieser eleganten Gegend und in edlen Domizilen nicht nach Juden suchen würden. Der gemietete Raum befand sich im Erdgeschoss. Er hatte ein großes Fenster in den Hinterhof, das dadurch einen möglichen Fluchtweg bot. Eine Belgierin, die als Hausmeisterin agierte, hatte eine Zwei-Zimmer-Wohnung gleich daneben, die auf der Straßenseite lag. Zwei große Wohnungen in den oberen Stockwerken wurden von Gestapo-Familien bewohnt.

Der Junge half seinem Cousin mit der heimlichen Herstellung gefälschter »amerikanischer« Zigaretten. Der Cousin, dessen Gesichtszüge jüdischer aussahen, verließ den Raum fast nie. Der Junge war seine Verbindung zur Außenwelt. Er beschaffte den nötigen Nachschub und Lebensmittelvorräte, wie er es auch für seine eigene Familie tat – für seine Mutter, seine jüngere Schwester und den kleinen Bruder – die sich in einem anderen Teil der Stadt versteckten. Um zur Arbeit zu kommen, musste er hin und her, tagein tagaus mit den städtischen O-Bussen fahren, Ellbogen an Ellbogen mit SS-lern, deutschen Soldaten und Gestapo. Immer wenn er von diesen Leuten nach der Richtung oder nach etwas Anderem gefragt wurde, gab er, der fließend Deutsch sprach, vor, nur schwer zu verstehen und antwortete mit einem gespielten französischen Akzent in gebrochenem Deutsch. Jedes Mal, wenn es ihm gelungen war, einen Deutschen zu über-listen, wurde er selbstsicherer und betrachtete es als einen persönlichen Sieg über seine Feinde. Aber jetzt, da die Dämmerung hereinbrach, begann seine Selbstsicherheit langsam zu bröckeln und die Ereignisse dieses Tages, die zu seinem gegenwärtigen Dilemma geführt hatten, passierten in seinem Kopf immer wieder Revue.

Nachdem sie im Winter 1941/42 aus einem Internierungslager in der Kohlenbergwerksregion Belgiens entlassen worden waren, hatten sich der Junge und der Rest seiner Familie in einer Seitenstraße von Anderlecht versteckt. Der Vater war von den Deutschen nach Frankreich gebracht worden, wo er für die Organisation »Todt« arbeitete, die die Atlantik-Mauer baute. Später hatte man ihn nach Auschwitz deportiert, wo er ums Leben kam.

Die enge Gasse, in der die Familie nun wohnte, bestand aus einem ziemlich kurzen Häuserblock. Wenn man von einer der senkrecht angrenzenden Straßen hineinblickte, sah sie wie eine enge Sackgasse aus, was die plündernden Gestapo-Fahrzeuge wahrscheinlich davon abhielt, hineinzufahren, da man vielleicht nur mit Schwierigkeiten umkehren konnte. Die meisten Gebäude in der Straße waren Warenlager oder kleine Fabriken. Die Wohnung der Familie lag im dritten Stock eines baufälligen Miethauses ohne Lift. Sie bestand aus einem Raum von ungefähr 10 Quadratmetern mit zwei Fenstern zur Straße hinaus und einem kleinen, fensterlosen Alkoven. Fließwasser mit einem Spülbecken gab es im Hausflur einen Stock tiefer und die Plumpsklos waren in einem geschlossenen Hof an der Rückseite des Hauses. Ein gußeiserner Ofen im großen Raum diente zum Kochen und Heizen – sofern Holz oder Kohle erhältlich waren. Der Rest des Mobiliars der Familie bestand aus einer alten Couch, zwei verschlissenen Matratzen, einer alten Nähmaschine, einem klapprigen Holztisch und zwei ramponierten Holzstühlen. Tagsüber wurden die Matratzen an die Wand gelegt und in der Nacht auf dem Boden ausgebreitet.
Das Erdgeschoss wurde von Lagerräumen eingenommen. Im ersten Stock wohnte die kleine Hausmeisterin mittleren Alters mit ihrem hochgewachsenen, ausgemergelten und arbeitslosen Ehemann, der den Großteil seiner Tage in einer benachbarten Bier-Kneipe verbrachte. Ein weiterer kleiner, möblierter Raum im zweiten Stock wurde von einem einfachen Arbeiter bewohnt, einem späten Fünfziger, der von der Wohlfahrt lebte. Sein einziges Fenster lag in Richtung Hof, gerade über den Dächern der Plumpsklos. Das einzig andere Mietshaus in der Gasse, das in einem etwas besseren Zustand war, lag auf der anderen Seite der Straße. Im Erdgeschoß wohnte eine alleinstehende Belgierin, die mit ihrer neunjährigen Tochter von der Wohlfahrt lebte, im zweiten Stock ein pensioniertes, älteres belgisches Ehepaar und im dritten Stock zwei jüdische Schwestern Mitte fünfzig, die auch versuchten, sich in dieser Gasse zu verstecken. Das 9-jährige Mädchen von gegenüber kam ab und zu, um mit der jüngeren Schwester des Jungen zu spielen, bis die Schwester Scharlach bekam.

