Die letzten Zeugen - Das Buc

RENEE WIENER


 
 

RENEE WIENER

(früher Kurz)
geb. 1924-05-14
lebt heute in den USA

Ermordete Verwandte


Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.


Renée Wiener wird 1924 in Wien geboren. Sie lebt mit ihren Eltern und ihrer Schwester in der Hinteren Zollamtsstraße 9 im 3. Bezirk. Von einem Urlaub in Italien nach dem Anschluss flüchtet die Familie nach Belgien und später weiter nach Frankreich. Der Vater wird mehrmals verhaftet und letztlich nach Auschwitz deportiert. Renée Wiener kämpft aus Verstecken im französischen Widerstand gegen das NS-Regime und hilft Kindern bei der Flucht. Nach dem Krieg emigriert sie in die USA, wo sie heute in Great Neck lebt.

Im April 2007 war Barbara Neussl, Schülerin der Gesundheits- und Krankenpflegeschule Reutte in Tirol, im Projekt »Botschafter der Erinnerung« zu Gast bei Renée Wiener in Great Neck bei New York, wo sie ihre Lebensgeschichte dokumentiert hat (die hier abgedruckte Version wurde von Renée Wiener für die Veröffentlichung teilweise selbst nacheditiert). Im Mai 2008 war Renée Wiener im Projekt »38/08« zu Gast in der Gesundheits- und Krankenpflegeschule sowie am BRG/RG Reutte.

Die Angst der Widerstandskämpferin

Renée Wiener half nach ihrer Vertreibung aus Österreich Kindern bei der Flucht aus Frankreich – ihr Vater kam nie in Auschwitz an.

Alles, was ich zu Beginn hatte, waren ihr Name, ihr Geburtsdatum, ihre ehemalige Adresse in Wien und ihre derzeitige Wohnadresse in New York. Das war mein ganzes Wissen über Renée Wiener. So machte ich mich an die Arbeit, ihr einen Brief zu schreiben, worin ich ihr erzählt habe, wer ich bin und warum ich an diesem Projekt teilnehme. Weil ich mir aber mehr vorstellen wollte als einen Namen, habe ich sie angerufen und wir haben zwanzig Minuten telefoniert. Dabei ist mir schon aufgefallen, wie viel Lebenslust und Freude in ihrer Stimme steckt. Nach diesem Gespräch wollte ich am liebsten gleich nach New York fliegen, um mit ihr persönlich zu sprechen. Jedoch musste ich mich noch in Geduld üben bis zum 10.April 2007.
Nun war der große Tag gekommen, an dem ich mich mit 29 weiteren SchülerInnen auf den Weg nach New York City machte! Mit Neugierde wartete ich auf Donnerstag, jenen Tag, an dem ich sie endlich treffen würde. Das Treffen war im »Museum of Jewish Heritage« bei einem Empfang geplant. Ich war schon fast verzweifelt, weil ich Renée lange nicht finden konnte und hatte schon Angst, dass sie aus irgendeinem Grund nicht kommen würde.

Plötzlich wurde ich von einem unserer Betreuer gerufen und da stand sie vor mir. Vom ersten Augenblick an haben wir uns gut verstanden. Das erste, was wir vereinbarten, war, wann und wo unser nächstes Treffen stattfinden sollte. Als die nächste Verabredung fixiert war, wurde ich sogleich mit Fragen über mein Leben gelöchert, dabei hatte ich gedacht, dass ich interviewen sollte. Schon bald aber hat sich herausgestellt, dass dies kein Interview, sondern eine freundschaftliche Unterhaltung werden würde.

Bei Mozartkugeln und Tee

Bei unserer zweiten Begegnung erzählte sie mir dann bei Mozartkugeln und Tee ihre Lebensgeschichte.
Renée Wiener, geb. Kurz, wurde am 14. 05. 1924 in Wien geboren, wo sie dann auch im 3. Bezirk vierzehn Jahre ihres Lebens verbrachte. Sie lebte mit ihren Eltern und ihrer sieben Jahre jüngeren Schwester in einer Wohnung, genauer gesagt in der Hinteren Zollamtstraße Nr.9. Sie erzählte mir von einer glücklichen Kindheit. Ihr Vater, Leopold Kurz, war als Kaufmann oft die ganze Woche geschäftlich unterwegs. Umso mehr genoss sie die Wochenenden, an denen sich der Vater seinen Kindern widmete und ihnen keinen Wunsch abschlagen konnte.
Schon von klein auf ging Renée mit ihren Eltern in den Wiener Stadtpark, um dort zu spielen. Sie hatte diesen Platz so lieb gewonnen, dass sie als Kind fast jeden Tag dort verbrachte, um sich mit Kindern zu treffen und zu spielen. Als es 1938 zum Anschluss an das Deutsche Reich kam, wollte Renées Vater nicht wahr haben, welche Auswirkungen das für seine Familie haben würde. Leopold beschloss, seine Familie zusammenzupacken und nach Italien zu fahren, um dort eine oder vielleicht zwei Wochen Urlaub zu machen. Er hoffte darauf, dass sich in dieser Zeit die politische Situation so ändern würde, dass sie wieder nach Hause gehen könnten und alles so wäre wie zuvor.

