Die letzten Zeugen - Das Buc

FELICE MATHUR


 
 

Diese Geschichte wurde im Projekt "Die Letzten Zeugen" erstellt.

Es war, als wäre eine alte Freundin zurück gekommen...

Judith Ladenstein über ihre Begegnung mit der Überlebenden Felice Mathur

Nun haben wir keine Antwort auf diesen Brief mit all diesen vielen Fragen bekommen. Aber in diesem Fall ist kein Brief sogar besser als ein Brief. Denn statt des Briefes kam Felice Mathur selber!

Ja und die Freude war groß, aber da war auch ein Gefühl: Wie wird es denn sein? Entspricht Sie den Vorstellungen, die man sich im Laufe der Zeit gemacht hat. Und auch umgekehrt, wie werden wir uns verstehen. Und dann war es so weit, und Felice kam aus Indien nach Wien und für zwei Tage zu uns nach Gablitz. Irgendwie war es ein komisches Gefühl: Wir wussten schon recht viel von Frau Mathur, über ihr Leben, ihre Gefühle und Gedanken. Und nun sollten wir sie kennen lernen.

Ich holte sie in Wien ab und wir betrachteten uns. Und wir mussten wirklich lachen. Denn jeder hatte sich einen total anderen Menschen vorgestellt. Ich eine eher kleine, dickliche Person, alt, Frau Mathur ist 84. Und hier sah ich eine Person: groß, schlank und für mich wirkte sie jugendlich. Und als wir miteinander zu sprechen begannen, da wurde sie noch einmal jünger. Ich kann es auf keinen Fall glauben, dass sie 84 Jahre alt sein soll. Aber ja, ich denke, das sollten wir lernen! Auch wenn die Hülle der Menschen vielleicht alt erscheint, im Inneren sind alle Menschen „gleich“. Gefühle und Gedanken werden nicht alt! Und Felice stellte sich auch eine andere Person vor. Sie hatte ein Foto meiner Tochter bekommen, aber mich stellte sie sich auch älter vor.

Also begannen wir zu sprechen und während der Fahrt nach Gablitz sprachen wir ununterbrochen. Und es war, als wäre eine alte Bekannte, nein, eine alte Freundin zurückgekommen. Wir verstanden uns auf Anhieb hervorragend und der Tag verging wie im Fluge. Was taten wir? Reden. Nun konnten wir über alles sprechen, fragen und musste nicht einen Monat ungeduldig auf die Antwort warten. Und wir wurden Freunde. Ich denke, auch Frau Mathur empfand so.

Wir sprachen viel über das Leben damals. Über die Zeit in Wien, wie es war von einem Tag zum anderen nicht mehr die Erlaubnis zu haben, die Schule zu besuchen. Ja – auf einmal kein „Mensch“ mehr zu sein. Und aus welchem Grund? Einfach nur, weil der Vater Jude war? Ist das Grund genug für Menschen einander zu hassen. Nein, nicht nur zu hassen, nein sich massenweise zu töten. Nur weil auf dem Papier vielleicht steht, dass man Jude ist.

Aber hat sich hier bis heute überhaupt etwas geändert? Ich hoffte immer, dass es heute nicht mehr so sein wird. Aber ich wurde etwas Besseren belehrt! Als wir neu nach Gablitz zogen, vor ca. 14 Jahren, bekamen wir ständig Anrufe! „Judensau!“ und viele andere Namen wurden gesagt. Nur wegen unseres Namens: Ladenstein. Oder mein Sohn hatte einen kleinen Blechschaden mit dem Auto. Ein Licht beschädigt. Da er relativ dunkelhäutig ist, kam sofort die Bemerkung der Besitzerin des anderen Fahrzeuges: „Du bist ein Ausländer, wir rufen die Polizei!“ Wie kann es Menschen geben, die so einen Hass in sich haben? Aber wir werden das nie vergessen! Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass ich mich so sehr bei diesem Projekt gefühlsmäßig involvieren lasse. Ja, wie schrecklich ist es, dass dieser Hass nie ein Ende nehmen will.

Ich bewundere Frau Mathur. Sie ist ohne Hass. Ja, bei fast allen Menschen, die ich bis jetzt kennen lernen durfte, die zu dieser Zeit „Opfer“ waren, konnte ich nicht den geringsten Hass erleben. Ja, teilweise haben sie sogar Mitleid mit der Generation, die damals lebte. Und wir begannen am Computer die ganzen Namen ihrer Freundinnen, ihrer Familie einzugeben und suchten nach Daten, und vielleicht nach Überlebenden. Frau Mathur hat keinen Kontakt zu anderen Vertriebenen und wir überlegten, ob wir nicht vielleicht noch jemanden aussuchen könnten.

Ja und nun begann die nächste Geschichte. Wir nennen sie Dreiecksgeschichte. Wir suchten uns Frau Erika Federer aus. Sie lebt in London und ist genau so alt wie Frau Mathur. Sie wollte wissen, wie andere mit diesen Erlebnissen umgegangen sind, wie andere das alles erlebt haben. Die Antwort kam prompt, allerdings nicht von Frau Federer, sondern von ihrem Ehemann Heinz Federer. 