An einem schicksalhaften Tag vor einer Woche war eine der jüdischen Schwestern, die sich hinaus gewagt hatte, um Essen zu kaufen, von der Gestapo gefangen genommen worden. Sie brachten sie zu ihrer Wohnung zurück, befahlen den Schwestern, ihre Habe zu packen und deportierten sie. Ihrer üblichen Routine folgend, brachte die Gestapo ein Siegel an der Wohnungstür an. Von den Schwestern hat nie wieder jemand etwas gehört.

Eine Woche später, an eben diesem Morgen, war ein Lastwagen mit zwei Gestapo-Männern in ihren Ledermänteln und ein paar Helfern in die Gasse gekommen. Sie räumten die Wohnung der Schwestern leer, trugen das ganze brauchbare Mobiliar weg, die Kleidung und alles, was auch nur irgendeinen Wert zu haben schien. Ein kleines Häuflein Anwohner scharte sich neugierig zusammen und betrachtete die Vorgänge. Eine Stunde später, als die Arbeit erledigt schien und sie bereit zum Aufbruch waren, reichte einer der Gestapo-Männer der alleinstehenden Belgierin von der Wohnung im Erdgeschoß gegenüber eine alte Bratpfanne. Sie war draußen gestanden und hatte zugesehen. Dann fragte er sie offenbar, ob sie noch von anderen Juden wusste, die in der Nähe versteckt waren.

Auf der anderen Straßenseite hatte die Familie des Jungen -  hinter einer fadenscheinigen Gardine versteckt und zitternd vor Angst – den ganzen Vorgang beobachtet. Die Belgierin zeigte zu ihrem Fenster hinauf und die entsetzte Familie sah die beiden Gestapo-Männer über die Straße kommen und hörte sie die Stiegen herauf trampeln: »Aufmachen – Schnell!«
Es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Die Mutter versuchte ihr Zittern zu unterdrücken und öffnete die Türe: »Papiere – Bitte.«  Die Mutter legte ihren in Belgien ausgestellten Personalausweis vor, der deutlich machte, dass sie eine Familie jüdischer Flüchtlinge aus Wien waren. Die Gestapo-Männer befahlen ihr, die Kinder und die Habe, die sie tragen konnten, zu nehmen und ihnen zu folgen. Die Mutter wusste, dass kein Bitten und Betteln diese ruchlosen Seelen erweichen würde können, und in ihrer Verzweiflung griff sie zu einer anderen Strategie. Mit gespielter Entrüstung rief sie aus: »Sie dürfen das nicht tun! Mein Mann hat sich freiwillig zur Arbeit an der Atlantik Mauer der Organisation Todt gemeldet und wir sind eine ›geschützte‹ Familie!« Sie legte ein Dokument vor, das im Juni 1942 von den deutschen Behörden ausgestellt worden war und erklärte, dass ihr Ehemann für die Organisation »Todt« arbeitete. Ihr Mann hatte sich nicht wirklich freiwillig gemeldet. Das Dokument gewährte auch keinen wahren Schutz und viele Familien in ähnlichen Situationen waren deportiert worden.