Renée war zu dieser Zeit 14 Jahre alt und war sich der Gefahr, in der sie sich befand, nicht bewusst. Ohne dass ihre Eltern es wussten, hat sie sich einmal zu einer Rede von Adolf Hitler am Heldenplatz geschlichen. Sie gestand mir, dass sie inhaltlich nichts verstanden hatte, jedoch auch nicht ging, bevor die Rede zu Ende war, da sie sich erinnert, dass der Mann auch auf sie eine hypnotischen Effekt hatte. Erst heute ist ihr klar, in welche Gefahr sie sich damals gebracht hatte.
Ein Volk, ein Reich, ein Führer.
Schon kurz darauf wurden die Schulklassen, so auch ihre, nach Rassen getrennt. Allerdings erzählte sie mir auch von einer Freundin, die sich nichts daraus machte und die Freundschaft weiterhin, allerdings heimlich, fortführte.
Wie sehr sich das Alltagsleben verändert hatte, wurde ihr erst klar, als sie erkannte, dass sie nicht mehr in ihren geliebten Stadtpark gehen durfte. Als sie nach dem Anschluss, wie jeden Tag, in den Stadtpark wollte, um dort ihre Feundinnen zu treffen, entdeckte sie ein Schild, auf dem stand: »Eintritt für Hunde und Juden verboten!«. Ab diesem Moment begriff Renée, welche Veränderungen der Einzug Hitlers in ihrem Leben bringen sollte.
In Italien angekommen wartete die Familie Kurz vergeblich auf eine Änderung der antisemitischen Politik. Aus einer Woche »Urlaub« in Italien wurden schließlich sechs Monate. Dem Vater Leopold wurde schlussendlich bewusst, dass sie nicht wieder nach Österreich zurückkehren konnten. Die Familie beschloss daraufhin, nach Belgien auszuwandern. Zu Beginn reiste der Vater allein, illegal, nach Belgien, um dort Arbeit und eine Wohnmöglichkeit zu finden. Renée kann sich an diese Zeit nicht mehr genau erinnern, aber sie weiß noch, dass ihr Vater aufgrund des fehlenden Visums eingesperrt wurde. Sie konnte mir nicht mehr erklären, wie und warum ihr Vater wieder aus dem Arrest entlassen wurde. Tatsache ist aber, dass die ganze Familie letztlich legal nach Belgien reisen durfte.
In Belgien verbrachte Renée eine verhältnismäßig friedliche Zeit. »Wir konnten dort eine nette Wohnung in einem Waldviertel mieten und meine Schwester und ich gingen zur Schule.« Ihrem Vater war es möglich Arbeit zu finden und so hatten sie dort kein schlechtes Leben. Allerdings dauerte diese Idylle nicht lange an. Am 10. Mai 1940 marschierte Hitler in Belgien ein. Da wurde ihre ganze Familie vorerst als »ciquième colonne« (Spione) von den Belgiern verhaftet, da auf Grund ihrer Deutschsprachigkeit vermutet wurde, dass sie Spione für das Deutsche Reich waren. Wiederum ist es Renée unklar, wie ihr Vater es geschafft hatte, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Sie kann sich aber noch genau daran erinnern, dass ihre Mutter sie aufgefordert hatte, schnell das Nötigste in einen Koffer zu packen. Mit einem Lächeln im Gesicht erklärte mir Renée, was sie mitgenommen hatte: »Einen Badeanzug, ein Buch und meine Zahnbürste! Ich zeigte nicht viel Reife für mein Alter!«
Mit Kind und Kegel machte sich die Familie im Mai 1940 zu Fuß auf den Weg Richtung Frankreich. Halb Belgien war damals mit ihnen auf der Landstrasse – unter ständiger deutscher Bombardierung. Renée kann sich weder an die Dauer der Reise – hie und da fuhren sie eine Strecke mit dem Zug oder Lastwagen – noch an die Verpflegung erinnern. Als sie mir davon erzählte, meinte sie nur, dass sie sich nicht daran erinnert, wirklich gehungert zu haben und dass ihnen von irgendwoher Nahrung zugekommen ist.
An Frankreich denkt Renée mit gemischten Gefühlen zurück. Es waren sehr wichtige Jahre ihres Lebens und zugleich furchtbar traurige. Nach verschiedenen missglückten Versuchen Europa mit falschen Visa über die Pyrenäen und Spanien nach Südamerika zu verlassen, landeten sie schließlich in Nizza in der „Zone Libre“, dem von Vichy administrierten aber nicht von den Deutschen besetzten Gebiet. Von Zeit zu Zeit fanden Razzien statt und da versteckten sich die Mitglieder der Familie für ein paar Wochen – jeder separat, auch die kleine Schwester, und dann fand man sich irgendwann wieder vereinigt in der kleinen Wohnung, die sie fanden in der „rue Verdi“.