Und wir begannen über die Schule zu sprechen. Das Gymnasium in der Rahlgasse in Wien. Seit diesem Tag, als sie nicht mehr in die Schule kommen durfte, hatte Felice nie wieder Kontakt zu einer Schulkollegin. Und sie überlegte sich, was nun aus allen wohl geworden ist. Viel Kontakt hatte sie ja nie zu ihnen, denn das duldete ihre Mutter nicht. Der schlechte Einfluss. Aber dennoch wollte sie gerne wissen, was aus all ihren Kolleginnen geworden ist.  Nun wird aus diesem kleinen Projekt, das meine Tochter Anna begonnen hatte und ich, Judith, ihre Mutter fortsetze, ein großes schulübergreifendes Projekt. Ich bekam die Adresse einer Lehrerin, die in der Rahlgasse unterrichtet. Und wir begannen die alten Klassenlisten durchzuarbeiten und fanden alle Mitschülerinnen, Namen, Adressen und Geburtsdaten. Wie sollten wir sie alle finden? Namensänderungen durch Heirat erschweren so manches.

Als erstes alle Namen durch die „A Letter To The Stars“-Datenbank. Hier werden wir nicht besonders fündig. Aber dennoch, ein Geburtsdatum stimmt überein und die Adresse. Also dürfte sie den Namen geändert haben. Brief. Dann Mails an die Kultusgemeinde. Leider kein Ergebnis. Aber kein Ergebnis kann auch positiv sein, denn vielleicht ist das ein Zeichen, dass alle jüdischen Mitschülerinnen noch leben. Acht jüdische Mitschülerinnen waren sie zu der Zeit. Aber leider konnten wir sonst nichts erfahren. Dann Kontakt mit dem Stadtarchiv. Und wirklich. Viele der Klassenkolleginnen hatten schon vor 1947 geheiratet und dadurch konnten wir den Namen erfahren. Und nun die Suche in den Telefonbüchern, aber alles erfolglos. Nur eine Mitschülerin, Weihse Maria, verheiratete Albrecht, konnten wir finden. Nach einer Woche, nach unendlichen Versuchen, eine Stimme am anderen Ende. Und wirklich. Ich hatte die erste Klassenkollegin gefunden. Und was für eine Überraschung. Sechs Schülerinnen treffen sich heute noch alle zwei Monate und fahren jedes Jahr gemeinsam auf Urlaub. Nun hatte ich nicht nur eine Schulkollegin sondern gleich sechs.

Die Suche nach den jüdischen Mitschülerinnen ging weiter. Mail an den Nationalfonds. Und Datenschutz. Manchmal denke ich, wie viele Leute wissen meine Adresse, meine Telefonnummer. Und ich will wirklich nichts Schlechtes und ich erfahre nicht einmal, ob die betreffende Person noch lebt! Aber sie werden meine Adresse weiterleiten und um Erlaubnis fragen, die Adresse weiterzugeben. Nun heißt es warten. Und warten heißt es noch heute. Denn bis jetzt habe ich noch nichts erfahren. Nun die katholischen Mitschülerinnen, sie waren alle begeistert von meinem Anruf. Nicht nur begeistert. Nein, mit viel Vorwürfen! „Warum haben Sie nicht schon angerufen, als Frau Mathur noch in Wien war. Wir wollen sie sehen!“

Wie schön wäre ein Klassentreffen nach ca. 64 Jahren. Und diese Idee ließ mich nicht mehr los. Und auch die Lehrerin von der Rahlgasse, Maria Finz-Lucchi, und auch die Kinder der „A Letter To The Stars“-Klasse waren mit Begeisterung dabei. Wir wollen Felice einladen und ein Klassentreffen organisieren. Sie drehten ein Video von der Schule, mit einer Einladung an sie. Ja und nun, Ende Juli, besuche ich Felice Mathur in Indien. Dieses Video bringe ich ihr als Überraschung mit und jede ihrer früheren Klassenkolleginnen schreibt ihr einen Brief, mit Jugendfoto und aktuellem Foto.

Und dann muss ich wieder daran denken, wieso musste man so lange warten. Wieso konnte man nicht schon vor mindestens 40 Jahren nach Felice suchen? Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt für alle gekommen. Ich hoffe, dass es noch alle erleben können. Denn die Zeit bleibt nicht stehen. Aus dem kleinen Projekt entwickelt sich nun ein riesiges. Denn im Gymnasium in der Rahlgasse waren vor 1938 mehr als 90 jüdische Schülerinnen. Nun sind es noch einfache Namen. Aber bald werden viele Gesichter vor uns sein, viele damalige Schülerinnen, die die gleichen Sorgen und Nöte hatten wie unsere heutigen Schülerinnen. Und ich hoffe, dass auf die Jugendlichen ein Funken der Begeisterung überspringen wird, sich für das Leben dieser Menschen, dieser damals Gleichaltrigen, zu interessieren.

Denn sie werden erkennen, dass dies Menschen waren, nicht nur Namen in einer Datenbank, die man liest und wieder vergisst. Nein, es sind Menschen mit Gefühlen, Sorgen und Nöten, mit viel Fröhlichkeit und genauso Traurigkeit. Ja und es waren Juden. Aber was ist denn der Unterschied zwischen Juden und allen anderen? Für mich gibt es hier keinen Unterschied. Ob Moslem, Jude, Hindu oder Katholik ... wir sind alle Menschen. Und je mehr wir über einander wissen, umso besser werden wir uns verstehen. Denn Hass entsteht doch nur aus Unwissenheit, Unsicherheit gegenüber etwas Fremdem. So lasst uns mehr über andere Menschen erfahren, erforschen und erkennen, dann wird der Hass verschwinden. Ja, das hoffe ich. Und dass jeder egal ob er Spiegel, Federer oder Ladenstein heißt, leben kann, wo es ihm oder ihr gefällt ohne den Hass des Nächsten zu fürchten.

Judith Ladenstein


Home > Die Letzten Zeugen > Felice Mathur