Die beiden Gestapo-Männer gingen in eine Ecke des Zimmers und begutachteten das Dokument einige Minuten lang, die der Familie wie Stunden vorkamen. Sie besprachen sich flüsternd und betrachteten den Raum und seine Bewohner. Sie sahen den ausgemergelten Jungen, das kleine Mädchen auf der Couch mit den verräterischen Scharlachflecken, das Baby. Sie besprachen sich wieder in gedämpftem Ton und brüllten schließlich: »Wir werden Ihrer Geschichte nachgehen. Es wäre besser für Sie, wenn sie wahr ist. In der Zwischenzeit dürfen Sie den Raum nicht verlassen. Wir postieren jemanden an der Ecke und wenn Sie hinausgehen, werden Sie erschossen.«

Waren sie von Mitleid gerührt? Das war ziemlich unwahrscheinlich, wie spätere Ereignisse gezeigt haben. Wahrscheinlich waren sie sich ganz einfach nicht sicher.

Sie spielten immerhin nur die zweite Geige und sammelten die Möbel und Habseligkeiten der Juden ein, die bereits deportiert worden waren. Jeder erstrangige Gestapo-Rohling mit dem Auftrag, Juden zusammen zu treiben, hätte sich nicht so leicht bluffen lassen. Oder vielleicht mussten sie die Möbel auf ihrem Lastwagen in einen anderen Stadtteil fahren und
wollten keinen Umweg machen, um diese unglückliche jüdische Familie zuerst woanders abzuliefern. Möglicherweise fürchteten sie auch, ihre Familien mit Scharlach anzustecken. Vielleicht dachten sie auch, diese Familie wäre nicht imstande sich aus dem Staub zu machen. Wohin sollten sie gehen? Und diese Frau schien so überzeugt davon zu sein, dass sie »geschützt« waren. Sie werden wahrscheinlich bleiben, wo sie sind, und wir werden sie später abholen.

Sie stampften die Treppen nach unten, starteten den Lastwagen und verließen die Gasse. Die Familie raffte schnell ihre wertvollsten Habseligkeiten zusammen: Ein paar Decken, um das Baby und das Mädchen einzuwickeln, die Babyflaschen, einige Lebensmittel und Kleidungsstücke. Zehn Minuten später hatten sie die Wohnung und die Gasse verlassen.

Nun kam die schwierigste Frage: Wohin sollten sie gehen? Wo kann man kurz vor der Ausgangssperre ein Versteck finden? Sie wussten von ein paar jüdischen Familien, die sich unter ähnlichen Bedingungen versteckten. Der Junge hatte diese Familien mit Brot vom  Schwarzmarkt und mit Hosen vom Flohmarkt beliefert, da sie sich nicht auf die Straße hinaus wagten. Die
jüdischen Schneiderfamilien trennten diese Männerhosen auf, reinigten und färbten sie und stellten daraus neue Kinderhosen her, die unser Junge dann zu verkaufen versuchte. Aber keine dieser Familien konnte eine weitere jüdische Familie mit einem kranken Kind und einem Baby aufnehmen. Sie wohnten alle in beengten Quartieren und ein plötzlicher Zuwachs von vier weiteren Personen könnte den nichtjüdischen Nachbarn verdächtig vorkommen und damit alle in Gefahr bringen. Nein, zu anderen Juden zu ziehen war kein gangbarer Weg. Aber wohin sollten sie gehen? Wohin nur?

