Die letzten Zeugen - Das Buc

FRITZI MIRJAM KURZ


 
 

Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

»Eine Sternstunde meines Lehrerinnen-Daseins«

Lehrerin Andrea Schreiber über die Begegnung mit Mirjam Kurz. 

Am Samstag war es soweit, ich sollte Frau Kurz erstmals treffen, etwas, worauf ich mich sehr freute, aber ich war auch sehr angespannt. Wie sollte ich einer Frau gegenübertreten, die ein derartiges Leid hier in meiner Heimat erlitten hatte?

Ich machte mir darüber schon Wochen vorher viele Gedanken, sprach mit mir wichtigen Personen darüber, und alle rieten mir, so zu sein wie sie mich kennen, offen auf diesen Menschen zuzugehen. So fuhr ich ziemlich nervös ins Hotel, wo wir verabredet waren. Ich erkannte sie sofort zwischen ihrer Tochter, ihrem Sohn und ihrer Enkelin und stellte mich vor. Meine Anspannung legte sich schnell, denn der Draht war da!

Ich bewunderte diese faszinierende Frau vom ersten Augenblick an. Frau Kurz äußerte den Wunsch, durch die Rembrandtstraße im 2. Wiener Gemeindebezirk, ihrem ehemaligen »Zuhause« zu fahren, bevor wir unser Ziel, den »Donauturm«,  ansteuerten. Wir hielten vor ihrem ehemaligen Wohnhaus, stiegen aus, gingen durch das offene Tor und da begann sie zu erzählen. Von ihren Puppen, vom Hausmeisterehepaar, das sie in der »Reichskristallnacht« vor den Nazis schützte, von ihrem Onkel, der blutüberströmt, zusammengeschlagen links neben der Eingangstür liegen geblieben war, von ihren Kindheitserinnerungen, als die Welt noch in Ordnung war, und davon, wie sie als kleines Mädchen von 9 Jahren plötzlich und ohne ihre Puppen ihre Welt verlassen musste, aber genau diesen Puppen versprochen hatte, eines Tages wiederzukommen. Ich stand in diesem Innenhof, die Sonne schien. Ich kämpfte mit meiner Stimme und mit den Tränen. So intensiv ich mich auch mit den Gräueln des Holocaust auseinandergesetzt hatte, aber das berührte mich zutiefst. Frau Kurz wollte hinauf in den letzten Stock, wo sie mit ihrer Familie gewohnt hatte. Begleitet von ihrer Tochter und Enkelin stieg sie die Treppen hinauf, ihr Sohn blieb bei mir. Mit ihm führte ich ein Gespräch über das Thema, auf das ich keine Antwort finde, das »Warum?«.

Danach hielten wir noch vor der Volksschule Castellezgasse. Umringt von ihrer Familie stand diese zarte, starke Frau vor dem Schultor, überlegte, was wohl aus ihr geworden wäre, sie war ja eine sehr gute Schülerin, interessiert, begabt, neugierig, ein Kind aus einer behüteten Familie, dem die Zukunft offen gestanden wäre. Ich konnte nichts sagen.
»Aber jetzt  – zum Donauturm!« Frau kurz freute sich auf den Besuch dieses Wiener Wahrzeichens, das sie vor Jahren schon einmal besucht hatte, und jetzt ihrer Familie zeigen wollte. Meine Familie war schon da, und sofort begann ein reges Gespräch, bei dem die Zeit im Flug verging. Es waren wunderbare Stunden – hoch über den Dächern Wiens.

Ich freute mich schon auf unser Wiedersehen in unserer Schule, wohin ich sie eingeladen hatte, um vor den SchülerInnen der 8.Schulstufe ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ich war überzeugt, dass »meine Kinder« beeindruckt sein würden, obschon ich mir lange vorher überlegte, wie meine Schulkinder mit einer solchen Begegnung umgehen würden. Sie sind keine Gymnasiasten, sind Kinder aus allen möglichen Ländern dieser Erde, sind Flüchtlingskinder, für die der »Holocaust« ein Thema im Geschichtsunterricht ist. Das schien mir Anknüpfungspunkt und Herausforderung zugleich zu sein. Wer sollte so eine Kindheit besser verstehen können als Kinder, die oder deren Familien ein ähnliches Schicksal zu erleiden hatten, natürlich nicht mit dem Holocaust zu vergleichen, aber ebenfalls Vertriebene? Daher entschied ich mich zu dieser Begegnung in unserer Schule, die sich zu einer »Sternstunde«
meines Lehrerinnendaseins herauskristallisierte. Ich hatte »meine Kinder« doch richtig eingeschätzt. Für sie und für mich war es eine Begegnung, die wir sicher nie vergessen werden. Ich konnte in ihren Augen die Hingabe, die Betroffenheit erkennen, gleichzeitig aber auch die Begeisterung für diese wunderbare Frau, die sie sofort in ihren Bann zog.

Sie hörten ihr zu – gespannt, fasziniert, entsetzt über das, was sie über ihr Schicksal zu erzählen hatte, zwei Unterrichtseinheiten lang, man hätte die berühmte Stecknadel hören können. Jeder, der mit Unterricht nur halbwegs vertraut ist, weiß, wie das zu verstehen ist. Ich kenne niemanden, der das vorher für möglich gehalten hätte! In der Pause umringten sie »unsere Frau Kurz«, konnten nicht genug bekommen. Frau Kurz schaffte es bis tief in ihre Herzen hinein – eine wunderbare Begegnung, die hier stattgefunden hatte.

Mit einem Ergebnis, das kein Lehrbuch, kein noch so interessanter Unterricht je hätte vollbringen können. Frau Kurz schaffte es in Nullzeit diese Jugendlichen anzusprechen und zu sensibilisieren. Für mich zählt diese Begegnung zu den wertvollsten meines Lebens.

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