OE1-Beitrag
  • Ana-Marija Cvitic, Schülerin, ist als Botschafterin der Erinnerung im Oktober 2007 der
  • Überlebenden Trude Levi in London begegnet.

Das Treffen zwischen Trude Levi und Ana-Marija


Nicht viel ahnend was mich in London erwarten würde, freute ich mich auf neue und spannende Erfahrungen, die ich, zurückblickend tatsächlich gemacht habe.
Mag einer denken, ist ja klar, aber ich sage NEIN IST ES NICHT. Es hätte auch anders ablaufen können.
Es hätte auch sein können, dass mich die Begegnung völlig kalt lässt, dass ich nichts an mich ranlasse oder dass ich einfach nichts aus dem Treffen lerne.
Es hätte so leicht eine kurze oberflächliche Begegnung sein können.
Ob es tatsächlich möglich ist, einen einwöchigen Aufenthalt nicht oberflächlich zu nennen?

Wenn man bedenkt wie intensiv und teilweise anstrengend die Woche war, wenn man bedenkt wie wir, besonders ich, müde am Abend über den Tag nachgedacht haben, wie viel Tränen vergossen wurden, wie viele Geschichten unter die Haut gingen...all die Gefühle die man in dieser Woche empfunden hat, ob guter oder schlechter Natur, die waren nicht oberflächlich.

Meine Überlebende, die unglaubliche Persönlichkeit TRUDE LEVI, war ein leeres Blatt für mich, sie war ein Name, eine von vielen Überlebenden, deren Familien unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatte.

Aber als ich sie getroffen habe, habe ich begriffen, was für ein MENSCH sie ist. Sie ist 84 Jahre alt, lebt in London und vom Judentum ist ihr nicht viel geblieben, an Gott glaubt sie nicht.

Trude Levi hat mir ihre Geschichte nicht erzählt sie hat sie mir ANVERTRAUT. Das macht man nicht bei jedem, das ist nicht für alle Welt Ohren bestimmt, sie hat es nur MIR gesagt. Sachen die mich zum weinen gebracht haben, die ich nicht wahrhaben wollte, die ich vielleicht nie wissen wollte. Sachen die meine naive Weltansicht zerstören. Sie hat mir, was die Shoa betrifft, die Augen geöffnet. Sie hat mir was das Leben und die Menschen betrifft, die Augen geöffnet.

Ich bin jung, und wie jung wird mir manchmal erst in Extrem-Situationen bewusst.
Ich verstehe nicht alle Dinge, die in der Welt geschehen.

Ich gebe es offen zu. Es ist nichts wofür ich mich schäme, es ist einfach die Tatsache, dass ich ein Kind meiner Zeit bin, mit einer individuellen Biographie und einem individuellen Horizont.

Ich maße mir nicht an zu sagen, ich kann nachvollziehen was Trude Levi erlebt hat. Ich bin 70 Jahre jünger als sie, ich kenne die Hälfte der Sachen nicht, die sie in ihrer Jugend und in ihrem Alltag benutzt hat.

Ich habe keine Ahnung wie man ein KZ überleben kann, wie man danach ein unglaublich spannendes und beschwerliches Leben führen kann, ich habe keine Ahnung wieso sie nicht an ihrer Lebensgeschichte zerbrochen ist, ich habe keine Ahnung weshalb ich weinen musste, als sie mir davon erzählt hat.
Aber ich habe viel geweint und es hat mich fertig gemacht.

Geschichte ist nichts, das einen selber nichts angeht, in der Schule wird das viel zu wenig betont.
Die Menschen die vor uns gelebt haben sind unsere Vorfahren, sie haben die Welt gemacht in der wir heute leben, sie haben die jetzige Gesellschaft geboren und erzogen. Genauso wie wir die Zukunft unsrer Kinder und Nachkommen beeinflussen, beeinflussten sie einst das heutige Leben.
All das wird einem erst klar, wenn man mit alten Menschen konfrontiert wird. Meine Großeltern wohnen nicht in Österreich, ich sehe ich alle 3-4 Jahre für eine kurze Zeit. Ich habe keine Ahnung wie sie ihr Leben gelebt haben und wer diese Menschen in Wirklichkeit sind. Aber diese Menschen sind DA und sie waren DA bevor es mich gab.

Trude Levi hat Unglaubliches gesehen, erlebt, gekannt und durchgemacht, bevor es überhaupt den Gedanken von Ana-Marija CVITIC gab. Und jetzt, wo ich 17 Jahre alt bin, treffe ich sie und sie teilt ihr Leben mit mir.

Sie kennt mich nicht und trotzdem vertraut sie mir.
Und zwischen uns entwickelt sich so etwas wie Freundschaft.
Wenn sie stirbt, wenn ich sterbe und wenn meine Kinder und Enkel leben, und deren Kinder und so weiter, wird Trude Levi und ihr Treffen mit mir ein Teil der Geschichte sein.

Und auch wenn sich das alles in einer Woche abgespielt hat, wer sagt, das eine Sekunde nicht Leben verändern kann?