Nachdem der Vater deportiert worden war, musste der Junge Wege finden, seine Familie zu erhalten. Die Mutter hatte die Idee, ihn alte Pullover auf dem Flohmarkt kaufen zu lassen. Sie trennte sie auf, wusch und färbte die Wolle. Mutter und Schwester strickten dann neue Pullover, die der Junge zu verkaufen versuchte, manchmal indem er damit von Tür zu Tür ging. Die Einkünfte aus diesen Bemühungen waren sehr mager und der Junge suchte andere Einkommensquellen.  Er wandte sich an einen ortsansässigen Bäcker und fragte ihn, ob er ihm Brot nicht gegen Lebensmittelmarken, sondern gegen Geld verkaufen würde. Der Bäcker, der gerne zusätzliches Geld verdienen wollte, aber nicht an Erwachsene verkaufen wollte, die deutsche Geheimagenten sein könnten, war nur zu gerne bereit, den Jungen als Mittelsmann und Vertrieb für Schwarzmarktbrot zu verwenden.  Der Junge hatte einen Kreis von versteckten jüdischen Familien kennen gelernt. Sie waren erleichtert, sich nicht mehr auf die Straße hinauswagen zu müssen und wurden daher dankbare Kunden. Dennoch reichten beide Einkünfte zusammen nicht aus, um mehr als das Allernötigste zu kaufen und Hunger war in ihrem Haushalt ein häufiger Gast.
Zu seinen Kunden zählte eine stämmige deutsche Frau mittleren Alters. Frau Hoolman hatte zu einer deutschen linksgerichteten Organisation gehört, einen Belgier geheiratet, der der gleichen Partei angehörte und hatte  – nachdem Hitler an die Macht gekommen war – Deutschland Mitte der 30er Jahre verlassen. Ihr Mann starb bald darauf und da sie anfangs nur Deutsch sprach, freundete sie sich mit einem Kreis deutschsprachiger jüdischer Familien an.

Die Familie beschloss, Frau Hoolman um vorübergehendes Obdach zu bitten. Sie lebte nur wenige Häuserblocks entfernt in einem der wenigen hübschen Wohnhäuser, aber sie hatte belgische Nachbarn, deren politische Ansichten sie nicht kannten und die Verdacht schöpfen könnten. Sie wusste, wenn Juden in ihrer Wohnung gefunden wurden, würde sie als Vaterlandsverräterin hingerichtet werden. Sie war jedoch eine freundliche und weichherzige Person und willigte ein, die Mutter, das Mädchen und das Baby für einige Tage bei sich aufzunehmen. Sie fürchtete sich jedoch davor, den Jungen zu beherbergen. Unter dem Schutz ihrer deutschen Staatsbürgerschaft könnte sie im Notfall noch behaupten, dass die Frau, das Mädchen und das Baby für kurze Zeit ihre Gäste seien, aber ein großer, beschnittener Junge stellte eine allzu große Gefahr dar.

Also wanderte der Junge durch die Straßen von Anderlecht – auf der Suche nach einem Versteck. Düstere, seltsam geformte, dunkle Wolken zogen auf dem Abendhimmel auf, wie das Omen eines drohenden Verhängnisses. Angst ergriff den Jungen, wie eine eiserne Faust an seinem Hals. Dämmerung und Ausgangssperre brachen schnell in die bereits verlassenen Seitenstraßen ein. Jeder seiner Schritte schien laut von den grauen, herunter-gekommenen Fassaden der vom Zahn der Zeit angenagten Gebäude widerzuhallen: Es schien ihm wie eine Nachricht an die plündernden deutschen Patrouillen: »Hier kommt der jüdische Junge, den das Glück verlassen hat.«

In seiner Verzweiflung war er bereit, an irgendeine Tür zu klopfen, als er plötzlich in der Nähe Kirchenglocken läuten hörte. Er folgte hastig dem Klang und da, in einer L-förmigen Ecke zweier in einem kleinen Platz zusammenlaufenden Straßen, stand eine kleine Backsteinkirche, deren Turmspitze kaum die sie umgebenden zweistöckigen Häuser überragte. Er trat durch das offene Portal ein und hoffte, die Kirche leer zu finden, damit er zwischen den Bankreihen schlafen könnte. Doch die Kirche war nicht leer. Ein junger Priester stand neben dem Altar und sammelte Kerzen und Sakralgefäße ein. Er hatte den Jungen eintreten sehen und blickte ihm entgegen. Der Junge kam auf ihn zu, senke seinen Kopf und gestand: »Vater, ich bin Jude und brauche eine Zuflucht für die Nacht. Darf ich in einer Eurer Kirchenbänke schlafen?«  Beide, der Junge und der Priester standen einander eine Weile schweigend gegenüber. Der Junge mit gesenktem Kopf, betete zu seinem Gott – zu gleich welchem Gott – um Rettung. Der Priester betete zu seinem Gott um Rat. Dieser Junge sah nicht jüdisch aus und der Priester fürchtete sich vor einer deutschen Falle.