Bis diese „Freizone“ dann doch besetzt wurde, nicht von den Deutschen sondern von den Italienern. Diese siedelten die Emigranten in eine Reihe von kleinen Ortschaften in den „Alpes Maritimes“ (in der Umgebung von Nizza) um. Dort mussten die Flüchtlinge sich dreimal am Tag bei der Polizei melden, wurden ansonsten aber in Ruhe gelassen. Bis zu jenem Tag, als sich die Italiener aus dem Krieg zurückzogen und in großer Eile Frankreich verließen. Noch am selben Tag zogen die deutschen Truppen ein und verhafteten 30.000 jüdische Flüchtlinge, darunter auch Renées Vater. 
Einmal während der Zeit als ihr Vater mit den anderen Gefangenen in einem alten Hotel in Nizza eingesperrt war, gelang es Renée eine Botschaft von ihrem Vater zu erhalten. Er sprach den Seinen zu: man durfte nicht die Hoffnung verlieren, der Schrecken konnte ja nicht mehr lange daueren! Im September 1943... „Das war das Letzte, was wir je im Leben von meinem Vater hörten.“

Die Familie hatte nie die Gewissheit, was nun wirklich mit dem geliebten Vater passiert war. Erst nach dem Krieg hatte Renée herausgefunden, dass Leopold nach Auschwitz gebracht, jedoch dort nie registriert worden war. Renée lebt bis heute mit der Ungewissheit über den genauen Tod ihres Vaters. Sie vermutet, dass er den Transport nicht überlebt hat, aber warum und wieso weiß sie bis heute nicht, obwohl sie schon oft versucht hat, Antworten auf all diese Fragen zu finden.
Man muss für jeden Atemzug jemanden schmieren.

Nachdem ihr Vater nun nicht mehr als Familienbeschützer tätig sein konnte, übernahm Renée diese Rolle. Sie versteckte ihre kleine Schwester und ihre Mutter bei einer französischen Familie. Ihre Schwester konnte zwar ein gutes Französisch, war aber noch sehr jung, neun Jahre. Um ihre Mutter machte sie sich besonders Sorgen, da diese kein akzentfreies Französisch sprach, wusste jeder sofort, dass sie eine Ausländerin beziehungsweise ein Flüchtling war.
Sie selbst schloss sich der Widerstandsbewegung unter den jüdischen Pfadfindern an, die sich später mit einer weiteren Widerstandsgruppe vereinigte. Später wurden sie ein Teil der Resistance, deren Mitglieder gegen die deutsche und italienische Besatzungsmacht kämpften.

Bei der Entführung ihres Vaters waren auch sämtliche Ausweise der Familie mitgenommen worden, somit konnten sich weder die Mutter noch die Geschwister auf irgendeine Art ausweisen. Da es in Frankreich aber sowieso nicht klug war, einen deutschen Pass zu besitzen, hat Renée sich selbst und ihrer Familie gefälschte Ausweise besorgt. Dazu muss ich erwähnen, dass Renées Taufname Renate Kurz lautete. In ihrem »neuen« französischen Ausweis trug sie den Namen Renée Chauvier. Diesen Namen wollte sie auch nach dem Ende des Krieges, als sie neue österreichische Pässe bekamen, nicht ablegen. Mittlerweile war Renée 19 Jahre alt und als Mitglied der Resistance sehr aktiv. Sie verhalf nicht nur ihrer Familie zu französischen Papieren, sondern auch vielen anderen Flüchtlingen.
Außerdem versuchte sie mit der Hilfe französischer Einwohner Kinder in Familien oder Klöstern zu verstecken. Um diese Kinder versorgen zu können, war es nötig, Essensmarken zu fälschen. Sie kann sich noch genau erinnern, dass sie sich mit allen Tricks beholfen hatten, um an den Stempel zu kommen, der die Gültigkeit der Marken bestätigte. Einmal wurde Renée zu einer Inspektion aufgehalten. Sie erzählte mir mit zitternder Stimme, dass sie wahnsinnige Angst hatte, gefangen genommen und gefoltert zu werden. Es war keine Seltenheit, dass jemand aus der Widerstandsgruppe verhaftet wurde und versucht wurde, denjenigen unter Folter zum Reden zu bringen. Nicht vor dem Tod, sondern vor der Folterung, die unter anderem aus Ziehen von Fingernägeln und Ausstechen von Augen bestand, hatte Renée Angst.
Weiters half sie bei der Organisation und Durchführung von Kindertransporten in die Schweiz. Sie erklärte mir, dass sie nicht genau weiß, woher sie das Geld dafür bekamen, sie glaubt teils aus amerikanischen Organisationen, teils aus der Schweiz. Diese Transporte wurden nur für 6- bis 16-jährige Jugendliche gewährt. Ältere oder jüngere Menschen wurden wieder zurückgeschickt. Die Mitglieder der Widerstandsbewegung taten so, als ob sie mit den Kindern Wanderungen über die Berge machten. Wenn sie nahe genug an der Grenze waren, spielten sie mit den Kindern Spiele und brachten sie nach und nac über die Grenze – immer zwei bis drei Kinder. Dort wurden diese von Schweizern in Empfang genommen. Renée selbst lebte einmal hier und einmal dort. Zwei Jahre lang floh sie alle zwei Wochen von einem Wohnort zum nächsten, aus Angst gesehen und erwischt zu werden. Nach dem Krieg lernte sie einen nichtjüdischen Soldaten aus Dänemark kennen, an den sie ihr Herz verlor. Sie heirateten bereits 1946 in Belgien und zogen dann gemeinsam nach New York. Ihre Mutter und ihre Schwester blieben noch in Frankreich zurück, da sie kein Visum bekamen. Renées fester Vorsatz war aber, sie nachzuholen, was ihr Jahre später auch gelang.

Leider erwies sich das Zusammenleben mit ihrem Mann als sehr problematisch. Nach zwei Wochen schon gab sie es auf und zog zu seinen Eltern, mit denen sie sich ausgezeichnet verstand. Dies sollte eine provisorische Lösung sein, aber die Beziehung, die in Europa ideal erschien, klappte in Amerika einfach gar nicht. Aus Angst vor der Ausweisung blieben sie aber trotzdem verheiratet.
Die Scheidung fand erst auf Umwegen im Jahre 1950 statt. Doch bereits zwei Jahre später fand sie ihr großes Glück in einem jüdischen Amerikaner aus polnischer Familie den sie, 12 Jahre später, heiratete.  Renée brachte einen Sohn zur Welt, der nun bereits selbst verheiratet und stolzer Vater von drei Kindern ist. Ihr Mann, mit dem sie glücklich zusammen lebte, verstarb bereits mit 58 Jahren an einem Herzinfarkt. Mittlerweile lebt Renée in einem kleinen Appartement außerhalb von New York, genauer gesagt in Great Neck, wo ich sie auch besucht habe. Jahre später ist sie wieder nach Wien und auch nach Frankreich zurückgekehrt.

Die erste Reise ist ihr schwer gefallen, weil sie nicht wusste, wie sie auf die Menschen reagieren würde. Die alten Freunde waren wieder für sie da, gut wie Gold. Doch die Atmosphäre im öffentlichen Leben im Jahr 1954 war lange nicht die von heute. Trotzdem zog es Renée immer wieder nach Wien zurück, wohin sie später auch ihren Mann und Sohn mitnahm. Und nach jedem Besuch fühlte sie sich besser in ihrer alten Heimatstadt. Doch der letzte Besuch mit „A letter to the Stars“ im Mai 2008 war ein ganz besonderes Erlebnis für Renée.

Renée und ich haben nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die Zukunft geplaudert. Sie ist ein sehr faszinierender Mensch mit so viel Lebensenergie. Ich bin überglücklich, dass ich die Gelegenheit bekommen habe, sie kennen zu lernen und hoffe sehr, dass wir uns bald wieder sehen, vielleicht sogar in Österreich!


Home > Die Letzten Zeugen > Renee Wiener