Endlich brach der Priester das Schweigen und sprach: »Du weißt, dass die Deutschen es verbieten, Juden Obdach zu gewähren. Wir können die Kirche nicht in Gefahr bringen. Wir können ihre Anordnungen nicht missachten. Wir hatten schon mehrere Probleme und es gab andere Schwierigkeiten. An der Rückseite der Kirche ist eine kleine Tür, hinter der eine kleine Treppe zu einem leeren Raum führt. Ich habe schon manchmal vergessen, sie abzuschließen. Landstreicher haben dort übernachtet. Ich bedaure, aber du kannst nicht in unserer Kirche schlafen.«

Der Junge, der für sein Alter einen scharfen Verstand und große Erfahrung hatte, verstand die Botschaft. Er verließ die Hauptkirche, ging einmal um den Häuserblock und kam zur Rückseite der Kirche. Die kleine Tür war unverschlossen. Er kletterte die paar knarrenden Stufen nach oben und fürchtete sich bei jedem Schritt mehr, da sie solchen Lärm machten. Er fand den leeren Raum, der nicht viel größer als eine Besenkammer war. Er rollte sich in einer Ecke zusammen und versuchte, seine Körperwärme zu erhalten und zu schlafen. Aber sein Geist war schmerzhaft wach. Er fühlte sich in dem beengten Raum wie gefangen. Es gab keine Fluchtmöglichkeit in seinem Versteck. Er machte sich auch Sorgen, wo er einen anderen Unterschlupf für seine Familie finden könnte und wie er zu ihrem Hab und Gut kommen würde. Er war wild entschlossen, nichts von ihrem spärlichen weltlichen Besitz in die Hände der Deutschen fallen zu lassen. Endlich döste er ein und erwachte jedes Mal, wenn eine deutsche Patrouille die Stille der Nacht störte. Bei Tagesanbruch war er hellwach. Er wartete, bis er draußen vor der
Kirche Betrieb hörte, der das Ende der Ausgangssperre ankündigte. So leise er konnte, ging er die Treppe nach unten und verließ die Kirche.

Wieder wanderte er durch die Straßen dieser schäbigen Gegend, diesmal auf der Suche nach einem Schild »à louer«, das heißt »zu vermieten«, in den Fenstern. Er fand in der Nähe eine Wohnung im zweiten Stock eines zweistöckigen Hauses. Im ersten Stock wohnten die Besitzer, ein Ehepaar Mitte vierzig. Er holte seine Mutter, um die Wohnung zu beurteilen und in aller Form zu mieten. Nachdem sie die Unterkunft begutachtet und mit den Vermietern gesprochen hatte, vertraute sie dem Jungen an, dass sie ernste Zweifel an den letzteren hatte. Der Junge musste die Intuition seiner Mutter respektieren und willigte ein, weiter zu suchen. Als sie zu Frau Hoolmans Wohnung zurück kamen, erfuhren sie, dass diese in der Zwischenzeit in der Nähe eine andere Wohnung gefunden hatte. Es war ebenfalls eine Wohnung im dritten Stock eines ramponierten Hauses ohne Lift. Im Erdgeschoss waren Lager und Büro eines verwitweten Kohlehändlers. Er war ein sehr einfacher, wortkarger Mann, der mit seinem jugendlichen Sohn im zweiten Stock wohnte. Die zu vermietende Unterkunft im dritten Stock bestand aus einem Raum, der etwas größer war, als der, den sie früher bewohnten, auch mit zwei Fenstern zur Straße hinaus. Daneben war ein länglicher Alkoven mit einem Fenster in einen winzigen Hof, in dem sich das einzige Plumpsklo befand.

Sie beschlossen, das Risiko einzugehen und die Mutter händigte die übliche Zweimonatsmiete aus.  Der Abend und die Ausgangssperre standen wieder vor der Tür. Die Mutter kehrte zu ihren Kindern zurück, der Junge in das Kämmerchen in der Kirche.

Am nächsten Morgen verließ er die Kirche so früh wie möglich, wild entschlossen, ihre persönliche Habe aus deutschen Händen zu retten. Er mietete eine zweirädrige Karre und ging in die Gasse zurück, aus der sie tags zuvor geflohen waren. Er fand die Tür zu ihrer früheren Bleibe mit einem Vorhängeschloss versperrt. Darüber hinaus waren Siegel an allen Schlössern angebracht worden, die Einbrecher mit den schwersten Strafen bedrohten, die im Dritten Reich denkbar waren. Offensichtlich war die Gestapo zurückgekommen, um ihre Opfer und ihre Beute abzuholen, aber die ersteren waren entkommen.

Empörung, die an kalte Wut grenzte, bemächtigte sich des Jungen. Diese Schurken, die vortäuschten, aufrichtige Menschen zu sein, die in ihren Schulen über die Ehrlichkeit und Anständigkeit ihres »Herrenvolks« sprachen und lehrten, über gute Manieren und den Respekt vor persönlichem Eigentum! Sie waren nichts Anderes als eiskalte Schläger, denen es Spaß machte, wehrlose Frauen und Kinder zu jagen und ihre spärlichen Habseligkeiten zu stehlen. Ohne zu zögern riss der Junge die Siegel herunter und trat gegen die Tür. Dann ging er zum Fenster und beobachtete mehrere Minuten lang durch die Vorhänge, ob die Frau, die sie für eine gebrauchte Bratpfanne verkauft hatte, aus ihrer Wohnung kommen würde. Er wusste, dass niemand in dieser Gasse ein Telefon besaß, und dass sie herauskommen und zur Hauptstraße gehen musste, wenn sie sie abermals verraten wollte. Als er beruhigt war, dass ihm von dieser Seite keine Gefahr drohte, begann er ihre wenigen Kleidungsstücke einzusammeln, wickelte die kleineren Dinge in Laken und Handtücher, trug die Bündel nach unten und lud sie auf den Handwagen. Er stieg noch mehrmals die Stufen hinauf, und nahm alles mit, mit Ausnahme der Möbel und schwererer Gegenstände, die er später abholen wollte. Er fürchtete, dass die Nachbarn sich aufgrund der nun nicht mehr versperrten Tür an den kleineren Dingen »bedienen« würden.

Nachdem er ihre Besitztümer in der neuen Wohnung abgeladen hatte, kehrte er wieder zur alten zurück. Bevor er mit seiner Karre in die Gasse hineinfuhr, ging er mehrmals die umliegenden Straßen ab und suchte nach geparkten Gestapo Autos mit den verräterischen »POL« Kennzeichen. Wenn ihn jemand in der Zwischenzeit verraten hatte, wollte er der Gestapo nicht die Genugtuung zuteil werden lassen, in ihre Falle zu geraten.

Als er in die nun nicht mehr versiegelte Wohnung eintrat, sah er, dass die Nähmaschine und die bessere der beiden Matratzen verschwunden waren.  Er fragte die Hausmeisterin im zweiten Stock, ob sie wisse, wer die beiden Dinge genommen haben könnte. Sie gab bereitwillig zu, dass sie die Nähmaschine genommen hätte, um sie »in Sicherheit« zu bringen und war sofort bereit, sie wieder zurück zu geben. Sie teilte dem Jungen auch mit, dass die Matratze von Antoine, dem alleinstehenden Mann mittleren Alters genommen worden war, der in dem kleinen Raum im gleichen Stockwerk wohnte. Der Junge klopfte an Antoines Tür, der sie einen Spalt breit öffnete. Der Junge dankte ihm, dass er die Matratze »gerettet« hatte und bat ihn, sie zurück zu geben. Antoine stritt vehement ab, die Matratze oder irgend etwas Anderes genommen zu haben und erklärte, dass die Hausmeisterin die Matratze hätte und nun versuche, ihn zu beschuldigen. Obwohl die Tür nur ein paar Zentimeter weit geöffnet war, hatten die scharfen Augen des Jungen die Matratze auf Antoines Bett erspäht. Scharfsinnig entschuldigte er sich für seinen Irrtum, aber in seinem Herzen schwor er sich, das Eigentum der Familie zurückzubekommen, koste es, was es wolle.
Er lud die Couch, die Nähmaschine, die andere Matratze und den Tisch auf die Handkarre. Bevor er die Ladung ausbalancieren konnte, kamen zwei Belgierinnen aus der Nachbarschaft zu ihm gerannt und riefen aufgeregt, dass die Gestapo auf der angrenzenden Straße war und in diese Richtung fuhr. Er hätte seine Habe und die Karre zurücklassen und um sein Leben rennen können, doch er war dickköpfig, fasste den Griff und versuchte mit dem Wagen zu laufen. Die Ladung geriet jedoch aus dem Gleichgewicht, die Couch, und die Nähmaschine begannen nach vorne zu rutschen. Er taumelte, fiel kopfüber in die Gosse und die Couch auf ihn. Er konnte sich nicht bewegen oder seinen Kopf drehen. Er brachte nur einen erstickten Hilferuf hervor. Die beiden Frauen standen dabei ohne zu helfen und lamentierten weinerlich, dass der Junge wahrscheinlich schwer verletzt war und seine arme Familie, die bereits so viel gelitten hatte, nun auch noch auf seine Unterstützung verzichten musste.
In der Zwischenzeit hatte die Mutter begonnen, sich über die lange Abwesenheit ihres Sohnes Sorgen zu machen und – obwohl sie sich fürchtete, auf die Straße zu gehen – hatte sie sich entschlossen, ihm mit dem Zurückbringen ihrer Besitztümer zu helfen. Sie fand ihn fast bewusstlos, hob die Last von seinem Kopf und half ihm, unter dem Haufen hervorzukommen. Glücklicherweise waren sein Kopf und Körper nur zerschrammt und er hatte sich keine Brüche oder andere Verletzungen zugezogen.

Die Behauptung der beiden Frauen, dass die Gestapo unterwegs sei, hatte sich als falscher Alarm erwiesen. Mutter und Sohn balancierten den Wagen aus und transportierten ihren Besitz in das neue Versteck.

Noch einmal kam der Junge in die Gasse zurück. Wieder ging er zuerst die umliegenden Straßen ab, um einer Falle der Gestapo zu entgehen. Er sammelte alle übrigen Gegenstände ein und lud sie auf die Karre. Dann sah er sich um, ob er etwas übersehen hatte. In dem Raum war nichts mehr außer dem eisernen Ofen, der zur Wohnung gehörte, und ein paar Nägeln, die in die Wand gehämmert waren. Der Junge hatte kein Werkzeug, also begann er mit bloßen Händen die Nägel herauszuziehen. Er wusste nicht, ob er sie je brauchen würde, aber er betrachtete es als Verletzung seiner persönlichen Rechte, wenn er irgendetwas in die Hände der Nazis fallen ließ. Der Mörtel war sehr hart und es war eine anstrengende Arbeit, die Nägel aus der Wand zu bekommen. Als er fertig war, waren seine Hände ordentlich abgeschürft. Er sah sich abermals um. Die Wände waren kahl. Alle beweglichen Dinge waren entfernt worden, aber er war noch nicht zufrieden.

Er war in einer respektablen Mittelklasse-Familie aufgewachsen. Prinzipien wie Tugend, Ehrlichkeit und Respekt vor dem Eigentum anderer waren ihm von Kindesalter an anerzogen worden. Er war ein Junge mit mustergültigem Benehmen gewesen. Die Erwachsenen hatten ihm immer versichert, dass Kindern nichts geschehen konnte, wenn sie sich ordentlich benahmen. Nun brachen diese arroganten Tyrannen alle Regeln, jegliche Norm zivilisierten Benehmens. Sie hatten Chaos in diese Welt gebracht und sie unverständlich gemacht. Er wusste, dass sie keine »Superrasse« waren. Er war mit ihnen in überfüllten Straßenbahnen gefahren, Körper an Körper gepresst und hatte ihre oft albernen Gespräche gehört. Er war in der Lage gewesen, sie immer wieder an der Nase herumzuführen. Sie besaßen die brutale Macht, aber er wollte ihnen zeigen, dass sie gegen seinen Scharfsinn nicht ankamen. Er war begierig, ihnen eine Nachricht äußerster Verachtung zu hinterlassen.

Mit Hilfe der herausgezogenen Nägel begann er Löcher in die Wand zu machen – so groß und sichtbar es ihm möglich war.
Noch eine Angelegenheit musste geregelt werde. Er  lauschte an Antoines Tür, ob dieser zu Hause war. Zufrieden, dass keine Geräusche heraus drangen und der Raum offenbar leer war, ging er in den Hof und stieg auf das Dach der Plumpsklos. Antoines Fenster lag nur knapp über dieser wackeligen Konstruktion und es stand offen. Flink kletterte der Junge hinein. Er ergriff die Matratze, die seiner Familie gehörte, und warf sie in den Hof. Dann schleifte er sie vor das Haus und lud sie auf die Karre. Er wollte gerade weggehen, als Antoine in die Gasse schlenderte. Er sah die Matratze auf der Karre, starrte den Jungen an und der Junge starrte zurück. Beide waren voller Angst und Sorge. Der Junge wusste, wenn der Mann nach der Polizei oder der Gestapo rief, wenn sie zufällig in der Nähe war, wäre er in ernsten Schwierigkeiten, sollte man ihn festnehmen. Aber sein Gegner war ein einfacher, naiver Mann, der Angst hatte, des versuchten Diebstahls bezichtigt zu werden. Er gab zuerst auf und platzte heraus: »Wenn diese Matratze in meinem Raum gefunden wurde, dann muss sie die Haus-meisterin dorthin getan haben.« Der Junge versicherte Antoine, dass er wüsste, dass er ein ehrlicher und aufrichtiger Mann war und forderte ihn auf, den Vorfall zu vergessen.

Dann verließ er die Gasse zum letzten Mal und kam während der Kriegsjahre nie mehr zurück. Er verließ die Gasse, wo er Hunger und Entbehrung kennen gelernt hatte, Furcht und Schrecken. Die Gasse, in der sein kleiner Bruder geboren worden war. Die Gasse, die er in einer Nacht während der Ausgangssperre verlassen hatte, als er verstohlen in den dunklen Schatten der Gebäude lief, um Rat von einem Arzt zu holen, weil sein kleiner Bruder ein Dutzend Aspirin gefunden und geschluckt hatte. Die Gasse, wo er die ersten erwachenden Turbulenzen der Pubertät erfuhr. Die Gasse, in der eine zuvor freundliche Nachbarin sie für eine Bratpfanne verkauft hatte. Die Gasse, wo das Ballspiel einiger Jungen ihn und seine Familie vor der Deportation bewahrt hatte – aber das ist eine andere Geschichte, die kann ein anderes Mal erzählt werden.

1998 – Wohlhabendes New York, U.S.A.: Eine ausrangierte Bratpfanne – innerhalb von  zehn Minuten war sie verschwunden.

»Eine Botschaft an Leugner«

Die Klage eines Holocaust-Überlebenden, von Leo Rechter.


Die Narben schienen verheilt,
der Kummer geteilt,
Eure Behauptung, so ohne Gefühl,
Entzündet die alten Wunden – Eure brutale Lüge spricht!

Unser Volk geschlachtet
Selbst Kinder verachtet
Junge und Alte für immer verloren
Sechs Millionen beschworen – jetzt leugnet ihr!

Der Schmerz erst schwach
Brennt hundertfach
Nunmehr in meiner Brust
Aus Zorn wird Frust – alles Gefühl zerbricht!

Kommt mir nicht näher!
Meine Wut steigt höher,
mein Zorn könnt´ sich entladen,  
Eure bösen Seelen zerschlagen – wagt zu leugnen nicht!

Die Wahrheit steht, so ist´s geschehen
Wagt nicht, sie zu verdrehen
Lasst nicht zu, dass Eure Lügen
Noch mehr Schmerzen zufügen – wagt zu leugnen nicht!

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